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Ausgabe:

Oktober/2004

Spalte:

1060–1062

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ritter, Christine

Titel/Untertitel:

Rachels Klage im antiken Judentum und frühen Christentum. Eine auslegungsgeschichtliche Studie.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2003. XIV, 323 S. gr.8 = Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums, 52. Geb. Euro 98,00. ISBN 90-04-12509-4.

Rezensent:

Angela Standhartinger

Die vorliegende Untersuchung wurde als alttestamentliche Dissertation an der Universität Basel im Wintersemester 2000/01 angenommen. Die Einleitung nennt als Ziel der Studie, "die Auslegungsgeschichte zu den alttestamentlichen Rachel-Überlieferungen, besonders zu Rachels Klage, Jer 31,15-17, zu untersuchen." (2) Dies, so Ritter, sei ein Desiderat in christlicher Bibelwissenschaft, die die antike Rezeption biblischer Texte, insbesondere deren jüdischen Teil, bisher kaum wahrgenommen habe. Demgegenüber möchte sie die Auslegungen als ernsthafte Interpretationsversuche respektieren, "ohne sofort nach dem Nutzen für die moderne Exegese zu fragen" (3). Anliegen ihres Unternehmens ist eine nicht funktionalisierende Auslegung alttestamentlicher Texte in christlicher Exegese. Mit der Wahl einer zentralen biblischen Frauenfigur möchte R. ein weiteres Desiderat biblischer Wissenschaft beheben.

Die Arbeit ist chronologisch nach Quellencorpora geordnet. Zunächst werden die biblischen Texte selbst untersucht, neben Gen 29-35 auch die Erwähnungen Rachels in Gen 48,7; 1Sam 10,2; Rut 4,11 und Jer 31,15 (Kapitel 2; 12-56). Dabei geht es R. nicht um die Rekonstruktion historischer und textgeschichtlicher Entstehungsprozesse, sondern um "eine klärende Beschäftigung mit denjenigen Überlieferungen, an die die späteren Auslegungen anknüpfen" (9). Besonderes Gewicht erhalten die Auslegung von Jer 31,15-17 sowie die Frage nach der Lokalisierung des Rachelgrabs. Kapitel 3 (57-75) führt die Veränderungen und Interpretationsansätze antiker Übersetzungen, also Septuaginta, der Targumim, der Peschitta und der Vulgata, vor. R. bespricht hier, wie in der gesamten Studie, jeweils einzelne hervorstechende Aspekte der Rachelerzählung (Gen 29-35 sowie die weiteren alttestamentlichen Belegstellen) summarisch, bevor sie detailliert auf Jer 31,15-17 eingeht. Die Interpretation fragt, welche Begriffe, Einzelverse bzw. Motive als interpretationsbedürftig angesehen werden.

Im 4. Kapitel (76-129) folgt die Darstellung Rachels in der zwischentestamentlichen Literatur, die sich abgesehen von TestXII als wenig ergiebig erweist, bei Philo und Josephus sowie in Mt 2,16-18. In den einzelnen Kapiteln werden die Schriften nacheinander in ihrem Zusammenhang besprochen, und es entsteht eine Art Kurzeinführung in das jeweilige Werk anhand der Frage nach Rachel. Einen Überblick über Gemeinsamkeiten der Übersetzungs- und Auslegungsfragen ergibt sich teilweise aus der Zusammenfassung bzw. lässt sich über das Register selbst erarbeiten. Durch dieses Vorgehen bleibt jedoch die von R. verfolgte Frage nach den sich in der Racheldeutung äußernden Frauenbildern blass. R. entdeckt zwar in vielen Texten bestimmte traditionelle und teilweise abwertende Frauenbilder, sie übersieht aber die Kontroversen, die sich in Einzeldeutungen, Betonungen und im Verschweigen von Motiven äußern. M. E. ge- hen die Ansätze von James Kugel und anderen weiter, die Auslegungen als kontroverse Diskussionen um Textbedeutungen und Frauenbilder herausarbeiten und damit interpretieren helfen.

