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Ausgabe:

September/2004

Spalte:

974–976

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Richert, Friedemann

Titel/Untertitel:

Der endlose Weg der Utopie. Eine kritische Untersuchung zur Geschichte, Konzeption und Zukunftsperspektive utopischen Denkens.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001. 621 S. gr.8 = Edition Universität. Kart. Euro 49,90. ISBN 3-534-15640-4.

Rezensent:

Ulf Liedke

"Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick", schrieb Oscar Wilde in seinen "Lehren und Sätzen zum Gebrauch für die Jugend" (17). Angesichts der Krise, in die das utopische Denken mittlerweile geraten ist, scheint es sich heute umgekehrt zu verhalten: Weltkarten, die das Land Utopia verzeichnen, werden kaum noch eines Blicks gewürdigt. Friedemann Richert geht in seiner Dissertation (Neuendettelsau; 2000) von diesem Plausibilitätsverlust utopischen Denkens aus und unternimmt den Versuch, die zahlreichen Landkarten und Wegbeschreibungen zum Land Utopia zu sichten, kritisch zu reflektieren und theologisch zu hinterfragen. R. führt seine Leser deshalb zunächst auf die Reise durch die Utopiegeschichte selbst und erläutert die utopischen Konzeptionen von der Antike bis zum ausgehenden 19. Jh. (Kap. 2.1-2.6). Dabei orientiert sich R. an einem differenzierten Kriterienkatalog: Er prüft den Charakter der jeweiligen Sozialkritik, untersucht ihr politisch-utopisches Ideal, fragt nach den angestrebten sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen, den anthropologischen Grundlagen, dem intendierten Geschlechterverhältnis, der Rolle von Wissenschaft und Technik sowie dem Geltungsanspruch der jeweiligen Modelle.

An den Entwürfen von Platon über Morus, Campanella, Bacon bis zum Ende des 19. Jh.s. arbeitet R. fünf Charakteristika heraus: 1. die Utopien kontrastieren die jeweiligen sozialen und politischen Verhältnisse (Sozialkritik); 2. in ihnen wird das Kollektiv dem Einzelnen kategorisch vorgeordnet (Antiindividualismus); 3. die Frage der Machtausübung wird entweder durch ein autoritär-etatistisches oder ein anarchistisches Modell beantwortet; 4. das Alltagsleben wird unter dem "Topos der Konfliktvermeidung" geregelt; 5. die Ökonomie und Arbeitsgestaltung werden "entweder zentral oder anarchistisch geregelt" (155).

Die Tradition des klassischen Utopismus kontrastiert R. anschließend mit dem antiutopischen Realismus der schwarzen Utopien (Kap. 2.7). In den Romanen Samjatins, Huxleys und Orwells erscheine der utopische Staat selbst als ein "System des Terrors" (143), in dem die Menschen entindividualisiert würden.

Im 3. Kapitel setzt sich R. mit den neueren philosophischen Utopieentwürfen von Ernst Bloch und Jürgen Habermas auseinander. Auch in ihnen erkennt er die problematischen Aspekte des utopischen Denkens wieder. Bei Bloch sind es die Topoi der (kommunistischen) Herrschaftslosigkeit, der sozialen Harmonie und des "neuen Menschen". "Weil Bloch ... auf ein einheitliches, sozial-harmonisches Gesellschaftsmodell zusteuert, das aufgrund seiner ... Zentrierung auf den Marxismus als enggeführt und autoritär bezeichnet werden kann, fällt Blochs Utopiekonzept unter das ... Verdikt, daß die autoritär-etatistische Linie der Utopietradition ihre Zukunft definitiv verspielt hat" (191). Ebenso ließen sich bei Jürgen Habermas die zentralen Merkmale der Utopien finden: im Konzept des Diskurses komme die "Vorordnung des Kollektivs gegenüber dem Individuum" (259) zum Tragen und die in ihm antizipierte ideale Sprechsituation komme "dem Topos der klassischen Utopietradition vom neuen Menschen gefährlich nahe" (258). Die Diskursregeln ihrerseits hätten elitären Charakter und die fortwährende Konsensorientierung sei "eine anthropologische Überforderung" (261).

Im Anschluss daran referiert R. in überproportionaler Vielfalt die neuere Kritik am utopischen Denken (Kap. 4) anhand der Einwände von Hans Jonas, Robert Spaemann, Jean-François Lyotard, Karl Popper und Joachim Fest. Obwohl R. der Utopiekritik vielfach wichtige Verdienste und eine hohe Plausibilität zuerkennt, kritisiert er andererseits, dass in einigen Entwürfen (Jonas, Popper) die menschliche Sündhaftigkeit abgeblendet werde und deshalb eine anthropologische Vereinseitigung bzw. Überforderung zu konstatieren sei (298.394 f.). Trotzdem wiegt für R. die Kritik an den utopischen Entwürfen schwerer als diese Entwürfe selbst. Drei Kardinalfehler lassen für ihn die utopischen Programme prinzipiell scheitern: Erstens das "Konstruktionsprinzip utopischen Denkens via autonomer Vernunft mit allgemeinem Geltungsanspruch" (565), weshalb die utopischen Konzepte prinzipiell zum Totalitarismus tendierten. Den zweiten Kardinalfehler erkennt R. in der Konzeption des "neuen Menschen" und den dritten darin, dass das utopische Denken "das Emergenzgeschehen beim Gestaltwerden von Gesellschaft entweder nicht wahrnimmt oder dieses gewaltsam überwinden will" (572).

