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Ausgabe:

Oktober/2004

Spalte:

1043–1046

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Bruckstein, Almut Sh.

Titel/Untertitel:

Die Maske des Moses. Studien zur jüdischen Hermeneutik.

Verlag:

Berlin-Wien: Philo 2001. 200 S. 8. Kart. Euro 19,50. ISBN 3-8257-0230-8.

Rezensent:

Bernhard Wunder

Die Vfn. sucht eine "Philosophie der jüdischen Hermeneutik" aufzustellen, die trotz der so genannten "Wissenschaft des Judentums" zu Beginn des 20. Jh.s im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannt geblieben sei (17), obgleich vielfältige "Berührungspunkte der jüdischen Textarbeit mit allen Bereichen zeitgenössischer Kulturtheorie" (ebd.) bestehen.

Die Studie setzt bei einer Auseinandersetzung mit rabbinischen Texten am Beginn des 20. Jh.s an, als jüdisches Denken einen Wechsel von apologetisch-ethischen zu hermeneutischen Fragestellungen und damit einen Wechsel zu "identitätsstiftenden Mustern der Traditionsvermittlung" (20) vollzogen habe. Zeitgenössische "Griechen" und "Christen" (31) hingegen dominierten sowohl das Feld der philosophischen Hermeneutik als auch die politische Programmatik insbesondere in Deutschland. Der Ausschluss des Anderen, der fremden Kultur, der Zeugnisse kultureller Gemeinschaften habe jedoch zu einer exklusiven kulturellen Selbstvergewisserung geführt (35), ein Phänomen, das die Vfn. auch bei "Zionisten" beobachtet (ebd.). Jüdische Hermeneutik suche über die o. g. rabbinischen Linien hinaus eine Auseinandersetzung mit der griechisch-christlichen (europäischen) Denktradition, und zwar ausdrücklich gegen deren Ausschlussgesten und für die Anerkennung des Fremden. Diese Ausrichtung mache eine "Dekonstruktion der kulturellen Mitte" (38) nötig, die eine Heterogenität von Ursprüngen als Produkte eines hermeneutischen Prozesses anerkennt.

Jüdische Hermeneutik ist mit einer "ursprünglichen Frage" (53) nach der Schrift verknüpft, im Unterschied zur griechischen Philosophie, die die Frage nach dem Sein, also dem "Was ist?" stellt. Jüdische Hermeneutik kenne keinen direkten Zugang zu einem Ur-Text im Sinne etwa einer Überlieferungsgeschichte, sondern nur einen "unendlichen Umweg" (62) zum Ursprung, der jedem Text abwesend bleibt. Lesen, was nicht geschrieben steht, ist daher eines der entscheidenden Prinzipien. Gefährlich werde es, wenn ein Ur-Text gesetzt werde, der die Offenheit der Geschichte, die Anerkennung des Anderen und des Fremden ausschließt.

Darauf beziehe sich auch das Ende der "langen apologetischen Tradition" im jüdischen Denken, wonach das "Jüdische nun nicht den allgemeinen (griechisch-christlichen) Denktraditionen angeglichen, sondern umgekehrt, eine aus der jüdischen Tradition erwachsene spezifische Begrifflichkeit zum Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit der christlichen europäischen Kultur wird" (88 f.). Der redaktionelle Verzicht auf einen Ur-Text und dementsprechend eine Kanonisierung des Schriftsinns stellt somit einen "ursprünglichen Vorbehalt der rabbinischen Gelehrten gegen die christliche Überlieferung" (99) dar, die die an sich sinnlose hebräische Buchstabenfolge der Schrift (die keine Vokale kennt) - ein Zeichen der Heiligkeit des Textes (100) - suspendiere. Das "Hinzufügen der pneumata, der Vokale, ist nach jüdischem Selbstverständnis in entschiedenem Maße Teil der mündlichen Überlieferung" (100), so dass das Göttliche sich nur in Formen der aktualisierenden Entfremdung, der Maske (des Mose), des Exils vermitteln lasse. Jedes Ent-Fremden eröffne ansonsten das Feld der Gewalt, die die "geschlechtliche[n] Strukturen in den traditionellen jüdischen Sprachformen" (115) zerstört: Tora als Braut Gottes bzw. Braut Moses', die weibliche Präsenz Gottes in der Welt (die Schechina), die Prinzessin Schabbat (weibliche Partnerin Gottes), die Geliebte Gottes (Shulamit) und das Königtum Gottes (Malchut) in der Welt (116). "Die Tora ist nach kabbalistischer Überlieferung eine Jungfrau ohne Augen, ohne eigene Sichtweise, ein unendlich interpretierbarer Text, eine Geliebte, die ihr Antlitz ausschließlich dem Geliebten enthüllt ..." (121). Offenbarung tritt somit niemals in Erscheinung oder in den Raum der Erscheinung ein, sondern nur in den Raum des Verschwindens, des Entzugs.

