Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

606 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Dreyer, Mechthild

Titel/Untertitel:

More Mathematicorum. Rezeption und Transformation der antiken Gestalten wissenschaftlichen Wissens im 12. Jahrhundert.

Verlag:

Münster: Aschendorff 1996. VIII, 250 S. gr.8 = Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, 47. ISBN 3-402-03998-2.

Rezensent:

Volker Leppin

Die Bonner philosophische Habilitationsschrift von Mechthild Dreyer geht der scheinbar sehr speziellen "Frage nach der Wissenschaft als cognitio ex principiis im Denken des 12. Jahrhunderts" nach (11). Diese Frage entstand offenbar aus der Beschäftigung mit dem Anliegen des Nikolaus von Amiens, die deduktive Methode zu der Methode der Theologie schlechthin zu machen. Ihm hat D. schon 1993 eine Edition und Untersuchung gewidmet, und auch für die in der jetzigen Studie dargestellten Entwicklungslinien gibt er das eigentliche Ziel ab.

Dem Ganzen ist eine Einleitung über "Wiedergeburt und Erneuerung" vorangestellt, die manches Bedenkenswerte zur Entstehung der Frage von Wissenschaftlichkeit bietet, in ihrer thetischen Darstellungsweise aber nicht recht zu den folgenden, analytisch sehr präzisen Darlegungen paßt. Diese bieten eine konzentrierte Problemgeschichte der Entwicklung des Gedankens deduktiver Methode. D. setzt nach dem obligatorischen Eingehen auf Plato die entscheidenden Akzente in der Untersuchung des Aristoteles: Sie interpretiert dessen einschlägige Äußerungen zum Wissenschaftsverständnis in der Metaphysik, der Nikomachischen Ethik und den Zweiten Analytiken. Dabei zeigt sie, wie der Stagirite die Bedeutung der deduktiven Methode für die Gewißheit wissenschaftlicher Erkenntnis herausstreicht. Entscheidend ist hierfür, daß Aristoteles gegenüber Plato gerade "die Eigenart mathematischer Disziplinen, von Voraussetzungen auszugehen", nicht mehr als defizitär, sondern geradezu als "das proprium epistemischen Wissens bezeichnet" (49). Von geringerer Bedeutung für den Gesamtzusammenhang der Arbeit ist der folgende Abschnitt über die Stoa, da aus diesem Denkzusammenhang nur einzelne Elemente relevant für die spätere Rezeption wurden.

Das zentrale Scharnier ihrer Arbeit erreicht D. dann bei denen, die dieses Erbe dem 12. Jh. gleichsam aus zweiter Hand vermittelten. Unter ihnen kommt Boethius besondere Bedeutung zu. Es ist das herausragende Verdienst der vorliegenden Arbeit, den in der Boethius-Rezeption stattfindenden Vorlauf zur großen Aristoteles-Rezeption der Hochscholastik herausgearbeitet zu haben: Das Denken des Stagiriten wurde hier schon aufgenommen, ehe man sich intensiver mit seinen eigenen Texten befaßte. Die luzide Darstellung erweist diesen in seiner Bedeutung bislang wenig erfaßten Vorgang als einen Paradefall gebrochener Rezeption.

D.s Aufmerksamkeit gilt dabei vor allem dem in "De hebdomadibus" von Boethius aufgestellten Postulat, die Theologie müsse wie die Disziplinen des Quadriviums deduktiv vorgehen; so wird sie Rationalitätsstandards unterworfen, die nicht ursprünglich ihre eigenen sind. Dieses Anliegen zieht sich nach D.s Untersuchung auch in den Boethius-Kommentaren des 12. Jh.s durch - unbeschadet dessen, daß D. hier im einzelnen aufgrund philologischer Feinanalyse nicht nur zwischen den verschiedenen Kommentaren, sondern auch zwischen Kommentar und kommentiertem Text Akzentverschiebungen aufweisen kann.

Im Ergebnis dieser Kommentierungen wird die Theologie nicht nur als gleichberechtigte, sondern geradezu als höchste Wissenschaft verstehbar. Diese Gedanken werden dann von Alanus de Insulis weitergedacht und in radikaler Weise von Nikolaus von Amiens systematisch ausgeformt: Nun wird auf die Theologie als Ganze ausschließlich die deduktive Methode angewandt, als Prämissen werden die in Florilegien gesammelten Autoritäten zugrunde gelegt.

Daß gerade dies durch einen ausgeführten Vergleich mit Abaelardschen Konzeptionen genauer hätte profiliert werden können, daß man spätestens beim folgenden Ausblick ins 13. Jh. eine Auseinandersetzung mit Köpfs Standardwerk zu den Anfängen der theologischen Wissenschaftstheorie vermißt, daß die historisch konkrete Einbettung der dargestellten Reflexionen durch den Begriff der "Krise" allenfalls angedeutet wird - all dies soll hier nicht vermerkt werden, um einen Eindruck von Mangel zu artikulieren, sondern die Hoffnung auf mehr.

Denn D.s Konzentration auf ein scheinbar randständiges Detail eröffnet in äußerst produktiver Weise neue Perspektiven und regt zu einer Beschäftigung mit der Scholastik im 12. Jh. an. Ihr Werk bringt einen ganz erheblichen Fortschritt für Kenntnis und Verständnis der mittelalterlichen Antikenrezeption und stellt einen herausragenden Beitrag zur Erforschung des scholastischen Wissenschafts- und Theologieverständnisses dar.