Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2004

Spalte:

972 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Deuser, Hermann, u. Michael Moxter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Rationalität der Religion und Kritik der Kultur: Hermann Cohen und Ernst Cassirer.

Verlag:

Würzburg: Echter 2002. 214 S. gr.8 = Religion in der Moderne, 9. Kart. Euro 19,90. ISBN 3-429-02500-1.

Rezensent:

Cornelia Richter

Der Sammelband enthält die Publikation der ersten internationalen Konferenz des Frankfurter Instituts für Religionsphilosophische Forschung von 1999. Ihr Ziel war die Sichtbarmachung "jüdische[r] Philosophie in Deutschland in ihren religionsphilosophischen und kulturtheoretischen Implikationen und in durchaus neuen Verknüpfungen und Wiederentdeckungen" (7). Dies ist durch die interreligiöse und internationale Zusammensetzung sowie die Auswahl der Themenschwerpunkte in beachtlich hohem Maße gelungen.

Die fünf ersten Studien sind Cohen gewidmet und kreisen jeweils um das Verhältnis von philosophischer Theoriebildung und religiösem Vollzug und um deren wechselseitiges Bedingungsverhältnis. Ist es doch für und mit Cohen nachzuweisen, dass gerade eine Religionsphilosophie nur im Gespräch mit den konkreten historischen Religionen entwickelt werden kann.Daraus erwachse aber das Problem, so Helmut Holzhey (21-38), dass die Religion aus methodischen Gründen zum Problem für die Religionsphilosophie werde, da sie nicht unabhängig von ihrer geschichtlichen und damit auch immer unvernünftigen Gestalt zu denken sei. Die Aufgabe der Philosophie bestehe darin, die kulturelle Faktizität der Religion theoretisch angemessen zu berücksichtigen und zugleich eine kritische Wächterfunktion gegenüber religiösen Tendenzen einzunehmen. Die aufgeklärte Religion ermögliche erst die Zuversicht in das Gelingen der Kultur. Damit ist die Thematik aller Beiträge zu Cohen umrissen. So stellt Hans-Ludwig Ollig (39-54) das Verhältnis von religiösem Vollzug und dessen spezifischer Logik (54) ins Zentrum und versucht, dies mit "Überlegungen der analytischen Philosophie für den gegenwärtigen Religionsdiskurs in Deutschland fruchtbar" (39) zu machen, während Michael Zank (55- 68) an der Abgrenzung von Religion und Kultur und dem Religionsbegriff orientiert ist. Mit dem Ergebnis, dass die Philosophie nach Cohen zwar die Probleme von Denken und Handeln finde und thematisiere, sie aber "nicht bis ins Konkrete der partikularen und individuellen Erfahrung hin lösen" (64) könne. Sodann unternimmt Ze'ev Levy (69-83) eine Verhältnisbestimmung von Spinoza und Cohen unter der These, dass Cohens Abgrenzung von Spinoza gerade ihrer untergründigen Ähnlichkeit und, neben den Differenzen in Pantheismus und Sittlichkeit, der Ablehnung von Spinozas Zionismus verdankt sei. Micha Brumlik (84-94) schließlich widmet sich der Intersubjektivitätsphilosophie, die Cohen weit radikaler vorgetragen habe als etwa seine Schüler Rosenzweig und Buber (92). Auch Brumlik sieht die besondere Leistung der Religion bei Cohen darin, ethisches Handeln "Wirklichkeit werden zu lassen" (89).

