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Ausgabe:

Oktober/2004

Spalte:

1055–1057

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Fischer, Irmtraud

Titel/Untertitel:

Rut.

Verlag:

Übers. u. ausgelegt v. I. Fischer. Freiburg-Basel-Wien: Herder 2001. 277 S. gr.8 m. 9 Abb. = Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament. Geb. Euro 55,00. ISBN 3-451-26811-6.

Rezensent:

Jutta Hausmann

Irmtraud Fischer hat schon durch eine Reihe von Aufsätzen pointiert zum Buch Rut Stellung genommen, so dass das Erscheinen des Kommentars die besondere Aufmerksamkeit sicher nicht nur der Rezensentin gefunden hat. Dem eigentlichen Kommentarteil geht eine umfangreiche Einleitung voraus, die mit knapp 100 Seiten weit mehr bietet, als zunächst von einer Einleitung erwartet würde. Das Buch Rut wird vorgestellt als "literarisches Kunstwerk", wobei die intensive Beachtung der Struktur des Buches besonders auffällt, die in der Kommentierung selbst aufgegriffen und weitergeführt wird. Zu erwähnen ist vor allem die Analyse der Dialoge, die in dem als Erzählung gestalteten Werk den Hauptanteil des Textes ausmachen. Die Bedeutung der Eigennamen und die (theologische) Zeichnung der Charaktere der handelnden Personen spielen ebenso eine wichtige Rolle wie der Leitwortstil als integrativer Bestandteil der literarischen Konzeption.

Ausgegangen wird von der literarischen Einheitlichkeit des Buches, einschließlich der viel umstrittenen Genealogie am Ende (Rut 4,18-22). Sehr überzeugend verweist F. auf die vielen Verflechtungen zwischen der Genealogie und dem übrigen Text, ebenso auf das literarische Mittel der Verbindung von Erzählung und Genealogie in Texten der Genesis, so dass die Genealogie nicht vom übrigen Buch abzutrennen ist. Der Abschnitt "Sitz des Rutbuches im Rechts- und Sozialleben Alt-Israels", der sich insbesondere konzentriert auf die Fragen von Levirat, Löser und dem Status von Fremden, lässt bereits Wesentliches erkennen von einem der Schwerpunkte in der Interpretation des Buches: die Person der Rut als Rechtsauslegerin. Die Gattungsbestimmung des Buches ist nicht zu trennen von der "didaktischen Absicht, Lebensrealität weisheitlich und theologisch zu deuten und beispielhaft konkrete Anweisungen zu geben, wie denn nach Gottes Weisung gelebt werden könne" (81). Angesichts des mehrfachen, umgestaltenden Rückgriffs auf vorgegebene inneralttestamentliche Texte spricht F. von schriftauslegender Literatur in der Nähe zur midraschischen Halacha. Die Datierung des Buches Rut in die Zeit des Zweiten Tempels ist dafür Voraussetzung, ebenso das Verorten der Verfasserin in schriftgelehrten Kreisen. F. arbeitet stark kontextorientiert (vgl. besonders die Fragen nach der kanonischen Einordnung). Der intertextuelle Zugang bekommt vor allem dort Gewicht, wo Gesetzestexte der Tora oder Erzelternerzählungen der Genesis als Kontext der Ruterzählung herangezogen werden.

Ein umfangreicher Abschnitt ist der "Rezeption des Buches" gewidmet, in dem die jüdische Rezeption besonderes Augenmerk erhält. Die bewusste Einbeziehung jüdischer Auslegungstradition zeigt sich dann auch in der Auslegung der einzelnen Kapitel. Der Kommentar ist wesentlich durch Frauenperspektive geprägt, die einerseits durch die Kommentatorin selbst mit ihrem genderfairen Ansatz eingebracht wird. Andererseits wird die Aufmerksamkeit auf die dem Rutbuch selbst innewohnende Frauenperspektive gerichtet, die zudem auf eine Autorin verweisen könnte. Das Umfeld der patriarchalen Gesellschaft und die dadurch bedingten Möglichkeiten und Grenzen von Frauen beim Versuch zu eigenständigem Gestalten und Sichern ihres Lebens wird sehr differenziert und realistisch aufgezeigt.

Die Kommentierung selbst zeigt großes Interesse auch am Detail, wodurch manche unerwartete Einsichten zu Tage treten. Die Analyse der einzelnen Kapitel des Rutbuches wird eingeleitet mit einem Überblick über seinen Aufbau, jeweils mit einer übersichtlichen Grafik verbunden. Die Untersuchung der einzelnen Textabschnitte bietet nach Übersetzung und textkritischen Beobachtungen unter der Überschrift Analyse eine eher formal orientierte Arbeit am Text, die seine äußere wie innere Struktur aufzeigt und zu ersten theologischen Folgerungen führt. Unter der Überschrift Auslegung konzentriert sich F. dann Vers für Vers auf die eher inhaltliche Seite, sehr präzise am Text arbeitend und viele Einzelbeobachtungen zusammenführend.

Die häufigen Literaturverweise machen es den Lesern leicht, wesentliche Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte und deren Bandbreite zur Kenntnis zu nehmen. F. konfrontiert die z. T. sehr divergierenden Ansätze mit ihren eigenen Beobachtungen und fügt sie zu einem überzeugenden Entwurf zusammen. Das Faszinierende an diesem Kommentar ist neben der atemberaubenden Fülle an Information (gerade auch in Detailfragen) die Vielfarbigkeit, der Verzicht auf Einseitigkeit, die Fähigkeit, nebeneinander stehende Zugänge zu integrieren und in allem die herausfordernde Aktualität des Buches immer wieder zur Sprache zu bringen. Wie aktuell die Aussagen des Rutbuches in Einzelbeziehungen sind, klingt bereits in der Kommentierung der einzelnen Textabschnitte an, das abschließende Nachwort macht es dann mehr als deutlich.