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Ausgabe:

Oktober/2004

Spalte:

1052–1055

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Tilly, Michael

Titel/Untertitel:

Jerusalem - Nabel der Welt. Überlieferung und Funktionen von Heiligtumstraditionen im antiken Judentum.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2002. X, 307 S. gr.8. Kart. Euro 35,00. ISBN 3-17-017265-4.

Rezensent:

Lutz Doering

Das Buch ist die geringfügig überarbeitete Habilitationsschrift des Vf.s im Fach Judaistik am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Mainz. T. hat sich, wie zu Beginn der Einleitung ausgeführt, ein doppeltes Ziel gesteckt: Zum einen will er "die unterschiedlichen ... Interpretationen und Bedeutungsfunktionen der Vorstellungen vom Nabel der Welt, vom Weltmittelpunkt und vom Gründungsstein im irdischen Jerusalemer Tempel ... anhand zentraler Texte von der Exilszeit über die hellenistisch-römische Epoche bis zur amoräischen Zeit" darstellen, zum andern "die methodischen Möglichkeiten und Grenzen bei der Rekonstruktion der Bedeutung und Interpretation solcher Vorstellungen und Motive" problematisieren, um so einer vereinheitlichenden Darstellung und Quellenauswertung zu entgehen (6 f.).

Die methodischen Voraussetzungen werden unter der Überschrift "Übersetzung und Auslegung" entfaltet (8-14). T. plädiert mit Recht für eine genaue Wahrnehmung der Entstehungsstufen alttestamentlicher Texte, wobei nicht etwa bei der abschließenden Redaktion des hebräischen Texts stehen zu bleiben, sondern dem interpretierenden Charakter von Übersetzungen (im Wesentlichen behandelt T. LXX, Targumim und Peschitta) sowie der Unterschiedlichkeit der von ihnen repräsentierten Textformen Rechnung zu tragen ist. Der von T. hier benutzte Begriff "Verständnistradition" (7.13 und passim) ist nicht unproblematisch (zumal wenn im Singular gebraucht), teilt er doch die hinlänglich bekannte Klärungsbedürftigkeit des Traditionsbegriffs.

Ebenfalls zur Einleitung gehören ein Überblick über "die bewegte Geschichte von Stadt und Tempel in ihren Grundzügen" (14.15-30) sowie eine umfangreiche, chronologisch aufgebaute Forschungsgeschichte zu den Vorstellungen vom Nabel der Welt, vom Weltmittelpunkt und vom Gründungsstein (31-86). Hier wird deutlich, dass am Thema zwar schon viel gearbeitet wurde, häufig jedoch nicht mit der von T. geforderten methodischen Sorgfalt.

Der zweite Teil des Buchs besteht aus Textuntersuchungen. Analysiert werden zunächst die beiden alttestamentlichen Textstellen, in denen die Wendung tabbûr ha-'ares auftaucht, Ri 9,37 und Ez 38,12. Die Diskussion zu Ri 9,37 (88-128) ergibt, dass die mythisch-kosmologische Interpretation, hier des Garizim, als Nabel der Welt "erst im Verlauf der Verständnistradition des Bibeltextes im antiken Judentum begegnet" - und zwar "nur dort ..., wo man eine entsprechende mythisch-kosmologische Deutung des Jerusalemer Tempels kannte" (127). Es handele sich bei diesem Ausdruck, dessen Übersetzung mit Nabel des Landes bzw. der Erde keineswegs sicher sei, zunächst um eine Ortsbezeichnung in der Gegend von Sichem (94 ff.). Auch die LXX verstehe den Ausdruck, den sie mit amphalos tes ges wiedergibt, "allein in geographischer Weise" und messe ihm "keine ordnende Kraft oder gar eine explizite religiöse Bedeutung bei" (103). Immerhin wird nun erkennbar "auf den menschlichen Körper als natürliches Bezugssystem der Raumordnung" rekurriert, ohne dass jedoch deutlich wäre, "welche Position oder Gestalt mit dem Ausdruck verbunden wurde" (102). Erst seit der Hasmonäerzeit, da sich die Samaritaner als unabhängige Kultgemeinde konstituierten, sei der Garizim als Nabel bzw. Mitte des Landes mit einer gegen den Exklusivanspruch Jerusalems gerichteten Bedeutung versehen worden, die sich im Gegenzug in der entschärfenden Übersetzung mit tqp' Stärke (sc. des Landes) im Targum widerspiegele (122 f.). Dass der dabei für eine angeblich problemlose Wertschätzung des Garizim durch das vorhasmonäische Judentum in Anspruch genommene Ps.-Eupolemos (121 f.) der opinio communis zufolge Samaritaner war (vgl. nur N. Walter, JSHRZ I/2, 137-140), erfährt man leider nicht.

