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Ausgabe:

September/2004

Spalte:

978–980

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Axel

Titel/Untertitel:

Natur und Geheimnis. Kritik des Naturalismus durch moderne Physik und scotische Metaphysik.

Verlag:

Freiburg-München: Alber 2003. 431 S. 8 = Symposion, 119. Kart. Euro 9,00. ISBN 3-495-48078-1.

Rezensent:

Hans-Dieter Mutschler

Philosophische Untersuchungen lassen sich auf zwei Arten durchführen: Entweder man stellt eine historisch gewachsene Philosophie immanent dar, dann wird man die Systematik vernachlässigen, oder man stellt das Systematische in den Mittelpunkt, dann wird man selektiv und etwas gewaltsam mit den alten Texten umgehen, weil Probleme, die vergangene Philosophien zu lösen hatten, niemals die sein können, die heute anstehen.

In seinem Buch über "Natur und Geheimnis" versucht Axel Schmidt zugleich beides, eine getreue Auslegung scotischer Metaphysik, einen kühnen Brückenschlag zur modernen Physik und in eins damit eine Kritik des zeitgenössischen Naturalismus. Ob diese Zielvorstellungen zugleich erfüllbar sind?

Der historische Teil über Duns Scotus stellt metaphysische Positionen dieses Autors im Kontrast zu denen des Thomas von Aquin dar. Sch. legt eine Scotusinterpretation vor, die den landläufigen stracks zuwiderläuft. Gewöhnlich wirft man Scotus Essentialismus vor, weil bei ihm das Endliche nicht vom Seinsakt her gedacht wird wie bei Thomas, sondern vom Wesen her. Sch. will zeigen, dass Scotus die Anliegen von Thomas weitaus konsequenter zur Geltung bringt als dieser selbst.

Gemäß dem Haupttitel des Werkes "Natur und Geheimnis", geht es Sch. ganz generell darum, das Verhältnis des Begriffs zur Wirklichkeit zu untersuchen. Der Begriff hat, so Sch., die beständige Tendenz, das Wirkliche im Begriffenen aufgehen zu lassen (eine Position, die er "Essentialismus" nennt), indem er die Zeit still stellt und das Individuelle und Konkrete überspringt. Demgegenüber müsse der Geheimnischarakter des Realen gewahrt bleiben, wie er sich in Individualität, Personalität, im Einzelnen, Konkreten und Geschichtlichen ausdrücke, ohne dass man deshalb das Begreifen nur einfach außer Kraft setze, wie das die "Holisten" tun. (Sch. definiert auch den Begriff des "Holismus" etwas ungewöhnlich. Danach ist ein Holist ein solcher, der das Scheitern des Begriffes vor dem Ganzen vor Augen hat und der deshalb zum Nominalismus, Konstruktivismus oder Instrumentalismus neigt.)

In ausführlichen Textanalysen versucht Sch. zu zeigen, wie Thomas nur halbherzig aus dem Naturalismus der islamischen Aristoteliker Avicenna und Averroes herauskommt. Durch die Präponderanz des Allgemeinen vor dem Singulären oder des Essentiellen vor dem Existenziellen hatten diese Autoren die christliche festzuhaltende Individualität und Freiheit der Person verfehlt, während Thomas zur Rettung des Individuellen nur das Materieprinzip anbieten konnte, das dafür zu unbestimmt ist. Bei Scotus ist hingegen die individuelle Differenz vollkommener als die spezifische, denn sie ist hier keine Funktion der Materie wie bei Thomas als ein defizienter Seinsmodus, sondern ein transzendentales Seinsprinzip positiver Art.

