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Ausgabe:

Oktober/2004

Spalte:

1046–1049

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Lehnardt, Andreas

Titel/Untertitel:

Qaddish. Untersuchungen zur Entstehung und Rezeption eines rabbinischen Gebetes.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XIV, 386 S. gr.8 = Texts and Studies in Ancient Judaism, 87. Lw. Euro 89,00. ISBN 3-16-147723-5.

Rezensent:

Hermut Löhr

Die anzuzeigende Untersuchung - Buchfassung einer bei Peter Schäfer in Berlin erarbeiteten judaistischen Dissertation von 1999/2000 - versucht eine empfindliche Forschungslücke zu schließen. Über das qaddish (die Transkription der hebräischen und aramäischen Wörter übernehme ich aus dem besprochenen Band), neben dem Achtzehngebet das wohl bekannteste jüdische Gebet, wurde seit der Heidelberger Dissertation von David de Sola Pool aus dem Jahr 1909 nicht mehr monographisch gearbeitet. Allerdings existiert, wie der einleitende knappe, aber sehr instruktive Forschungsüberblick (2-12) zeigt, eine Reihe von bedeutenden Untersuchungen, die sich schwerpunktmäßig mit der Frage nach Entstehung und Herkunft des Gebetes beschäftigt. Das Interesse u. a. der neutestamentlichen Exegese hat das qaddish vor allem wegen seiner semantischen und syntaktischen Konvergenzen mit dem Vater unser gefunden - was in der älteren Forschung trotz der Warnungen so kenntnisreicher Wissenschaftler wie Gustaf Dalman wiederholt zum Fehlschluss direkter traditionsgeschichtlicher Verwandtschaft verlockt hat. Der Vf. interessiert sich demgegenüber vor allem für die Frage nach der Verwendung des Gebets innerhalb der jüdischen Liturgie und seine Interpretations- und Rezeptionsgeschichte bis in das Mittelalter. Vom Leser, der nach Zusammenhängen christlicher und jüdischer liturgischer Tradition fragt, wird so bei der Lektüre des Werkes die Geduld verlangt, solche Fragen vorerst zurückzustellen. Dafür erhält er sorgfältig recherchierte Informationen über Bezeichnung, Bezeugung, Versionen und Rezensionen des Gebetes, die eine weitere Beschäftigung überhaupt erst möglich machen. Mit anderen Worten, der Vf. legt - als Dissertation! - ein Basis- und Standardwerk zur jüdischen Gottesverehrung und Liturgie vor.

Die Untersuchung gliedert sich in fünf ausführlich analysierende Kapitel und eine Zusammenfassung der Ergebnisse. Zwei Appendizes zu den wichtigsten Versionen und Rezensionen des qaddish sind ebenso beigegeben wie ein ausführliches Handschriften- und Literaturverzeichnis sowie Register.

Das erste Kapitel fragt nach Versionen und Rezensionen des Gebetes, gibt eine sprachliche und formale Analyse derselben und versucht eine Bestimmung von Form und Gattung.

Der Vf. unterscheidet in der rabbinischen Literatur sechs verschiedene Bezeichnungen des qaddish (Halb-qaddish; Voll-qaddish; Waisen-qaddish; qaddish yehe shelama; qaddish de-rabbanan = qaddish de-aggadata; "großes qaddish"). Da Halb-qaddish und Waisen-qaddish sich nur hinsichtlich Verwendung und Funktion unterscheiden lassen, beziehen sich die Bezeichnungen auf fünf verschiedene Texte. Auch davon abgesehen sind von den fünf genannten verschiedenen Versionen nur Halb-qaddish und großes qaddish nach Umfang und Inhalt in den Quellen durchgehend deutlich gegeneinander abzugrenzen. Die ältesten datierbaren Rezensionen dieser Versionen stammen aus dem 9. bis 11. Jh. und finden sich vornehmlich in Handschriften aus der Geniza der Esra-Synagoge in Alt-Kairo. Die drei voneinander unabhängig überlieferten Handschriften des Seder Rav Amram, die den Text des qaddish enthalten, stammen hingegen aus dem 13. bis 15. Jh.; im ursprünglichen Responsum des gaonäischen Gelehrten wurde auf das Gebet nur angespielt. Ob die in einigen Rezensionen überlieferten umfangreichen eschatologischen Bitten als Hinweis auf eine ältere palästinische Fassung des qaddish gewertet werden können, lässt der Vf. offen.