Mit einem Kapitel zum "jüdischen Rationalismus" (139- 178) und einer Kritik an "jeglicher Vermischung von Transzendenz und Immanenz" (144) schließt die Vfn. die Studie, wonach eine heilsgeschichtliche Perspektive, wie sie im "Christentum und Zionismus" vertreten werde, einen "Verrat an der meta-historischen (messianischen) Aufgabe der jüdischen Tradition" (152) darstelle, und zwar deshalb, weil kein geschichtliches Ereignis, wie einzigartig auch immer, Grund göttlicher Weisungen werden (174) und infolgedessen die Forderungen der Gerechtigkeit zum Verschwinden bringen könne (174 f.). Ein Glossar schließt den Band ab (179-184).

Der Band lebt von der entscheidenden Verknüpfung des wissenschaftlichen und politischen Diskurses, einer Verknüpfung, die die Vfn. in den Zusammenhang mit einem Humanismus des Anderen stellt. Damit engagiert sich diese Studie für das Moment der Verantwortung einer wissenschaftlichen Hermeneutik, die den Ausschluss des Anderen und des Fremden in jedem kulturellen Kontext zu beenden sucht, indem der Andere und das Fremde als Anderer und Fremdes wahrgenommen und respektiert werden, ohne ihn/es unter das Eigene unterzuordnen. Diese Verknüpfung stellt jedoch nicht nur den Schlüssel zu dieser jüdischen Hermeneutik im Sinne der Vfn. dar, sondern zugleich den Ansatzpunkt einer kritischen Anmerkung.

Der hier in Betracht kommende Aspekt betrifft das Konstruktionsverfahren von jüdischen Elementen, die die Vfn. aus rabbinischen Auslegungsansätzen, philosophischen Konzepten sowie historischen und politischen Kontexten heraus erarbeitet. Der entscheidende Punkt ist dabei, dass diese Konstruktion von Pauschalisierungen und Gleichsetzungen gestützt wird, wenn die Vfn. z. B. von Deutschen, Griechen und Christen (31) sowie einem griechisch-christlichen Traditionsprozess spricht, der der Identitätsgewinnung qua Ausschluss des Anderen und des Fremden diene. Durch Seitenblicke auf Phänomene bei Zionisten (35) wird diese Konstellation zudem mit einer gegenwartspolitischen Kritik - im Blick auf Israel - aufgeladen.

Signifikant ist des Weiteren, dass der christlich-jüdische Dialog in Deutschland nach 1945 mit keiner Silbe erwähnt wird, obgleich in ihm solche pauschalisierenden Konstruktionen längst thematisiert sind. Auch kirchenamtliche Äußerungen und Dokumente auf der katholischen wie evangelischen Seite haben hierzu längst öffentlich Stellung bezogen. Der Band lässt somit offen, womit er entscheidend operiert, nämlich mit dem Übergang von rabbinischen Traditionen ins Jüdische sowie mit dem Übergang in den philosophisch-hermeneutischen Diskurs hinein. Immerhin verbindet sich mit Letzterem ein viel kritisierter Universalitätsanspruch, der gerade die Einordnung des Fremden ins Eigene markiert und damit als Fremdes/n verschwinden lässt. Das aber beansprucht diese Studie zu vermeiden.

Es gibt noch einen weiteren anmerkungswerten Aspekt, der einen eher impliziten Gestus dieser Studie betrifft und vielleicht am besten mit einer Art Konversionsgeste beschreibbar ist. Mit der Hinwendung zu rabbinischen Traditionen verknüpft die Vfn. ausdrücklich die Forderung nach Gerechtigkeit sowie einen Humanismus des anderen Menschen. Demgegenüber wird der Eindruck erweckt, dass mit der Hinwendung beispielsweise zum Christentum und damit ausdrücklich zu seinem heilsgeschichtlichen Ansatz oder auch zum griechisch-christlichen Traditionsprozess in Europa eine Abkehr von der Forderung nach Gerechtigkeit und eine Abkehr von einem Humanismus des anderen Menschen nahe gelegt wird. Dies scheint jedoch sowohl aus Sicht des Christentums als auch aus Sicht des so genannten europäischen Traditionsprozesses eine durchaus problematische Verknüpfung zu sein, die das Buch nicht explizit ausschließt, sondern eher als Profilierungshorizont der jüdischen Hermeneutik setzt.

Die Vfn. profiliert ihre jüdische Hermeneutik gegen eine Art Gespenst aus griechischer Philosophie, deutschem bzw. europäischem Idealismus und Christentum mit einer Konjunktion zum Zionismus. Dies verlängert nicht nur eine jüngst aufgelegte und inzwischen wieder verebbte Diskussion um die These vom nicht therapierbaren Geburtsfehler des Christentums (Schnädelbach), sondern geht auch weit hinter die Thesen Rosenzweigs, Levinas' und anderer zurück, die das Christentum nicht gegen einen Humanismus des Anderen gestellt sahen.

Der Einspruch auf diesen Kontext hin kratzt schon am Konstruktionsverfahren der Studie, auch wenn die rabbinischen, philosophischen und historischen Elemente der dargestellten jüdischen Hermeneutik ausgesprochen prägnant zur Darstellung kommen. Man kann dieser Arbeit nur eine wissenschaftliche Auseinandersetzung wünschen, die nicht zuletzt im jüdisch-christlichen Dialog in Deutschland Partner findet, durchaus im Sinne eines Humanismus des Anderen, aber eben auch in Wachsamkeit für die konstruierten Kontexte, die diesen Humanismus nicht unwesentlich konturieren.