Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2004

Spalte:

968–971

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U.

Titel/Untertitel:

Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XVI, 578 S. 8. Kart. 39,00. ISBN 3-16-148100-3.

Rezensent:

Eberhard Herrmann

Ausgangspunkt dieser Religionsphilosophie von Ingolf U. Dalferth ist: "Wer sich über das menschliche Leben Gedanken macht, kann das Thema Religion nicht ausblenden". Im ersten Teil des Buches wird das Konzept einer auf lebenspraktische Orientierung angelegten Religionsphilosophie vorgestellt, und es wird gezeigt, was philosophisches Denken über Religion leisten kann und was nicht. Im zweiten Teil werden philosophische Theologien (rationale Theologie, philosophischer Theismus) problematisiert und die Schwierigkeiten subjektivitätstheoretischen Denkens dargelegt. Im dritten Teil schließlich entwickelt D. eine philosophische Hermeneutik, die von den konkreten pragmatischen Gebrauchskontexten des Ausdrucks Gott ausgeht und diesen als Indexwort für absolute Orientierung in den kontingenten Zusammenhängen menschlichen Lebens versteht. Zum Schluss werden Sinn und Grenzen der negativen Theologie aufgezeigt.

Das Buch enthält eine Vielzahl philosophischer Einsichten darüber, was man vernünftigerweise unter Religionsphilosophie verstehen kann und welche Konsequenzen philosophisches Nachdenken über Religion für das Gottesverständnis hat. D. dokumentiert, dass er sich auf dem weitläufigen Gebiet der Religionsphilosophie besser auskennt als die meisten anderen Religionsphilosophen. Ich bin mir jedoch nicht immer völlig darüber klar, welche Funktion einzelne Teilaspekte für die Ausarbeitung seiner eigenen Position haben. So werde ich zuerst einige kritische Nachfragen stellen und dann die philosophischen Gedankengänge des Buches hervorheben, die meiner Meinung nach besonders fruchtbar sind.

a) Philosophisches Denken zeichnet sich nach D. dadurch aus, dass es nicht in erster Linie das verändert, worüber nachgedacht wird, sondern die Menschen, die darüber nachdenken (56), d. h. Philosophie zielt auf Veränderung "der eigenen Sicht der Dinge bzw. der Erwartungen, die man ihnen gegenüber hegt" (57). Die Frage ist, wie sich Selbstveränderung durch philosophische Überlegungen auf religiöse Ansichten auswirkt. Wenn nur das philosophische Denken betroffen ist und sich an den religiösen Ansichten nichts ändert, weil diese ja etwas ganz anderes sind, dann hat Philosophie keine Relevanz für das tatsächlich gelebte Leben - ein Gedanke, den D. jedoch verwirft. Das jedoch wirft die Frage nach der Relevanz der Philosophie und ihrer Reichweite auf. Es ist mir nicht ganz deutlich geworden, ob nach D. letzten Endes die Religion entscheidend ist oder ob weder Philosophie noch Religion eine privilegierte Stellung einnehmen. Er weist darauf hin, dass wir Menschen verschieden sind und dass der Anlass und die Arten des Philosophierens deswegen auch verschieden sind (58 f.). Dies könnte bedeuten, dass das philosophische Denken über Religion individuell verschieden ist - je nachdem, ob man mit der Möglichkeit einer Veränderung seiner ursprünglichen religiösen Ansichten rechnet oder nicht. Eine Religionsphilosophie, die mit dieser Möglichkeit nicht rechnet, aber trotzdem den Anspruch erhebt, philosophisches Nachdenken über Religion zu sein, wäre dann weniger Philosophie, sondern eher eine Art philosophischer Theologie, die, wie D. an anderer Stelle zeigt, zu problematisieren ist.