Die scotische Metaphysik soll nun nach Sch. derart Zeit übergreifend sein, dass sie nicht nur einen geeigneten Rahmen zur Interpretation der modernen Physik liefert, sondern in eins damit eine Widerlegung des zeitgenössischen Naturalismus. Nach Sch. gilt: "Die Wirklichkeit ist Natur, sofern sie durch begriffliche Differenzen gedacht werden kann, sie ist Geheimnis, sofern sie existenzielle oder außerwesentliche Differenzen trägt." (46) Diese Bestimmung ist sinnvoll in Bezug auf das Verhältnis zwischen Natur und Übernatur, für das moderne Naturalismusproblem ist sie jedoch denkbar ungeeignet. Nach ihr wären große Teile des Bereiches der Kultur, Geschichte usw. Natur, die man nach dem modernen Naturalismus gerade nicht dazu rechnet.

Sch. stellt sich auf den Standpunkt einer traditionellen Substanzontologie und einer damit verbundenen Abbildtheorie der Erkenntnis. Von hier aus versucht er dann seinen Brückenschlag zur modernen Physik, insbesondere zur Quantentheorie. Doch warum sollte die moderne Physik das innere Wesen der Dinge erforschen und warum sollte ihr Thema die Substanz in einem traditionellen Sinne sein, wo wir spätestens seit Cassirer wissen, dass die moderne Physik gerade nicht substantialistisch denkt und wo doch die katholische Neuscholastik nicht zuletzt an diesem Problem gescheitert ist?

Auf S. 47 erwähnt Sch. beiläufig die Arbeiten von Kropac (1999) und Benk (2000) zum Verhältnis von Physik und Theologie und schiebt sie als nicht bedeutend zur Seite. Man müsse erst einmal "Prolegomena" zu diesem Thema schreiben. Im deutschen Sprachraum sind allerdings außer diesen beiden sehr gute Arbeiten zum Spannungsfeld Physik-Theologie erschienen, die Sch. ignoriert, wie er auch die bedeutenden Veröffentlichungen im angelsächsischen Bereich ignoriert (Peacocke, Polkinghorne, Clayton usw.). Sch. nimmt all dies nicht zur Kenntnis, weil er sich ausschließlich auf die umstrittene Physikdeutung von Carl Friedrich von Weizsäcker stützt, die außer von wenigen Schülern (Görnitz, Drieschner) von praktisch keinem Wissenschaftstheoretiker oder Physiker heute noch gehalten wird.

Sch. sucht nun seine scotische Metaphysik in der "essentialistischen" Relativitätstheorie, wo die Raumzeit nur in "kontingenter, individueller" Metrik "existiere" (81). Individuelles ist aber niemals Objekt einer physikalischen Theorie. Sie behandelt es immer nur als Fall eines Allgemeinen. Eigentlich "existentiell" gehe es erst in der "holistischen" Quantentheorie zu, wo es eine Offenheit der Zukunft gebe wie bei Geschichtsprozessen. In Wahrheit gilt jedoch nach dieser Theorie der Determinismus für mesokosmische Objekte wie den Menschen und die nichtdeterminierten Einzelereignisse sind uns kognitiv unzugänglich, während Geschichtsereignisse gerade als solche von Bedeutung sind. Hier rächt sich, dass Sch. mit Weizsäcker den Erklärens-Verstehens-Gegensatz nicht akzeptiert.

Die Theologie müsse "die lebendige Anschauung" (384), die die Physik von ihren Objekten habe, in eins mit Gottes Schöpferwirken im Sinnlichen denken. Doch die Quantentheorie arbeitet oft in einem unendlich-dimensionalen, komplexwertigen Hilbertraum und stellt ihre Experimente in unterirdischen Beschleunigeranlagen dar, die bloße Messwerte an die Computer übermitteln. Wenn es irgendwo keine "lebendige Anschauung" gibt, dann in der Quantentheorie. Ähnlich schief sind auch die meisten Bezüge Sch.s auf die Analytische Philosophie. So hält er Quine für einen Phänomenologen (166) oder reklamiert Putnam für sich (345), der gerade keine Abbildtheorie der Erkenntnis vertritt.

Scotus liefert vielleicht doch keinen Schlüssel für Probleme, die er noch nicht haben konnte. Als rein historische würde man diese Arbeit aber durchaus schätzen können.