T. wendet sich sodann dem zweiten Beleg zu, Ez 38,12 (129- 154). Die Analyse ergibt hier, dass für den hebräischen Text entgegen der Mehrheitsmeinung noch nicht von einer mythisch-kosmologischen Bedeutung auszugehen ist, wohl aber von einer "Semiotisierung topographischer Größen zum Zweck der vergewissernden Selbstwahrnehmung ..., die sehr wohl das religiös begründete Selbstbewußtsein einer besonderen, ja zentralen Position und Bedeutung einschließt" (143, vgl. 154). In der LXX werde die Identität stiftende Funktion der zentralen Stellung Israels fortgesetzt, ebenso im Targum, das in der Wiedergabe mit tqp' Stärke die "hohe Bedeutung des Landes Israel" herausstellt (153 - warum wird diese Stelle nicht mit der identischen Wiedergabe im Targum zu Ri 9,37 in Beziehung gesetzt?).

Ein weiterer Abschnitt beschäftigt sich mit Texten, die nun die Vorstellungen vom Mittelpunkt, Nabel der Welt und Gründungsstein auf die Stadt Jerusalem und ihren Tempel anwenden (155-239). Erfreulicherweise wird die Gefahr atomisierender Darbietung der Traditionsgeschichte durch eine einleitungswissenschaftliche und kontextuelle Einordnung jedes Einzeltextes gebannt. Die Vorstellung vom Mittelpunkt findet sich mit verschiedenen Akzenten in Ez 48,8.10.21; Jes 2,2 f. (doch ohne den Begriff); Ps 74,12 (vor allem in der durch die LXX repräsentierten Verständnistradition); 1Hen 26,1 f.; Arist 83 f.; Sib 5,247-252 und Josephus, Bell 3,52. Für die vorhellenistischen Texte (etwa Jes 2,2 f.) sei der Einfluss der auf das Apollon-Heiligtum in Delphi bezogenen Vorstellungen vom Mittelpunkt und Erdnabel auszuschließen, da das dortige Orakel erst in hellenistischer Zeit überregionale Bedeutung erlangt habe (162 f.). Der erste Text, der die Vorstellung vom Weltnabel explizit auf den Tempel "im Sinne einer räumlich repräsentierten Mitte" überträgt, ist Jub 8,19 (179). T. arbeitet heraus, dass sich hier hellenistische Raumvorstellungen auswirken, die über eine "geographische Koine" (177 f., mit J. Frey) vermittelt sind. Es komme zu einer "Amalgamierung der priesterlichen Vorstellungen von der konzentrisch abgestuften Heiligkeit des Zionhügels mit der griechischen Idee eines kartographisch darzustellenden Mittelpunktes der Welt" (250); als roter Faden ziehe sich durch die Texte die kontrapräsentische Funktion der entsprechenden Vorstellungen (Ablehnung eines unzulänglichen bzw. Idealisierung eines wahren - vergangenen oder zukünftigen - Tempelkults).

