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Ausgabe:

September/2004

Spalte:

966–968

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Surall, Frank

Titel/Untertitel:

Juden und Christen - Toleranz in neuer Perspektive. Der Denkweg Franz Rosenzweigs in seinen Bezügen zu Lessing, Harnack, Baeck und Rosenstock-Huessy.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2003. 392 S. 8. Kart. Euro 39,95. ISBN 3-579-05396-5.

Rezensent:

Micha Brumlik

Die systematische Theologie, zumal die protestantische, hat sich bisher von wenigen Ausnahmen wie Friedrich Wilhelm Marquardt abgesehen kaum darum bemüht, die Erneuerung des jüdisch-christlichen Verhältnisses nachzuvollziehen. Bedeutenden Anstrengungen in der Moraltheologie, aber vor allem in der neutestamentlichen Exegese stand systematisch nur wenig gegenüber, weshalb es allemal so scheinen konnte, als ob eine Neubegründung des Verhältnisses von Judentum und Christentum vor allem eine Angelegenheit des guten Willens, der religiösen Moral oder vielleicht historischer Forschung sei - Angelegenheiten, die die Kernaussagen der christlichen Verkündigung indes unberührt lassen können.

Mit der soeben erschienenen Arbeit von Frank Surall liegt nun ein ernst zu nehmender Versuch eines jüngeren protestantischen Theologen in dieser Richtung vor. S. knüpft sachbezogen an kontrovers- und dialogtheologische Versuche der Jahrhundertwende sowie des frühen 20. Jh.s an und geht - ebenso sinnvoll - von Lessings in "Nathan der Weise" entfaltetem Toleranzmodell aus. Unter Bezug auf den Religionswissenschaftler Gustav Mensching und den politischen Philosophen Rainer Forst unterscheidet S. zunächst zwischen verschiedenen Toleranzmodellen. Bedeutsam für seine Zwecke ist dabei die Unterscheidung zwischen einem Modell "reduktiver" Toleranz, die sich bei Anerkenntnis eines kleinsten gemeinsamen Nenners hinsichtlich gewisser Glaubensüberzeugungen einer weitergehenden Kontroverse eher enthält, und einer "komplementären" Toleranz, die in Anerkennung unüberbrückbarer Unterschiede im jeweils anderen eine für sich selbst unabdingbar notwendige Gegenposition wahrnimmt.

S. entfaltet seine eigene Positionsbestimmung zunächst historisch, indem er ausführlich und präzise die nicht wirklich stattgefunden habende Kontroverse zwischen Adolf von Harnack und Leo Baeck über das "Wesen des Christentums" bzw. das "Wesen des Judentums" rekonstruiert. Hier gelingt ihm der überzeugende Nachweis, dass beide Autoren im Grunde ein ähnliches Konzept eines moralisch-universalistischen Glaubens im Sinne tätiger Nächstenliebe vertreten haben. Indem Harnack sich weniger für die Verkündigung des Glaubens an Jesus, sondern eher für die Verkündigung des Glaubens Jesu eingesetzt hat, steht er systematisch dem von Baeck vertretenen Geist des Judentums näher, als er selbst meinte - entzieht sich den Konsequenzen dieser Einsicht freilich dadurch, dass er Jesus aus dem Judentum herausreißt und das Judentum der Zeit des Zweiten Tempels im Wesentlichen als eine harte, sture Gesetzesreligion darstellt. Das weitgehend sprachlose Nebeneinander Harnacks und Baecks, ein Nebeneinander, das wesentlich dem Unwillen Harnacks, Baeck zu entgegnen, zuzurechnen ist, wird erst einige Zeit später durch eine Reihe jüngerer, dem protestantischen Milieu zugehöriger "Religionsintellektueller" (Friedrich Wilhelm Graf) durchbrochen. S. stellt die bisher noch zu wenig gewürdigte Korrespondenz zwischen Franz Rosenzweig und seinem entschieden christlichen, allem Relativismus in Glaubensdingen abholden Briefpartner Eugen Rosenstock-Huessy, der selbst in jungen Jahren zum Protestantismus konvertiert war, in den Mittelpunkt seiner Abhandlung. Der lange vor dem Nationalsozialismus geführte Briefwechsel eröffnet verblüffende Einsichten in eine kontroverstheologische Debatte, in der sich die Partner nicht scheuen, Positionen zu äußern, die heute allemal als "antijudaistisch" gelten würden: sei es, dass sich Rosenzweig als Jude beinahe stolz dazu bekennt, Jesus auch ein weiteres Mal kreuzigen zu wollen, sei es, dass Rosenstock den Juden vorhält, Jesus immer wieder zu kreuzigen und damit auf Erden "Luzifer abzubilden". Andererseits hat Rosenzweig - wie S. treffend herausarbeitet - die grundsätzliche soteriologische Bedeutung Jesu anerkannt, bis hin zu der Paradoxie, dass er als Jude die Messianität Jesu ohne jede Einschränkung abgelehnt habe, "wenngleich er den christlichen Weg mit Vater und Sohn anerkannte".