In fast allen Rezensionen des Gebets findet sich das Phänomen der Sprachmischung in Form der Kombination kürzerer oder längerer hebräischer und aramäischer Abschnitte. Der Vf. fragt- in Auseinandersetzung mit einer These Pools - nach dem Verhältnis des Aramäischen im qaddish zu demjenigen der Targumim. Ein eindeutiges Bild und Hilfe zu Datierung oder Lokalisierung des Gebets ergibt die philologische Analyse nicht; das qaddish lässt sich nicht einem bestimmten aramäischen Dialekt zuordnen.

Der formale Grundbestand des Gebets mit seinen verschiedenen Gattungselementen entspricht seinem antiphonischen Vortragscharakter. Eine umgreifende Gattungsbestimmung ist laut dem Vf. jedoch nicht möglich und, so folgert er, auch keine eindeutige Zuweisung eines ursprünglichen "Sitzes im Leben". Vielmehr sei "mit mehreren Sitzen im Leben (Synagoge und/ oder bet ha-midrash) zu rechnen" (75; vgl. aber auch 141). - Damit wendet sich die Studie gegen die von Joseph Heinemann aufgebrachte und weit verbreitete These, das qaddish gehöre ursprünglich in den Zusammenhang des jüdischen Lehrhauses. Die Argumentation hätte man sich an diesem wichtigen Punkt freilich noch ausführlicher gewünscht.

Im zweiten Kapitel wird die "Rezeption des Qaddish in der rabbinischen Literatur" untersucht. Auffallen muss ja, dass das Gebet in Mischna, Talmud sowie den halachischen und haggadischen Midraschim nicht ausführlich erwähnt oder erläutert wird. Allerdings wird hier und da die "doxologische Formel" yehe sheme rabba mevarakh ("es sei sein großer Name gepriesen") zitiert, die in der Forschung zumeist als Hinweis auf das qaddish gewertet wird. Der Vf. zeigt in einer ausführlichen Untersuchung der einschlägigen Passagen, dass dieser Schluss keineswegs zwingend ist. Wie etwa SifDev ha'azinu 306 (Finkelstein, 342) deutlich erkennen lässt, konnte die doxologische Formel auch separat verwendet und erst nachträglich als pars pro toto für das qaddish aufgefasst werden. Die Belege insbesondere aus dem Talmud Bavli deuten jedoch auf das qaddish insgesamt und weisen es als vermutlich (wohl schon tägliches) synagogales Gebet aus (auf das Lehrhaus hingegen weisen außer dem amoräischen Diktum in bSot 49a haggadische Texte aus nach-talmudischer Zeit). Im palästinischen Ritus dürfte das Gebet hingegen zunächst nur im Zusammenhang der Schriftlesung am Sabbat verwendet worden sein.

Das dritte Kapitel widmet sich den Beziehungen des qaddish zur Hekhalot-Literatur und setzt sich vor allem mit der älteren These von Philipp Bloch auseinander, derzufolge der vierte, litaneiartige Abschnitt des Gebets auf den Einfluss der Mystiker, der yorede merkava, zurückgeht; diese seien es auch gewesen, die das qaddish in die Liturgie eingeführt hätten. Stringent zeigt die Analyse die Unhaltbarkeit dieser These: Die litaneiartigen Serienbildungen verbinden das qaddish keinesfalls nur mit den mystischen Texten, sondern z. B. auch mit dem u. a. in yBer 9,3 (14a,7-10); BerR 13,15 und DevR 7,6 überlieferten Dankgebet für Regen aus amoräischer Zeit. Zudem wird die "doxologische Formel" des qaddish in den bisher erschlossenen Texten der Hekhalot-Literatur nur einmal zitiert, in der so genannten David-Apokalypse, einem wohl sekundären Stück in Hekhalot Rabbati.

