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Ausgabe:

September/2004

Spalte:

976–978

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rosenzweig, Franz

Titel/Untertitel:

Die "Gritli"-Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy.

Verlag:

Hrsg. von I. Rühle u. R. Mayer. Mit einem Vorwort von R. Rosenzweig. Tübingen: Bilam 2002. XIV, 860 S. gr.8. Kart. Euro 30,00. ISBN 3-933373-04-2.

Rezensent:

Hans-Christoph Askani

Zu den vier Bänden der im Martinus Nijhoff Verlag herausgegebenen "Gesammelten Schriften" Rosenzweigs: Bd. 1,1 und 1,2: Briefe und Tagebücher (in starker Erweiterung der Ausgabe von 1935), Bd. 2: "Der Stern der Erlösung", Bd. 3: "Zweistromland" (erweiterte Ausgabe der "Kleineren Schriften" von 1937), Bd. 4,1: Übersetzungen von Jehuda Halevi und Bd. 4,2: "Arbeitspapiere zur Verdeutschung der Schrift" kommt nun - etwas außer der Reihe und auch nicht in die Gesamtausgabe aufgenommen - ein weiterer Band mit den Briefen, die Rosenzweig von 1917 bis vorwiegend 1922 an die Frau seines Freundes (Eugen Rosenstock), Margrit Rosenstock-Huessy, geschrieben hat. Mit ihr verband ihn seit Februar 1918 eine Liebesbeziehung, die sich immer so verstand, dass sie den Freund nicht aus-, sondern einschloss: "Empfindet er [sc. E.R.] nicht das ganz Besondere zwischen mir ihm dir, empfindet er bloss das Natürliche, bloss das was man in so einem Fall empfindet- dann sind wir nicht über Paganinis Geige gespannt, sondern über irgend eine [...]." (Brief vom 19.3.1918, S. 64, vgl. z. B. S. 55.)

Nahezu täglich - und oft mehrmals täglich - gingen Briefe hin und her. Die von Margrit Rosenstock-Huessy ("Gritli") gibt es nicht mehr, die von F. Rosenzweig wurden von E. Rosenstock aufbewahrt - und nun (dank eines langjährigen Einsatzes der beiden Herausgeber) veröffentlicht. Da die Briefe einen zum größten Teil höchst persönlichen Charakter haben, kann man sich über den Sinn und das Recht dieser Veröffentlichung streiten. Man hat ihn in einem Doppelten gesucht: a) in der Bedeutung für R.s Biographie und b) darin, dass in diesen Briefen die geradezu eruptive Entstehung des "Sterns der Erlösung" begleitet wird von einem Kommentar, den der Verfasser quasi täglich selbst gibt und der sich an die Person richtet, der er (sowohl der Autor als auch das entstehende Werk) ein Ausmaß an Konzentration, Begeisterung, Weite, Großzügigkeit verdankt, wie es in einem rein monologischen Schreiben nicht möglich wäre. Man könnte zu diesen zwei Aspekten einen dritten hinzufügen, den zeitgeschichtlichen: In der Korrespondenz spiegelt sich die Endphase des Ersten Weltkriegs, die Nachkriegszeit, die Situation des deutschen Judentums jener Zeit; es fällt ein - oft eigenwilliger - Blick auf wichtige Gestalten der Politik, der Philosophie- und Theologiegeschichte etc.

Der wahre Sinn und die wahre Rechtfertigung der Veröffentlichung der Briefe liegt aber schlicht in ihnen selbst. Lévinas hat einmal das Versäumnis angemahnt, dass R.s Briefe nicht ins Französische übersetzt seien. Dies bezog sich nicht auf die nun veröffentlichten zwischen den beiden Rosenstocks und R., sondern auf die schon vorher publizierten. - Wer die Briefausgabe von 1935 zur Hand nimmt, die handlicher, persönlicher, konzentrierter ist als die spätere, auf Vollständigkeit ausgerichtete, wird schlichtweg beschenkt. Beschenkt von einem Gedankenreichtum, der jeden Moment übersprudelt, der das Gegenüber braucht, um sein Wort zu finden, der es aber dann trifft in unvergleichlichem Ton. Philosophisch beschenkt, theologisch beschenkt, menschlich beschenkt. Das Besondere der Briefe R.s liegt darin, dass diese Bereiche bis ins Innigste miteinander verquickt sind.