b) Nach D. hat eine auf Orientierung angelegte Religionsphilosophie u. a. folgende kritische Aufgaben. Sie kritisiert Tendenzen in den Religionen, Bilder und Vorstellungen ontologisch realistisch auszudeuten. Sie überprüft kritisch, inwiefern philosophische Begriffe wie Rationalität, Wahrheit und Freiheit in Hinsicht auf gelebte Religion relevant sind. Sie übt Kritik an der Lebenswelt, indem sie daran erinnert, dass weder religiöse oder nichtreligiöse Selbstverständlichkeiten noch die Konstruktionen der Wissenschaften oder anderer kultureller Systeme als einziger Wirklichkeitshorizont verstanden werden können. Und sie ist eine Kritik der Wissenschaften "insofern sie im Gegenzug zu deren methodisch homogenisierenden Abstraktionen, Generalisierungen und Theoretisierungen auf der wirklichkeitserschließenden Kraft von Religion und der Unverzichtbarkeit des Gottesgedankens als kritischem Realitätsprinzip besteht" (114 f.). Die letztgenannte Art von Kritik ist problematisch, wenn sie darauf bezogen wird, wie an anderer Stelle wirklich definiert wird: "Wirklich nennen wir das, was seine Wahrheit nicht ausschließlich seinem Bezeichnetwerden verdankt; und ein Wirkliches ist jedes p, von dem gilt p ist wahr, weil die Bedingungen erfüllt sind, die erfüllt sein müssen, damit p wahr ist. Welche Bedingungen das sind, variiert mit der Art des zur Debatte stehenden Sachverhalts" (136). Nach D. bedeutet das Folgendes: "Zum einen können diese Bedingungen nur relativ zu einem Rahmen bzw. Horizont spezifiziert werden, der festlegt, von welchen Arten von Sachverhalten in den entsprechenden Propositionen die Rede ist." Zum andern entsteht dann aber das Problem, "ob die verschiedenen Beschreibungsrahmen und die von ihnen her spezifizierten Bedingungen der Wahrheit von Propositionen in einem einheitlichen Rahmen integriert und zusammengefasst werden können und müssen, wenn es möglich sein soll, nicht nur von (relativen) Wirklichkeiten, sondern von einer Wirklichkeit zu reden" (137). Einerseits gilt demnach die Wirklichkeit erschließende Kraft von Religion nur innerhalb eines religiösen Rahmens bzw. Horizontes. Von der Unverzichtbarkeit des Gottesgedankens zu reden, kann deshalb auch nur innerhalb eines religiösen Rahmens bzw. Horizontes gelten. Damit stellt sich die Frage, in welchem Sinne die Unverzichtbarkeit des Gottesgedankens noch zusätzlich generell gefordert werden könnte, um von einer Wirklichkeit reden zu können. Ich teile die Auffassung, dass es in diesem Zusammenhange fragwürdig ist, den Wissenschaften eine absolute Rolle zuzuschreiben. Ich sehe jedoch nicht ein, warum dazu der Gottesgedanke als unverzichtbar eingeführt werden muss. Der Gottesgedanke kann hier selbstverständlich als kritisches Gegengewicht fungieren. Ob er jedoch dazu nötig ist, ist eine andere Frage.

c) D. zeigt, dass Aussagen über Gottes Notwendigkeit keine ontologischen Feststellungen über Gottes Wirklichkeit sind, sondern grammatische Auskünfte über den Gottesgedanken. "Damit ist nur gesagt, dass es unmöglich ist, Gott zu denken und zu bestreiten, dass Gott ist, weil man dann nicht Gott gedacht hätte. Es folgt aber nicht, dass es unmöglich ist, dass Gott nicht ist" (148 f.). Wie aber ist dies z. B. mit folgender Aussage D.s über Gott zu vereinen: "Zum Wirklichen, das wir sind, mit dem wir leben und mit dem wir umgehen, gehört nicht nur notwendig und wesentlich der Welt-Horizont, in dem es immer auch anders sein könnte, sondern notwendig und wesentlich auch die Gottes-Beziehung, ohne die es weder wäre, noch das wäre, was es ist, noch irgendetwas anderes sein oder werden könnte" (154)? Eine solche Behauptung scheint nicht nur eine grammatische Auskunft zu sein. Die Frage ist, welches die Gründe sind, die auch den Nichtgläubigen davon überzeugen könnten, dass zum Wirklichen "notwendig und wesentlich auch die Gottes-Beziehung" gehört. Dies gilt für den Gläubigen. Wie es auch für den Nichtgläubigen gelten soll, ist eine andere Frage. Dass es gelten soll, kann nicht nur vorausgesetzt werden.

