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Ausgabe:

September/2004

Spalte:

984–986

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Fetz, Reto Luzius, Reich, Karl Helmut, u. Peter Valentin

Titel/Untertitel:

Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis. Eine strukturgenetische Untersuchung bei Kindern und Jugendlichen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2001. 384 S. m. Tab. u. Abb. gr.8. Kart. Euro 29,60. ISBN 3-17-017092-9.

Rezensent:

Helmut Hanisch

Wie der Untertitel programmatisch zu erkennen gibt, handelt es sich bei der vorliegenden Studie um eine empirische Untersuchung, die sich dem entwicklungspsychologischen Konzept Jean Piagets verpflichtet weiß. Dabei ist die Grundannahme leitend, dass es sich bei der Entwicklung des Weltbildes und des Schöpfungsverständnisses um einen Konstruktionsprozess handelt, der im Hinblick auf das zu erkennende Subjekt sowohl an formale als auch an materiale Voraussetzungen gebunden ist. Die formalen Voraussetzungen beziehen sich auf die jeweils erreichten kognitiven Verstehensbedingungen des Subjekts, die materialen auf die inhaltlichen Aspekte, auf die es bei der Konstruktion seines Weltbildes bzw. Schöpfungsverständnisses zurückgreift.

Auf Grund differenzierten Datenmaterials einer groß angelegten qualitativen Längsschnittuntersuchung, die sich über fast drei Jahrzehnte erstreckte, kann das Forscherteam überzeugend dokumentieren, wie sich die Entwicklung des Weltbildes im Einzelnen vollzieht. Ausgangspunkt ist bei religiös erzogenen Kindern oftmals bis zum Ende der Grundschulzeit ein unreflektiertes artifizialistisches Schöpfungsverständnis. Es ist durch die anthropomorphe Vorstellung geprägt, dass Gott gleichsam als Handwerker alles, was auf der Welt existiert, durch "Machen" oder "Herstellen" hervorbringt. Diesem Konstrukt korrespondieren die biblischen Schöpfungsaussagen, durch die das Kind in seinen artifizialistischen Vorstellungen bestärkt wird. Der entwicklungspsychologische Tatbestand, der dazu führt, ist darin zu sehen, dass das kindliche Denken alles, was auf der Welt existiert, auf personale Ursachen zurückführt. Dieses Denken ergibt sich aus der alltäglichen Erfahrung des Kindes mit seinen Eltern. Wenn das Kind mit dem Schöpfungsglauben in Berührung kommt, dann ist es nahe liegend, dass Gott als das übermächtige Wesen gesehen wird, das all die Gegenstände hervorbringt, die die Eltern nicht machen können. Ein weiterer zentraler Gedanke schließt sich an. Das Vertrauen, die Liebe und die Geborgenheit, die das Kind bei den Eltern oder anderen Erwachsenen erfährt, überträgt es auf Gott. Er ist für das Kind in viel umfassenderer Weise als die Eltern oder andere Erwachsene der Garant für das Wohlergehen des Menschen. Alles, was auf der Welt existiert, hat Gott aus Fürsorglichkeit für die Menschen geschaffen und erscheint demnach stimmig und sinnvoll. Mit anderen Worten: Das Kind ordnet seine Vorstellungen vom Aufbau der Welt einem menschlichen Sinnbezug und damit einer finalen Erklärung unter (vgl. 345).

Die eben angedeutete Phase des unreflektierten artifizialistischen Schöpfungsglaubens ist nach den Forschungsergebnissen des Autorenteams einer Entwicklung unterworfen, die sich in drei Stadien einteilen lässt. Im ersten Stadium gehen die Kinder davon aus, dass Gott nicht nur die Natur, sondern in gleicher Weise auch Artefakte hervorbringt. Er ist demnach etwa in gleicher Weise verantwortlich für die Schaffung der Berge wie für den Bau von Hochhäusern oder Autos. Dieser ersten Phase des unreflektierten Artifizialismus folgt das "Hauptstadium". Kinder trennen nun zwischen der Hervorbringung der Naturdinge und der Artefakte. Gott wird als der Urheber der Natur, nicht aber der technisch hergestellten Dinge gesehen. Es erfolgt damit eine Aufteilung der Aufgaben zwischen Gott und den Menschen. Ein letztes Stadium des unreflektierten artifizialistischen Schöpfungsglaubens ist dann erreicht, wenn die Kinder durch naturwissenschaftliche Kenntnisse - in der Regel beziehen sie sich auf den Urknall und die Evolution - Gottes Schöpferkompetenz zunehmend mehr einschränken. Vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher Überlegungen erscheint es ihnen unlogisch und unwahr, dass Gott an der Entstehung der Schöpfung maßgeblich beteiligt war.

Damit ist die Wende eingeleitet, die in der Regel mit dem Verlust des Kinderglaubens einhergeht. Formal gesehen handelt es sich um den "Übergang von der Objekt- zur Mittelreflexion" (345). Die "Mittelreflexion" ist dann erreicht, wenn der Jugendliche beginnt, über sein eigenes Denken zu reflektieren. Im Unterschied zur Objektreflexion, bei der es darum geht, dass sich der Erkennende vergegenwärtigt, was er erkennt, geht es bei der Reflexionsstufe darum, dass er sich bewusst wird, womit er erkennt, d. h. die Erkenntnismittel, die er benutzt, zu reflektieren (vgl. 143). Bedeutsam ist nun für die weitere Entwicklung des Weltbildes bzw. des Schöpfungsverständnisses die Unterscheidung von zwei Stufen des mittelreflektierenden Denkens. Die erste Stufe ist dann erreicht, wenn einzelne Vorstellungen und Begriffe zum Gegenstand des Nachdenkens werden. Eine zweite Stufe ist dann erreicht, wenn sich das mittelreflektierende Denken auf ganze Denksysteme bezieht.

