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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

391–393

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Cansdale, Lena

Titel/Untertitel:

Qumran and the Essenes. A Re-Evaluation of the Evidence.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1997. XII, 230 S., 8 Taf. gr.8 = Texte und Studien zum Antiken Judentum, 60. Lw. DM 168,-. ISBN 3-16-146719-1.

Rezensent:

Armin Lange

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine überarbeitete Fassung der von A. D. Crown betreuten und bereits 1994 abgeschlossenen Dissertation der Vfn. Sie sieht die seit E. Sukenik und R. de Vaux von der Mehrheit der Forscher vertretene Interpretation, daß es sich bei den Funden von Qumran um die Reste einer essenischen Siedlung und deren Bibliothek handelt, insbesondere durch die neuveröffentlichten Handschriften aus Höhle 4 hinterfragt und reklamiert daher einen Paradigmenwechsel in der Qumranforschung. Zu diesem Zweck beginnt die Vfn. mit einem Vergleich der antiken Essenerberichte mit den in Qumran gefundenen Texten. Trotz der hohen Bedeutung, die sie den seit Beginn der 90er Jahre veröffentlichten Handschriften zuweist, beschränkt sie sich jedoch im wesentlichen auf schon seit langem bekannte Werke wie 1QS, 1QSa, 1QH, 1QM/4QM, 11QT, CD und einige Pescharim. Von den "neuen" Texten finden lediglich 4QMMT und 4Q448 Beachtung.

Die in den klassischen Quellen bezeugte Selbstbezeichnung "Essener" (Essenoi, Essaioi) sei - so die Vfn. - nirgends in den Schriftrollen von Qumran bezeugt (s. aber den Gebrauch von hasayya’ in 4Q213a 3-46: [wl’ mtmh’ ssm hsyh mn kwl ’mh’ l’lm "und der Name der Frommen wird nicht ausgelöscht werden in Ewigkeit"] und die in einem 134/135 n. Chr. zu datierenden Brief für Qumran verwendete Ortsbezeichnung msd hsydym ["Festung der Frommen"; Mur 45 6]). Der pazifistische Charakter der Essener stehe im Widerspruch zu den kriegerischen Tönen in den Textfunden von Qumran. Ihr zölibatäres Leben lasse sich ebensowenig mit den Bestimmungen über Frauen und Kinder in den Gemeinderegeln von Qumran vereinbaren, wie die Tatsache, daß die Essener kein Privateigentum besessen hätten. Weitere Widersprüche zwischen den Textfunden von Qumran und den antiken Essenerberichten meint die Vfn. in den Opferpraktiken sowie im Umgang mit Eiden und Sklaven zu finden. Ferner ließe der archäologische Befund eine Interpretation der Siedlung von Qumran als essenische Niederlassung nicht zu: Die Skelette von Frauen und Kindern seien mit dem zölibatären Leben der Essener nicht vereinbar. Die aufwendige Wasseranlage hätte mit den materiellen Ressourcen und technischen Fähigkeiten der Essener nicht gebaut werden können. Im Widerspruch zum bescheidenen Lebensstandard der Essener stünden schließlich auch die in Qumran und En Feschkha gefundenen Münzen und Luxusgüter. Bei der in den Gemeinderegeln bezeugten Gemeinschaft handele es sich um eine sonst unbekannte jüdische Gruppe: "It could well be that the authors of the scrolls belonged to an earlier (pre-Hasmonean) group of priests or Sadducees, who split from the main body of priests when the Zadokite line was usurped by the Maccabean priests" (194). Wie die Schriftrollen nach Qumran gekommen sind, ließe sich erst nach Veröffentlichung aller Handschriften und Ausgrabungsergebnisse klären - ein Argument, das 1997 angesichts von vorläufigen Editionen fast aller Handschriften aus Qumran nur noch verwundern kann. - Bei den Handschriften von Qumran handele es sich entweder um die Reste einer Geniza oder um dort versteckte Kopien einer Jerusalemer bzw. Jerichoer Bibliothek, die dann auch Schriften der postulierten unbekannten jüdischen Sekte enthalten hätte. Eine, nach Meinung der Vfn., bei Qumran beginnende Handelsroute lege für die Siedlung eine Funktion unabhängig von der in den Höhlen gefundenen Bibliothek nahe:

"It appears therefore that Qumran was probably established as a fortified customs post, to collect the salt tax ... and to levy duties on other merchandise. The settlement may also have functioned as an inn or way station with the strong tower and its garrison protecting travellers from robbers and bandits. Excavation of the ruins of Qumran has also revealed the existence of a number of small industrial undertakings such as pottery, a dye works, and a small perfume factory. The large cemetary adjacent to Qumran may have been established to service a hospice which was perhaps maintained there. As a centre for the Jerusalem priesthood existed at the neighbouring city of Jericho, the supervision of the many activities at Qumran may have been in priestly hands" (196 f.).

Der vorgelegte Versuch einer Neuinterpretation von Schriftfunden und der Siedlung von Qumran ist von kleineren und größeren Fehlern durchzogen. Sie aufzulisten, würde den Rahmen des Möglichen bei weitem sprengen (s. dazu die Rezension von J. Magness in DSD 5, 1998, 99-104).

Die Vfn. begründet ihre Überlegung, bei den Textfunden von Qumran handele es sich um Kopien einer Jerusalemer oder Jerichoer Bibliothek, mit dem Hinweis, daß das Verstecken von Wertgegenständen in de r Wüste vom Toten Meer eine lange Tradition gehabt hätte. Dabei versteht sie die Funde von Wadi ed-Daliyeh, Nah.al H.ever und Wadi Murabba’at als weitere Verstecke dieser Art. Anders als im Fall von Qumran handelt es sich bei ihnen jedoch nicht um von ihren Besitzern vor einer militärischen Bedrohung versteckte Wertgegenstände, sondern um die Hinterlassenschaften von Flüchtlingen vor der makedonischen bzw. römischen Armee, die in den jeweiligen Höhlen starben. Der von der Vfn. angenommene rein literarische Charakter der Bibliothek von Qumran wird durch ein von ihr unberücksichtigtes Fragment in Frage gestellt: Bei 4Q477 handelt es sich um eine Liste von gemäß den Gemeinderegeln von S und D Ermahnten (s. E. Eshel, 4Q477: The Rebukes by the Overseer, JJS 45, 1994, 111-122). Das Fragment belegt also deutlich, daß die Vorschriften der Gemeinderegeln von den Besitzern der Bibliothek von Qumran praktiziert wurden. Neben den sowohl in den Höhlen als auch der Siedlung von Qumran gefundenen berühmten "scroll jars" könnte ein vor kurzem in Qumran entdecktes Ostrakon eine weitere Verbindung zwischen Siedlung und Höhlen herstellen (s. F. M. Cross/E. Eshel, Ostraca from Khirbet Qumrân, Israel Exploration Journal 47, 1997, 17-28): Seine schwer lesbare Aufschrift könnte dokumentieren, wie ein neues Mitglied seinen Besitz der Gemeinschaft entsprechend den Vorschriften in 1QS I11f.; VI14-23 übergibt. Auf eine Gemeinschaft, wie sie in den essenischen Texten vom Toten Meer bezeugt ist, dürften auch der auffallend konservative Keramikbefund (s. J. Magness, The Community of Qumran in Light of Its Pottery, in: M. O. Wise u. a., Methods of Investigation of the Dead Sea Scrolls and the Khirbet Qumran Site, New York 1994, 39-50) und die insbesondere im Vergleich zu den zeitgleichen Anlagen der hasmonäisch-herodianischen Paläste von Jericho stark auf religiöse Reinheit hin ausgerichteten Wasseranlagen von Qumran (s. dies., A Villa at Khirbet Qumran?, RdQ 16, 1993-1994, 397-419) hinweisen. Daß die Siedlung von Qumran keine normale jüdische Niederlassung, sondern der Wohnsitz einer Gemeinschaft von besonderem religiösen Profil war, dafür spricht schließlich auch der außergewöhnliche Grabtypus der Friedhöfe von Qumran (1,2-2m tiefe in Nord-Süd Richtung angelegte Gräber; die Leichen liegen mit dem Kopf nach Süden in einer Vertiefung unter der östlichen Wand des Grabes und sind von Steinplatten bedeckt).