Und so beschenkt wird der Leser auch von den so genannten "Gritli"-Briefen. Sie "sollten zusammen mit den bereits vorliegenden Briefen und Tagebüchern aus derselben Zeit gelesen werden", schreibt R.s Sohn im Vorwort (II). In diesen Zusammenhang gehören sie in der Tat, nicht weniger als zu einer bestimmten Periode oder zur Entstehung eines bestimmten Werkes. R., der eine nahezu unerschöpfliche Energie zu besitzen schien, der den "Stern der Erlösung" - an der Balkanfront konzipiert - in wenigen Monaten niederschrieb, der dann 1922 an einer amyotrophen Lateralsklerose erkrankte, die ihn zunächst, wie es schien, mit dem unmittelbar bevorstehenden Tod, schließlich viel banaler mit dem Nachlassen der Muskelkraft und mit einem unendlichen Aufwand für die alltäglichsten Verrichtungen konfrontierte, R. hat dieser Zeit, die mehr als sieben Jahre dauerte, einen Teil der Jehuda Halevi-Übersetzungen, die mit M. Buber in Angriff genommene "Verdeutschung der Schrift", verschiedene Aufsätze und eine ungeheuer lebendige Korrespondenz abgewonnen.

Margrit Rosenstock-Huessy ist ihm in dieser Periode der Krankheit nicht mehr gefolgt. Haben die Briefe von 1917 bis 1921 mehr als 700 Seiten gefüllt, so die seit 1922 nicht einmal 30. (Davon nicht wenige an E. Rosenstock und nicht wenige von R.s Frau Edith verfasst.) R. spricht von diesem Einbruch als von der "Wirklichkeit dieses Unglaublichsten" (am 12.2.1924 an E. Rosenstock, 802). Und wenige Tage später an den selben Adressaten: "Die Liebe ist kein Wagen wie die Freundschaft, wo einer herausspringen kann und es bleibt immer noch der Wagen übrig [...]. Nun habe ich das höchste Wort des Lebens auf einen Wechsel geschrieben, die Firma ist bankerott, ich kann ihn nicht einlösen." (803)

Solange der Austausch noch währte, berührte er alle großen Fragen, die R. beschäftigten: das Verhältnis von Judentum und Christentum, R.s eigenes Judesein, das Verhältnis von Heidentum und Monotheismus, Zeit und Ewigkeit, die Sünde, die Demut, die Liebe, die Sprache, die Scham, das Gebet, den Tod, das Leben ... Es hat keinen Sinn, einzelne Seiten anzugeben, man muss darauf stoßen, wie es Briefen entspricht, die keine Abhandlungen sind.

"Hör, das Merkwürdigste, was mir geschehen ist: als ich die Nachricht [sc. vom Tod des Vaters] bekam, überfiel mich eine Schwäche wie noch nie im Leben und wie ich sie auch nie wenn ich mir dies Ereignis je vorstellte, für möglich gehalten hätte; ich lag wie ein abgerissener Zweig am Boden; ich hatte nie gewusst, wie sehr ich bloss Zweig gewesen war. Dann aber spürte ich plötzlich, dass ich nun selbst im Boden steckte, Wurzel geschlagen hatte, Stamm geworden war. Bisher hatte ich doch nur durch meinen Vater mit der alten Erde meines Volkes zusammengehangen. Jetzt stand ich plötzlich selber darin, war selber das lebende Glied der langen Kette der Geschlechter, und Abraham, Isaak und Jakob unmittelbar meine Väter." (Brief vom 5.4.1918, S. 67)