Hinter der Erzählung vom Kindermord in Bethlehem, Mt 2, vermutet R. einen historischen Kern, der vom Evangelisten mit dem Jeremiawort gedeutet wurde. Dies sei möglich, weil er auf eine Lokaltradition zurückgriff, die das Rachelgrab in der Nähe Bethlehems zeigte und Rachel inzwischen als Stammmutter ganz Israels verstand. Wichtig ist R. die Zurückweisung christlicher Auslegungstraditionen, nach denen die Stammmutter das Los ihres Volkes beweine, das sich dem Messias versagt habe. Vielmehr müssten die Fronten im Matthäusevangelium differenziert werden. Es gehe nicht um die Ablehnung Jesu in ganz Israel, sondern um die Voranzeige des Konflikts zwischen Jesus und den Mächtigen des Landes. So sehr ich dieser Auswertung zustimmen kann, so hätte ich mir eine interpretatorische Vertiefung gewünscht. Z. B. wird Herodes in Mt 2,3 zum letzten Mal basilaus genannt. Danach geht das Königtum in Israel auf den geborenen Davidssohn über. Diese Interpretation zielt angesichts der vorausgesetzten Katastrophe von 70 n. Chr. sicher nicht nur auf ein entstehendes Christentum.

Den Hauptteil der Arbeit nimmt die Untersuchung von Rachel in der rabbinischen Literatur ein (Kapitel 5; 130-249). R. wertet hier Texte aus, deren schriftliche Fixierung vor dem 11. Jh. vermutet werden kann. Die chronologische Darstellung wird zu Gunsten einer thematischen verlassen. Aus der Rachelerzählung greifen die Rabbinen vor allem die Motive Schönheit und Unfruchtbarkeit auf, die Rachel in den Kreis der übrigen Stammmütter einreihen, und rühmen Rachels Verschwiegenheit, weil sie die Vertauschung der Schwestern nicht verrät und sogar ihrer Schwester zur Ehe mit Jakob verhilft. In anderen Texten steht sie aber auch paradigmatisch für die Neugier und die Eifersucht der Frauen. Eine Sonderstellung im Kreis der Stammmütter erhält sie allerdings durch die Interpretation von Jer 31,15-17. Eine Reihe von Texten interpretieren Rachels Klage als Schlüsseltext einer Ansage der heilsgeschichtlichen Wende. Dabei wird Rachel durch eine gegenseitige Interpretation von Jer 31,15-17 und der Genesiserzählung zur Fürsprecherin und erhält damit die Rolle, die sonst nur Erzvätern zugestanden wird. Ihr Grab liegt deshalb nicht in Machpela, damit sie am Rand des Weges ins Exil Fürsprache für das Volk halten kann, was der Midrasch Rabba zu den Klageliedern (24) am breitesten ausführt. In anderen Texten wird Rachel als klagendes Subjekt substituiert und durch ein kollektives Subjekt - das Volk Israel - ersetzt. Für R. betrachtet damit das Volk "Rachel nicht nur als seine Repräsentantin, sondern identifiziert sich mit ihr so sehr, dass es in ihrem Schicksal sein eigenes sieht" (242). Ein Ausblick weist auf gegenwärtige jüdische Praxis in Israel hin.

Das 6. Kapitel (250-269) gibt schließlich einen Überblick über die Rachelauslegungen der Kirchenväter. Sie deuten Rachel gern typologisch als Kirche im Gegenüber zu Christus (Jakob) oder Synagoge (Lea). Zugleich ist hier die in der Moderne wiederkehrende Auslegung, Rachel weine in Jer 31,15-17/ Mt 2,16-18 um ihr verlorenes Volk, die Juden, vorgebildet.

Kapitel 7 (270-275) blickt in einer Zusammenfassung auf die Untersuchung zurück, deren Ertrag vor allem in der Zusammenstellung von teilweise schwer zugänglichen Quellen besteht. Dass diese in deutscher Übersetzung geboten werden, ist ein Gewinn. Mit der Zusammenstellung gelingt es, die verschiedenen Interpretationen der Rachelfigur einschließlich ihrer Rolle als fürsprechende Erzmutter für die christliche Exegese wiederzuentdecken. In welcher Weise damit auch ein neues Licht auf die Interpretation von Mt 2 fällt, wird lediglich auf der letzten Seite (275) hermeneutisch angedeutet. Man darf auf eine von R.s Untersuchung angeregte Deutung von Mt 2 im Rahmen des Matthäusevangeliums gespannt sein.