Die von der Vfn. angeführten Widersprüche zu den Essenerberichten sind ebenfalls fehlerhaft. Die vielen Übereinstimmungen zwischen den antiken Essenerberichten und den Textfunden von Qumran sind andernorts schon häufig aufgezählt worden (s. etwa jüngst J. C. VanderKam, Einführung in die Qumranforschung, Göttingen 1998, 96-114), daher brauchen hier nur einige Beispiele diskutiert werden:

So sind beispielsweise die laut der Vfn. von den Essenern abgelehnten Eide nicht nur in den Bestimmungen zur Aufnahme neuer Mitglieder in 1QS I11-II18 belegt, sondern auch Josephus Flavius berichtet von ihnen im gleichen Zusammenhang (bell. 2,139-142). Im Kontext dieser Zeremonie legt die Gemeinderegel (s. 1QS I11 f.; VI14-23) auch fest, daß neue Mitglieder ihren Privatbesitz an die Gemeinschaft übergeben müssen, was gut zu den Nachrichten von essenischer Gütergemeinschaft in Jos. bell. 2,122 paßt. Auch daß sich in der Gemeinderegel der Damaskusschrift Bestimmungen über Frauen und Kinder finden, widerspricht den antiken Essenerberichten nicht, betont doch gerade Josephus, daß es zwei Gruppen von Essenern gegeben habe, und daß die weniger abgeschiedene Gruppe geheiratet hätte, um Kinder zu zeugen (bell. 2,160 f.). Im Umgang der Vfn. mit den Bestimmungen zu Besitz, Frauen und Kindern wird beispielhaft ein grundsätzliches Problem der vorliegenden Arbeit deutlich: C. versteht die halachischen Texte von Qumran als homogenes Zeugnis einer einzigen Gemeinschaft und übersieht dabei, daß sowohl die Damaskusschrift (D) als auch die in 1QS zusammengefaßten Texte ältere Traditionen verarbeiten und sehr wohl für und von unterschiedlichen Teilen der essenischen Gemeinschaft verfaßt worden sein können. Besonders evident wird das Problem im Umgang mit der Tempelrolle. Ohne daß die Vfn. die in der Forschung umstrittene Herkunft des Werkes problematisiert, rechnet sie es der von ihr vermuteten Gemeinschaft zu. In diesem Zusammenhang ist auch der nach C.s Meinung kriegerische Charakter der Textfunde von Qumran zu problematisieren. Daß Philo von Alexandrien betone (Quod omis probus liber sit 78), die Essener seien friedliebend gewesen und hätten keine Waffen produziert, widerspricht ihrer Meinung nach der in 11QTa LVIII12 erwähnten Armee ebenso wie dem in 1QM/4QM beschriebenen Krieg. Der angenommene Widerspruch löst sich jedoch in Wohlgefallen auf, wenn der nichtessenische Charakter der Tempelrolle erkannt wird, und wenn berücksichtigt wird, daß es sich bei der Kriegsregel um einen ursprünglich nichtessenischen Text handelt, der in der von 1QM bezeugten Fassung eine essenische Überarbeitung erfahren hat. Daß die Kriegsregel den eschatologischen Krieg zwischen den Söhnen des Lichts und den Söhnen der Finsternis zum Gegenstand hat, relativiert den von C. postulierten Hiatus weiterhin. Ferner zeigt das Beispiel auch den methodologisch problematischen Umgang der Vfn. mit den antiken Essenerberichten auf: Sie verkennt den durchaus tendenziellen Charakter sowohl der Berichte des Josephus Flavius als auch Philos von Alexandrien und verwendet sie als objektive Zeugnisse. Daß Josephus einen zelotischen General mit Namen "Johannes der Essener" (bell. 2,567) erwähnt, könnte im Zusammenklang mit der Kriegsregel durchaus für eine Beteiligung der Essener am dann von ihnen als eschatologischen Krieg verstandenen ersten jüdischen Krieg sprechen.

Insgesamt kann die vorliegende Arbeit keinesfalls überzeugen und verfehlt den eigenen Anspruch, einen Paradigmenwechsel in der Qumranforschung einleiten zu wollen, bei weitem.