Aus Platzgründen begnüge ich mich mit diesen kritischen Anmerkungen und gehe dazu über, einige Gedanken hervorzuheben, die besonders fruchtbar für das Unternehmen Religionsphilosophie sind.

d) D. ist darum bemüht, "nach der lebenspraktischen Relevanz religionsphilosophischen Denkens und seinem Beitrag zum verantwortlichen Umgang mit Problemen religiöser Lebensorientierung zu fragen" (2 f.). Folgerichtig sieht er die Pointe von Religion nicht darin, das Unkontrollierbare kontrollierbar zu machen, sondern darin, dass Menschen in Religionen versuchen, "etwas symbolisch zu bearbeiten, von dem sie wissen oder wissen können, dass sie es aufgrund seiner Unkontrollierbarkeit nicht bearbeiten und kontrollieren können, zugleich aber auch, dass sie angesichts der Unvermeidbarkeit von Unverfügbarem nicht leben können, ohne den Versuch zu machen, es zu bearbeiten" (84). Sieht man Religion auf diese Weise, verirrt man sich weder in philosophisch problematische metaphysische Systeme noch in Wesensvorstellungen von Religion, die immer die eine oder andere faktische Religion ausschließen, sondern bezieht sich auf tatsächlich gelebte Religion.

e) Dies hat Konsequenzen für die Frage der Rationalität. D. führt hier die wichtige Unterscheidung zwischen persönlicher und öffentlicher Rechtfertigung ein. Im Blick auf eigene persönliche Überzeugungen gerechtfertigt zu sein, diese Überzeugungen zu vertreten, weil nichts ernsthaft gegen sie spricht, ist nicht hinreichend, wenn andere von den Folgen dieser Überzeugungen betroffen sind. Es bedarf dann einer öffentlichen Begründung, die auch andere einsehen können. Da dies nicht immer gelingt, kommt es des öfteren zu Konflikten zwischen persönlicher und öffentlicher Rechtfertigung. "Um diese rational zu behandeln, bedarf es ... der von persönlicher wie öffentlicher Rechtfertigung unterschiedenen Form der politischen Rationalität, deren Grundprinzip ist, auf die Durchsetzung persönlich gerechtfertigter eigener Überzeugungen zu verzichten, solange diese sich nicht auch öffentlich für andere rechtfertigen lassen" (234). Um in demokratischen Gesellschaften produktiv mit religiöser Verschiedenheit und Vielfalt umgehen zu können, ist deswegen ein Doppeltes nötig. Einerseits ist das öffentlich zugänglich und diskutierbar zu machen, was die Eigenart religiöser Überzeugungen und Traditionen konstituiert. Andererseits sind Regeln zur Bearbeitung dadurch entstandener Probleme zu entwerfen, ohne zu erwarten, dass eine gemeinsame Sicht erreicht wird (252). Letzten Endes geht es ja darum, was eine Person als für sie hinreichenden Grund ansieht, sich für oder gegen eine religiöse oder nichtreligiöse Lebensform zu entscheiden (293), was jedoch, umgekehrt gesehen, nicht ausschließt, dass man sich um Regeln für die Bearbeitung von Problemen der Vielfalt bemüht.

f) Der Ausdruck Gott tritt hierbei nicht isoliert auf, sondern immer im Kontext einer bestimmten religiösen Sprachpraxis. Gott "markiert den Bezugspunkt, in dessen Horizont und Perspektive alles übrige wahrgenommen, betrachtet und verstanden wird" (467). Gott ist ein Indexwort, das es erlaubt, sich auf eine bestimmte Weise der Kontingenz der Welt gegenüber zu verhalten. Welches "Verhältnis dazu angemessen ist, wird durch den Gebrauch des Indikators Gott in der entsprechenden religiösen Praxis signalisiert" (469). In Bezug auf das Leben des Gläubigen bedeutet dies, dass, wer den Indikator Gott gebraucht, dadurch nicht nur die Welt als kontingent betrachtet, sondern gerade die Kontingenzen des Lebens und der Welt "als den Ort der Gegenwart Gottes" bezeichnet (269). Wie genau der Indikator Gott im Leben des Gläubigen gebraucht wird, kann dann sowohl religionsintern als auch religionsextern kritisch überprüft werden.

Trotz meiner einleitenden kritischen Bemerkungen möchte ich betonen, dass D.s Buch ein höchst anregender Beitrag zur Religionsphilosophie ist. Es sollte nicht nur von Religionsphilosophen gelesen werden, sondern von jedem, der an dem Phänomen von Religion im menschlichen Leben und den philosophischen Fragen, die dieses Phänomen aufwirft, interessiert ist. Ich bewundere D.s konsequente Energie, mit der er solche Fragen identifiziert und diskutiert. Er zeigt einen Weg für die Religionsphilosophie auf, der weder einen bestimmten religiösen Glauben voraussetzt noch verlangt, dass man seinen religiösen Glauben aufgibt, der jedoch zeigt, wie man sich auch Religion gegenüber kritisch verhalten kann. In demokratischen Gesellschaften, die von weltanschaulicher Vielfalt geprägt sind, ist dies ein Aspekt von außerordentlicher Wichtigkeit.