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Ausgabe:

Oktober/2004

Spalte:

1051 f

Kategorie:

Judaistik

Titel/Untertitel:

Der Midrasch Sifre Zuta.

Verlag:

Übers. v. D. Börner-Klein. Stuttgart: Kohlhammer 2002. X, 347 S. gr.8 = Rabbinische Texte. 2. Reihe: Tannaitische Midraschim, III A. Lw. Euro 197,00. ISBN 3-17-017367-7.

Rezensent:

Friedrich Avemarie

Das Erscheinen dieses Bandes ist in der deutschsprachigen Übersetzungsarbeit an der antiken rabbinischen Literatur ein Meilenstein: Sifre Zuta gehört zu denjenigen rabbinischen Werken, die bislang noch in keine moderne Sprache übersetzt wurden; Börner-Klein hat hier also - nachdem sie schon 1997 eine Neubearbeitung des 1959 von K. G. Kuhn übersetzten Zwillingsmidraschs von Sifre Zuta, Sifre Numeri, vorgelegt hatte - Pionierarbeit geleistet.

Sifre Zuta, einer der so genannten halachischen Midraschim, die im 3. und 4. Jh. redigiert wurden, hat sich in handschriftlicher Überlieferung nur bruchstückhaft bis in die Neuzeit erhalten. Bei der gängigen Textausgabe, die H. S. Horovitz 1917 veröffentlichte, handelt es sich um eine Rekonstruktion anhand von Exzerpten mittelalterlicher Sammelwerke, vor allem Jalqut Schimoni und Midrasch Haggadol, und Zitaten einzelner mittelalterlicher Autoren. Diese Rekonstruktion bildet die Textbasis der vorliegenden Übersetzung. Darüber hinaus werden Fragmente zweier Handschriften berücksichtigt, das von S. Schechter edierte Genizafragment Hs. Oxford Heb. C 18.7-8 sowie die von J. N. Epstein herausgegebene Hs. Firkowitsch II A 313, die allerdings beide zusammen nur gut 20 der 110 Seiten der Horovitzschen Ausgabe abdecken.

Inhaltlich besteht Sifre Zuta aus einem fortlaufenden Kommentar zu Num 5,1-7,18; 7,84-8,4; 8,23-9,14; 10,1-10; 10,29-12,16; 14,34; 15,1-41; 18,1-19,22; 20,26; 27,1-28,8; 30,2-17; 31,16-24; 35,11-34. Wie die Auswahl dieser Abschnitte zeigt, liegen die Interessen des Midraschs vorwiegend auf halachischem Gebiet. Behandelt werden u. a. das Eifersuchtsordal, das Nasirat, das Zweite Passa, Speiseopfer, Zitziot, Abgaben für Priester und Leviten, die Zubereitung der Roten Kuh, das Erbrecht der Töchter. Meist beschränkt sich die Auslegung darauf, anhand der üblichen rabbinischen Auslegungsregeln den normativen Aussagegehalt der Gebotstexte zu erheben. Bisweilen weitet sie sich aber auch zu logisch hoch komplexen Diskussionen über die Angemessenheit alternativer Deutungsmöglichkeiten (41 f.83 f.209-211.227-229.241-245 u. ö.).

Wie in anderen halachischen Midraschim tritt die Haggada nicht völlig zurück. Die Auslegung von 10,29-12,16 ist praktisch rein haggadisch (97-151). An den aaronitischen Segen knüpfen sich Betrachtungen über das Heilsgut des Friedens (64-67), an den Aufbruch der Bundeslade Num 10,36 Ausführungen über das Mitsein Gottes mit Israel (109-111). Zu 6,5 wird vom Nasirat der Königin Helena berichtet (44), zu 7,89 wird ein Vergleich zwischen Mose und Bileam gezogen (76 f.), zu 12,12 eine Liste biblischer Euphemismen zusammengestellt (148 f.) und zur Kundschaftererzählung eine Liste mit Belegen für die Gleichstellung eines Beauftragten mit seinem Auftraggeber (152-154). Hier und da sind Gleichnisse eingeflochten (die meisten zwischen 107 und 132). An ein bekanntes Agraphon Jesu erinnert das zu 10,2 angeführte Diktum "Die Tora lehrt dich, ein Geldwechsler zu sein" (92).