Diese - Rosenzweig zugute gehaltene - Einstellung ist logisch nicht haltbar, S. versucht sie daher mit Begrifflichkeiten der Quantenphysik, die eine Komplementarität auf den ersten Blick semantisch unverträglicher Qualitäten kennt, zu retten. Gleichwohl seien Zweifel angemeldet, ob diese - einem doch sehr speziellen Gebiet der Naturwissenschaft entliehene - Gedankenfigur den offenen Widerspruch lösen kann. Immerhin kann die Theologie auf eine lange Tradition gern angenommener Paradoxe verweisen. S. begrüßt an Rosenzweigs von ihm rekonstruiertem komplementären Toleranzmodell, dass es Juden wie Christen gleichermaßen erlaube, "ganz bei der eigenen Sache zu sein, ohne dabei auf Kosten des Anderen zu leben".

Diese Indienstnahme Rosenzweigs erlaubt es ihm schließlich, die heutige jüdische Ablehnung der christlichen Judenmission, die sich ja auf Rosenzweig beruft, zumindest teilweise zurückzuweisen und ihr damit eine letzte Möglichkeit zu eröffnen. Die Zurückweisung der Judenmission sei nur statthaft, wenn das Judentum sich aus der Welt zurückziehe und dem Christentum die Weltgestaltung überlasse. Spätestens hier wird deutlich, dass S.s auf Gesprächen der frühen Jahre des 20. Jh.s begründete Systematische Theologie des jüdisch-christlichen Verhältnisses an der Geschichte scheitert. Tatsächlich haben sich weite Teile mindestens des zionistischen Judentums - nicht erst nach der Katastrophe des Holocaust - entschlossen, der Weltverneinung eine Absage zu erteilen. Sollte daraus folgen, dass unter diesen Auspizien die Judenmission - dem Holocaust und der Mitschuld der Kirchen an diesen Mordtaten zum Trotz - noch eine verantwortbare Option darstellt? Indem der ebenso belesene wie stets sorgfältig argumentierende Autor die Katastrophe, die der Holocaust für den christlichen Glauben darstellt, so gut wie überhaupt nicht erörtert und als evangelischer Christ einem unhistorischen Glaubensverständnis das Wort redet, mithin den christlichen Glauben vor den Konsequenzen seines Gangs durch die Weltgeschichte zu retten versucht, misslingt sein Ziel einer aktuellen Neubestimmung des jüdisch-christlichen Verhältnisses.

Indem S. aus dem doch sehr okkasionalistischen Rosenzweig einen Systematiker macht, der er nicht ist, und zudem - außer einigen Randbemerkungen - den Holocaust und die Gründung des Staates Israel nicht berücksichtigt, bleibt die ansonsten außerordentlich lesenswerte und höchst informative Arbeit hinter dem selbst gesteckten Ziel zurück und setzt sich dem Verdacht aus, christlichen Absolutheitsansprüchen das Wort zu reden, was aus dem vorsichtigen Plädoyer für die Judenmission deutlich wird.