Das vierte Kapitel nimmt die Textuntersuchungen des ersten auf, indem es nach den in der gaonäischen Literatur zu findenden Interpretationen des Gebets und den dort gegebenen Begründungen für seine Aufnahme in die Liturgie fragt. Die enormen Schwierigkeiten, welche mit dem Quellencorpus und seiner Tradierung selbst gestellt sind, werden hier besonders deutlich - ebenso wie die sorgfältig abwägende Weise der Analyse, der Vorzug des Soliden vor dem Spektakulären, welche das ganze Buch auszeichnen. Die Untersuchung gaonäischer Responsen zum Gebrauch des Wortes yitqalas ("er soll rühmen") im qaddish ergibt, dass dessen Wortlaut bereits zu Beginn der gaonäischen Epoche "relativ feststand" (209), ohne dass von einer völligen Fixierung oder Kanonisierung durch die geonim gesprochen werden kann. Prägend war vielmehr der lokale Brauch (minhag). Ebenso dürfte auch die liturgische Verwendung des Gebetes zu Beginn der gaonäischen Zeit einigermaßen feststehen. Ein übergreifendes Prinzip für die Einführung dieses Gebrauchs lassen die Quellen jedoch nicht erkennen, vielmehr stehen verschiedene Begründungen nebeneinander.

Die Bezeichnung des Gebets als qaddish, die erst in ashkenazischen Quellen des Mittelalters belegt ist (gaonäische Quellen bezeichnen das Gebet als "yitgadal-Sprechen"), deutet auf ein theologisches Verständnis des Gebets als "Heiligung des Namens", in dem - auf dem Hintergrund von Ez 28,23 - apokalyptisch-eschatologische mit namenstheologischen Motiven zusammenfließen. Dieses theologische Verständnis könnte die häufige liturgische Verwendung mit erklären.

Verschiedene mittelalterlich-ashkenazische Erklärungen für den sprachlichen Mischcharakter des qaddish erweisen sich als nachträgliche Versuche, eine "Traditionslücke" aufzufüllen, die der ältere Brauch gelassen hat.

Im fünften Kapitel untersucht der Vf. schließlich einen Aspekt der "Rezeption des Qaddish im Mittelalter", nämlich seine Verwendung als Gebet für Verstorbene im Waisen-qaddish (qaddish yatom). Dieser ashkenazische Brauch wird in Quellen des 11.-12. Jh.s als selbstverständlich vorausgesetzt und könnte "eine ältere, palästinische (?), zunächst nur mit dem barekhu-Gebet verbundene Tradition" (294) aufgreifen.

Die Quellenzeugnisse, insbesondere die in verschiedenen Fassungen überlieferten "ma'ase von dem Tannaiten und den Toten", erweisen die Entwicklung liturgischer Gebräuche außerhalb der "kanonischen" Überlieferung und unabhängig von den (ablehnenden) Stellungnahmen der babylonischen geonim zu Gebeten für Tote.

Die vorliegende Monographie erweist den Vf. wiederum (nach seinem companion article zu Leon Wieseltiers autobiographischem Werk "Kaddish" in JSQ 8, 2001) als profunden Kenner der Überlieferung zum qaddish und als umsichtigen Quelleninterpreten. Auf der so gelegten Basis kann man aufbauen, sei es in Erörterung und Präzisierung der vom Vf. vorgelegten Resultate, sei es in Hinsicht auf die traditionsgeschichtliche Rückfrage bis in die Zeit und Literatur des Zweiten Tempels.