Auf Grund dieser prinzipiellen Mängel sind utopische Entwürfe für R. grundsätzlich obsolet. Allerdings dürfe man daraus nicht ohne weiteres den Schluss ziehen, "daß nunmehr ein Leben ohne Utopie angesagt" (583) sei. Würden die Konstruktionsfehler beseitigt, so könne utopisches Denken durchaus die Funktion einer regulativen Idee erhalten (585). Dies ist aber für R. nur unter der Bedingung möglich, "utopisches Denken ... durch eine christlich konzipierte Vernunftkonzeption zu ergänzen oder zu ersetzen" (585). In einer Gegenüberstellung konfrontiert R. die utopische Konzeption des sich selbst erlösenden homo faber mit der eschatologischen Vorstellung, nach der die "Vollendung ... als allein von Gott ursächlich gewirkt gedacht" (489) und der Mensch "vom Selbsterlösungszwang befreit" (490) wird. Dem linearen Zeitverständnis der Utopie stellt er ein eschatologisch bestimmtes Zeitverständnis gegenüber, in dem die Zeitmodi "einen modalen Aspekt" gewinnen, "der die Offenheit der Zeit für Gottes Wirksamkeit über die Zeiten hinweg wahrt" (507). Die Imaginationen der utopischen Entwürfe korrigiert R. schließlich durch den eschatologischen Begriff des Reiches Gottes, der "in seiner inhaltlichen Offenheit der Unverfügbarkeit göttlichen Handelns zum Heil der Menschen entspricht" (524) und gerade deshalb den Aporien der Utopien überlegen ist.

Im Mittelpunkt der analytisch-christlichen Vernunftkonzeption steht für R. die christliche Trinitätslehre, in der Einheit und Differenz als vermittelbar gelten und die deshalb ein Modell für die "Offenheit und Unverfügbarkeit letztlich gelingender menschlicher und gesellschaftspolitischer Verhältnisse" (579) darstellt. Eine solche Konzeption überwindet nach R. die drei Kardinalfehler des utopischen Denkens. Sie korrigiert dessen Totalisierungseffekt ebenso wie die anthropologische Überlastung des homo faber. Stattdessen kommt in ihr der Mensch als entlastetes Wesen und "als versöhnter und befreiter cooperator dei ... zum Zuge" (580). Schließlich "wahrt diese christliche Vernunftkonzeption den Gedanken des Emergenzgeschehens beim Gestaltwerden von Gesellschaft, indem sie die Unverfügbarkeit der Vollendung von Gesellschaft anerkennt und allein von Gott erwartet. Auf der Basis solcher grundlegenden Korrekturen hat utopisches Denken nach R. eine bleibende Bedeutung: im Verzicht auf durchdeklinierte Gesellschaftskonzeptionen würde es innerhalb der Rahmenbedingungen des demokratischen Verfassungsstaates bewegliche Chiffren eines "besseren Lebens" formulieren, deren Ziel in dem besteht, "was für alle Beteiligten das je Zuträgliche ist ...: das Achten und Würdigen des eigenen Personenseins" (587). Ausdrücklich macht R. diese positive Funktion von der Ersetzung der autonomen durch eine christlich motivierte Vernunftkonzeption abhängig. "Utopische Perspektiven können ... dann sinnvoll gestaltet werden, wenn sie einer metaphysisch-referentiellen Vernunftkonzeption verpflichtet sind" (589).

R.s Studie gibt einen breiten Überblick über die Geschichte des utopischen Denkens, der durch eine gute Systematisierung und eine klare sachliche Struktur überzeugt. Allerdings kommt R. in seiner Kritik gelegentlich zu Pauschalurteilen, wenn er etwa dem utopischen Denken prinzipiell den Totalitarismus- und den Antiindividualismusvorwurf macht. Diese Kritikpunkte dürften beispielsweise an Jürgen Habermas' Kommunikationstheorie vorbeigehen. Darüber hinaus übergeht R. wichtige Beiträge aus der neueren Diskussion. So dürfte sich beispielsweise an Theodor W. Adorno zeigen lassen, wie die Philosophie zu einer kritischen Selbstreflexion der totalitären Elemente der "Dialektik der Aufklärung" kommt und für eine nichttotalitäre Utopie eintritt, in der man ohne Angst anders sein kann. Darüber hinaus begibt sich R. selbst in die Gefahr eines nicht pluralismusfähigen Gesellschaftsmodells, wenn er einzig in der Ersetzung des autonomen durch ein metaphysisch-referentielles, christlich motiviertes Vernunftkonzept demokratisches und utopisches Denken gewährleistet sieht (vgl. 585.589.593). Dieses Ersetzungspostulat ist aus der Perspektive evangelischer Sozialethik (z. B. der Zwei-Reiche-Lehre) problematisch. Schließlich aber bleibt auch R.s ästhetische Transformation der Uto- pien zu Bildern und Chiffren eines "besseren Lebens", die nicht politisch durchdekliniert werden dürfen (u. a. 589.590. 592), blass. Wenn man auf der Basis des demokratischen Verfassungsstaates utopische Perspektiven entwickelt, braucht es, auch wenn man "das Verbot des Auspinselns der Utopie" (Adorno) beachtet, prozedurale und inhaltliche Konkretionen für die politische Umsetzung eines "besseren Lebens".