Die Übersetzung wird in vorbildlicher Übersichtlichkeit dargeboten: Der lemmatisierte Bibeltext steht in eigenen Absätzen, ist durch Fettdruck und Kursivierung hervorgehoben und am linken Rand mit Kapitel- und Verszahlen versehen, was das Nachschlagen denkbar einfach macht.

Der Text der Auslegung ist je nach Länge in Absätze unterteilt, die auch komplexere Argumentationsgänge meist schon auf den ersten oder zweiten Blick transparent machen. Listenartige Kompositionen sind am linken Rand durchnummeriert. Der rechte Rand nennt die Seitenzahlen der Ausgabe von Horovitz sowie die jeweiligen Stellen in Jalqut Schimoni und Midrasch Haggadol, denen Horovitz seinen Text entnommen hat. Pfeile markieren Anfang und Ende der aus diesen Werken übernommenen Passagen. Der Fußnotenapparat gibt vor allem Text- und Motivparallelen in Talmud und Midrasch an, weist aber gelegentlich auch auf mittelalterliche und moderne Literatur hin und bietet Wort- und Sacherläuterungen. - Leser und Leserinnen, die das Buch ohne judaistische Vorbildung zur Hand nehmen, werden sich freilich etwas mehr an solchen Erläuterungen wünschen!

Der Übersetzungstext spiegelt durchweg ein sicheres Verständnis und eine zuverlässige Handhabe des zweifellos nicht einfachen Quellentextes. Das schließt allerdings nicht aus, dass man in Einzelfällen auch abweichende Übersetzungen in Erwägung ziehen kann.

So sollte es auf S. 10 möglicherweise nicht heißen "Wie sich die Wöchnerin durch Berühren und Tragen verunreinigt", sondern "Wie die Wöchnerin durch Berühren und Tragen verunreinigt"; auf S. 18 nicht "einen Raub ..., da man ihn nach dem Schwur erstatten muß", sondern "einen Räuber ..., da er nach dem Schwur erstatten muß"; auf S. 18 unten nicht "allein von ihm", sondern "abgesehen von ihm selbst"; auf S. 91 nicht "Wohin war er [unterwegs]?", sondern "Wo war er?" (denn unterwegs war er nach Num 9,13 gerade nicht); auf S. 155 nicht "Gußopfer darzubringen, die im Ausland [nicht dargebracht wurden]", sondern "Gußopfer im Ausland darzubringen"; auf S. 165 nicht "Ein Heide, der ihm ... Teig gibt, ist von der Hebe frei", sondern "[Wenn] ein Heide ihm ... Teig gibt, ist [der Teig] von der Hebe frei". - Auch Versehen fielen gelegentlich auf, so S. 100 oben: statt "Wenn schon einer, der" lies "Wenn schon einer, die"; S. 173, Anm. 123: statt "Hifil" lies "Hofal"; S. 223 oben: statt "allen sie" lies "Fallen sie"; S. 228 Mitte: statt "des siebten [Tag]" lies "am siebten Tag", S. 230, Anm. 255: statt "Alraunerde" lies "Alaunerde", S. 256, Anm. 19: statt "Mose" lies zweimal "Aaron".

Im Anhang des Bandes finden sich Register der griechischen und lateinischen Lehnwörter, der erwähnten Rabbinen, der zitierten Bibelstellen und der rabbinischen Paralleltexte, ein Abkürzungsverzeichnis sowie eine nach Quellen und Sekundärliteratur geordnete Bibliographie.

Alles in allem wurde mit dieser ersten neusprachigen Übersetzung von Sifre Zuta ein Werk vorgelegt, in das ein hohes Maß sowohl an Beharrlichkeit und persönlichem Einsatz (siehe Vorwort!) als auch an rabbinistischer Sachkenntnis eingeflossen ist. An beidem herrscht in der gegenwärtigen Forschung angesichts knapper werdender Fördermittel dringender Bedarf - auch auf dem Gebiet der Erforschung der halachischen Midraschliteratur: Mekhilta de-Rabbi Schimon ben Jochai und Midrasch Tannaim warten noch auf ihre Erstübersetzung, desgleichen Jalqut Schimoni und Midrasch Haggadol.