Während bei Cohen also der Gedanke dominiert, dass die Religion "dem ethischen Denken jene situative Angemessenheit und motivationale Kraft [verleihe, CR], die es aus dem Bereich des Gedankens in den Bereich des Handelns treten lasse" (93), ist Cassirers Religionstheorie von einem ganz anderen Interesse getragen. Zwar erweist sich die Verzahnung von Vertrauen in die Faktizität der Kultur bei gleichzeitiger Ambivalenz der Religion als ein verbindendes Band zwischen Cohen und Cassirer. Aber Cassirer ist weitaus stärker an der Frage nach der Eigenständigkeit der Religion als eine kulturelle Sphäre neben anderen interessiert. Die weiteren fünf Beiträge des Bandes zu Cassirer werden von Oswald Schwemmer (95-118) daher eröffnet mit einer Nachzeichnung der "Gesamtkonzeption der Cassirerschen Philosophie" (95), weil sich die Besonderheit von Mythos und Religion nur aus diesem Gefüge erweisen könne. Er pointiert zutreffend die Bedeutung von Werkzeug, Technik und Kunst, wobei die erreichte Exklusivität der Poiesis nicht unproblematisch ist. Matthias Jung (119-124) hingegen begreift Cassirers Philosophie "als Entwurf einer prozessual-symbolisch-medialen Theorie menschlicher Erfahrung in ihrer irreduziblen Multiperspektivität" (119) und trägt damit eine anregende Analyse des Ineinanders von Lebenserfahrung, Werthaltung und Deutungsleistung vor. Thomas Stark (125-136) zeichnet erneut das Panoptikum der Cassirerschen Philosophie nach, konzentriert auf Poiesis und transzendentale Analytik. Mit Stark ist Cassirers Festhalten an der Religion für die Kultur zwar in einem konstitutiven Sinne zu lesen, daraus aber eine kulturkonstitutive "Perspektive auf das transzendente Absolute" (134) abzuleiten, ist ein Missverständnis. In diesem Sinne argumentiert auch Michael Bongardt (137-154), der Cassirer für den interreligiösen Dialog fruchtbar zu machen sucht, vorgeführt an der Frage nach der wechselseitigen Anerkennung der jeweiligen Bekenntnisse. Es sei gerade nicht eine zu verabsolutierende Instanz, die die Anerkennung erforderlich machen würde, sondern nur über die Kriterien "Formungsbewusstsein", "Objektivitätserweis" und "Anerkennung fremder Freiheit" (150) könne das Zutrauen in die Selbstoffenbarung Gottes formuliert werden (153). Heinz Paetzold (155-174) schließt die Reihe zu Cassirer ab mit einem Blick auf dessen Spätwerke An Essay on Man und The Myth of the State. In ihnen habe Cassirer nämlich die zwei Seiten der Medaille (155) der Kultur dargestellt: "An Essay on Man legt dar, daß die symbolischen Formen die Vehikel menschlicher Selbstbefreiung sind, [...] wohingegen The Myth of the State das Desaster der modernen Kultur" thematisiere (155).

Den Schluss des Bandes bilden zwei Beiträge zu Cohen und Cassirer. Eveline Goodman-Thau (175-191) entwirft eine textnahe Darstellung der beiden Positionen, deren argumentative Übergänge zuweilen assoziativen Charakter haben. Abgesehen von einer zu diskutierenden Orientierung Cassirers an Hegels Entwicklungsphilosophie, ist das Ergebnis jedoch schlicht nachvollziehbar: "Ernst Cassirers Weg vom Mythos zum Symbol als Kulturphilosophie der ästhetischen und ethischen Formen schöpft somit aus Hermann Cohens Religionsphilosophie und den Quellen des Judentums" (189). Prägnanter ist der Beitrag von Reinhard Margreiter (192-211), der Cohen und Cassirers Verhältnis zur Mystik untersucht und dies in den aktuellen Forschungsdiskurs um Mythos und Mythologie einstellt. Das Potential der Studie liegt sowohl in der ungewöhnlichen Perspektive auf Cohen und Cassirer als auch in der systematischen Profilierung der jeweiligen religionsphilosophischen Ansätze, da die Mystik in beiden Fällen als negative Folie, mindestens aber als ambivalente religiöse Gestalt fungiert, gegenüber der die Religion ausgezeichnet werden muss.

Für die aktuelle religionsphilosophische Forschung ist dieser Sammelband von hohem Wert, weil es bisher noch keine ähnlich konzentrierte Diskussion der religionsphilosophischen Symmetrien und Differenzen und der damit verbundenen Ambivalenzen für die Religion zwischen Cohen und Cassirer gegeben hat. Es ist allerdings schade, dass nur die beiden letzten Studien Cassirer und Cohen behandeln. Auch wenn manche der Beiträge bereits in ähnlicher Form an anderer Stelle vorgetragen wurden und ihre argumentative Dichte leider variiert, zeichnet sich der Band dennoch durch eine hohe konstruktiv-konzeptionelle Weise der Erarbeitung neuer religionsphilosophischer Perspektiven aus.