Innerhalb der rabbinischen Tradition bezieht hingegen eine wichtige Strömung (von T. als halachisch orientierte Mehrheit bezeichnet [vgl. 251]) die Vorstellung vom Nabel auf den (einst im Tempel untergebrachten) Sanhedrin, womit zugleich "das Selbstbildnis der Rabbinen bzw. die beanspruchte Kompetenz und Bedeutung der rabbinischen Schülerkreise" hervorgehoben werde (209 - vgl. Targum zu Hld 7,3; bSan 37a; TanB kî ti's'sa' 1 zu Ex 30,12; PesR 10 zu Ex 30,12). Man könne also von einer "Verlagerung des zentralen religiösen Orientierungspunktes weg vom Tempel und hin zur Tora" sprechen (248). Eine "gegenläufige Tendenz" lasse sich jedoch in TanB qedôsîm 10 zu Lev 19,23 beobachten, wo erstmals der Fruchtbarkeit spendende Gründungsstein ('even setijja) beim Tempel "als integraler Bestandteil des Motivkomplexes" (ebd.) zur Sprache komme. T. zufolge ist dieser Stein, ebenso wie die von T. in direkter Verbindung mit ihm gesehene Wasserlibation an Sukkot (mSuk 4,9), "rabbinische Rückprojektion" (227); hier habe sich eine "priesterlichen Familientraditionen verpflichtete Minderheit" (251) mit einer Volksfrömmigkeit verbunden, die von zeitgenössischen paganen Vorbildern, etwa vom Kult der Dea Syria, inspiriert worden sei (232 ff.). In spätrabbinischen Texten wie MidrTeh 91,7 zu 91,11 und PRE 35,66 ff. kulminiere der Prozess dann unter Aufnahme hellenistischer Mythologumena in der Vereinheitlichung aller drei Einzeltraditionen (238). Der Fels auf dem Tempelberg habe damit erst nach der Tempelzerstörung Bedeutung erlangt, in gewissem Umfang sogar "erst durch die muslimische Resakralisierung des Tempelberges, d. h. durch die Errichtung des Felsendomes" (251).

T.s Argumentation ist über weite Strecken überzeugend. Insbesondere hat sich der gewählte methodische Zugang bewährt. In Einzelfragen wird man teilweise anders urteilen, vor allem dann, wenn man Texte berücksichtigt, die T. nicht aufgenommen hat. Denn eine gewisse Schwäche des Buchs liegt nach Ansicht des Rezensenten im begrenzten Repertoire der einbezogenen Texte.

Schon zu den drei ausgewählten Traditionen werden nicht alle relevanten Texte auch eigens analysiert: Weshalb etwa wird Ez 5,5 nur recht beiläufig erwähnt? Warum erfahren die frühesten rabbinischen Belege für 'even setijja (mJom 5,2; tJom 3,6) keine Analyse? Zwar mag es sein, dass der Fels mit W. Zwickel u. a. weder unter dem Brandopferaltar noch dem Allerheiligsten gelegen hatte, vielmehr erst nach Ende des Tempels bedeutsam wurde, doch kann eine Entscheidung über die Wasserspende m. E. nicht absehen von tSuk 3,16 (der boëthusäische Hohepriester habe einst die Libation sabotiert und sei daraufhin mit Etrogim beworfen worden), Josephus, Ant 13,372 (z. T. mit diesem Vorfall identifiziert) oder Joh 7,37 f. (Anspielung auf den Wasserritus?). Des Weiteren wird nicht zureichend begründet, weshalb andere Traditionen, die ebenfalls die Zentralstellung Jerusalems und seines Heiligtums zum Gegenstand haben, ausgespart bleiben, etwa zur Stellung der Stadt des Heiligtums nach 11QT oder zu Adams Erschaffung (dazu immerhin knapp 236 f.), Wohnen, Tod und z. T. auch Grab im Bereich des Tempelplatzes, auf die vor allem J. Jeremias (etwas zu optimistisch) hingewiesen hat (Golgotha, 38 f.). Auch wäre m. E. in einer Arbeit, die sich u. a. mit dem Nabel der Welt beschäftigt, eine stärkere Einbeziehung des entsprechenden paganen Befunds zu erwarten, dessen Einfluss auf die jüdische Tradition T. wohl in der Tendenz zutreffend einschätzt, der aber komplexer ist, als es die knappen Andeutungen (162 f.177 f.) verraten. Einige Aspekte könnten durchaus von Relevanz auch für das hier verhandelte Thema sein, etwa dass neben Delphi auch Paphos als Erdnabel galt (Hesychios, s. v. ges omphalos [I, 429 Schmidt]) und auch sonst geographische Vorstellungen vom Nabel belegt sind (nach Cicero, In Verrem 2 IV,48 [ 106] galt Henna/Enna als umbilicus Siciliae; vgl. den archäologisch greifbaren umbilicus urbis auf dem Forum Romanum [sicher ab 3. Jh. n. Chr.]).

Während also die Diskussion zu Jerusalem in ganzer Breite weitergeführt werden muss, ist zugleich festzuhalten, dass T. zu den drei behandelten Heiligtumstraditionen einen wertvollen Beitrag geleistet hat, der durch methodische Sorgfalt, aber auch durch ein von J. Assmann inspiriertes Interesse an der Konstitution von Gruppenidentitäten zu überzeugen weiß.