Bezeichnend ist es nun für Jugendliche, dass vor allem die anthropomorphe Gottesvorstellung im Sinne der ersten Stufe des mittelreflektierenden Denkens zum Gegenstand der Kritik wird. Die Jugendlichen erkennen, dass das Gottesbild, das für sie in der Kindheit gegolten hat, unhaltbar ist. Dazu tragen nicht zuletzt die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse bei, die sie in unterschiedlichen Fächern an der Schule vermittelt bekommen. Die Erklärung, dass nicht Gott die Welt geschaffen hat, sondern dass sie "auf natürliche Weise" entstanden ist und sich das Leben auf ihr durch die Evolution entwickelt hat, erscheint ihnen auf Grund der Entwicklung ihres logischen Denkens weitaus plausibler als der biblische Schöpfungsglaube. Daraus ergibt sich für viele Jugendliche das grundsätzliche Problem, ob es Gott überhaupt gibt. Falls es ihn geben sollte, dann ist es unsinnig, sich ihn mit menschlichen Zügen vorzustellen. Daraus resultiert nicht selten eine "negative Theologie": Gott ist in den Augen der Jugendlichen nicht so, wie sie sich ihn als Kinder vorgestellt haben. Positive Aussagen lassen sich über Gott jedoch nicht machen.

Im Hinblick auf die Weltbildentwicklung ist auf Grund der Datenlage des Forscherteams im Jugendalter von einem radikalen Transformationsprozess auszugehen, der keineswegs einheitlich verläuft, sondern der jeweiligen individuellen Wirklichkeitsauslegung der Jugendlichen folgt. Dabei lassen sich die Jugendlichen von einem unumstößlichen Autonomieanspruch leiten, der vor allem auch mit konventionellen religiösen Vorstellungen bricht. In der Regel ist davon auszugehen, dass das Weltbildparadigma der Bibel von einem an den Naturwissenschaften orientierten Weltbildparadigma abgelöst wird, für das kennzeichnend ist, dass die Welt "von selbst" (347) entstanden ist. Gott hat mit der Entstehung der Welt nichts zu tun. Wenn dies so ist, dann ergibt sich daraus die Schlussfolgerung, dass die Welt selbst und das Leben auf ihr keinen immanenten Sinn enthält, der für den Kinderglauben selbstverständlich erschien. Vor diesem Hintergrund wird die Sinnfrage für den Jugendlichen zu einer seiner größten Herausforderungen, die dann überwunden werden kann, wenn es dem Jugendlichen gelingt, auf Grund der Mittelreflexion zu erkennen, dass die anthropomorphen Gottesvorstellungen ein menschliches Bild von Gott zeichnen, das durch andere, für das Denken des Jugendlichen plausiblere Vorstellungen ersetzt werden muss. Wenn dies erkannt wird, dann fällt der logische Grund weg, an einem anthropomorph und artifizialistisch vorgestellten Gott zu zweifeln oder ihn gänzlich in Frage zu stellen. Fetz, Reich und Valentin gelangen in diesem Zusammenhang zu der Schlussfolgerung: "Ob er (sc. der Jugendliche) dann neu an Gott glauben wird, hängt entscheidend davon ab, ob dieser Gott seinem Leben Sinn gibt. Eine kognitive Reflexionsleistung, die Arbeit am Gottesbild, und ein emotionales Angesprochensein von dem, was mit Gott als Sinnmöglichkeit erscheint, müssen sich gegenseitig durchdringen und wechselseitig fördern, damit eine Person über den Kinderglauben hinaus weiter und neu an Gott glauben kann." (348)

Von unschätzbarem Wert ist bei der vorliegenden Studie der reflektierte Theorierahmen, von dem sich das Autorenteam leiten lässt. Er bezieht sich zum einen auf die philosophische Entwicklung des Weltbildes von der Antike bis zur Neuzeit als auch auf die ontogenetische Entwicklungskonzeption, wie sie vor allem Piaget ausgearbeitet hat. Dieser Theorierahmen schafft die Voraussetzungen für eine überzeugende systematische Auswertung des äußerst umfangreichen Datenmaterials, das im Rahmen von drei zeitlich aufeinander folgenden Befragungen gewonnen worden ist. Trotz des hohen wissenschaftlichen Anspruchs, der die Arbeit auszeichnet, besticht die einfache und leicht lesbare Darstellungsweise. Die plausiblen Ergebnisse, die vor allem den Kinderglauben und dessen Transformation im Jugendalter erklären, lassen eine Reihe pädagogisch überzeugender Maßnahmen zu, die von den Autoren selbst in einem abschließenden Kapitel vorgestellt werden. Hierbei geht es zum einen um den sympathischen Gedanken, das Kind vor einer allzu schnellen "Entzauberung" der Welt durch die modernen Naturwissenschaften zu bewahren. Zum anderen geht es um die "Stimulation" des jugendlichen Denkens, die zu der Einsicht führt, dass unterschiedliche Weltbildparadigmata "Modelle" sind, die keinen absoluten Wahrheitsanspruch enthalten wollen oder können und demnach komplementär aufeinander bezogen werden können. Nachdrücklich sei die Lektüre dieses gründlichen Werkes allen empfohlen, die an einem tieferen Verständnis der Verstehensvoraussetzungen des Weltbildes und des Schöpfungsverständnisses bei Kindern und Jugendlichen und an einer intensiveren Kommunikation darüber mit ihnen interessiert sind.