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Ausgabe:

September/2004

Spalte:

964–966

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Pockrandt, Mark

Titel/Untertitel:

Biblische Aufklärung. Biographie und Theologie der Berliner Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack (1703-1786) und Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738-1817).

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2003. XVI, 773 S. m 2 Abb. gr.8 = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 86. Lw. 98,00. ISBN 3-11-017836-2.

Rezensent:

Alf Christophersen

"Neologen" betitelte J. W. von Goethe 1815 ein Gedicht: "Ich begegnet' einem jungen Mann, / Ich fragt' ihn um sein Gewerbe; / Er sagt': Ich sorge, wie ich kann, / Daß ich mir, eh ich sterbe, / Ein Bauerngütchen erwerbe. / Ich sagte: das ist sehr wohl gedacht; / Und wünschte, er hätt' es so weit gebracht. / Da hört' ich, er habe vom lieben Papa / Und ebenso von der Frau Mama / Die allerschönsten Rittergüter. / Das nenn' ich doch originale Gemüter." (552 f.) In ironischer Distanzierung hinterfragt Goethe Eigenwert und Notwendigkeit neologischer Bemühungen. Die Aufklärungstheologie hat seit jeher einen schweren Stand - ob im engeren und weiteren zeitgenössischen Urteil oder auch innerhalb konventioneller kirchen- und theologiegeschichtlicher Wertung. Ohne hinreichende Rezeption gegenwärtiger allgemeiner und kulturwissenschaftlicher Aufklärungsforschung lenkt M. Pockrandt in seiner von Kurt-Victor Selge in Berlin betreuten Dissertation aus dem Jahr 2002 den Blick auf zwei Hauptvertreter einer von ihm als "biblisch" konnotierten Aufklärung. August Friedrich Wilhelm Sack (1703-1786) und sein Sohn Friedrich Samuel Gottfried (1738-1817) werden biographisch und werkbezogen vorgestellt. Beide waren hochangesehene Prediger am Berliner Hof, begleiteten dessen höhere und niedere Repräsentanten über Jahrzehnte und prägten auf diese Weise - auch durch gezielte Personalpolitik - die kirchlich-theologische Landschaft nachhaltig.

In zwei umfangreichen Hauptteilen erörtert P. jeweils nacheinander und in paralleler Struktur die Biographien der beiden reformierten Protagonisten (21-152) sowie mit einem Schwergewicht auf A. F. W. Sack ihre Theologie (153-526). Einleitende Bemerkungen (1-20), etwa zum Aufklärungs- und Neologiebegriff oder zur Institution des Hofpredigeramtes, kurze Überlegungen zum Charakter von "Kriegs- und Friedenspredigten" (527-541) sowie eine knappe Zusammenfassung (543- 561) rahmen die Kernkapitel. Ausführliche Bibliographien, summarische Bestandsaufnahmen der Archivmaterialien sowie Literaturverzeichnisse bilden einen fünften und sechsten Abschnitt (563-607.609-691). Darauf folgt ein abschließender Anhang (693-773). Er besteht aus zwei Zeittafeln zur Biographie, Bildnachweisen, dem Abdruck dreier Texte (A. F. W. Sack, Seine Andacht haben, 1758; ders., Entwurf für eine Religionsgeschichte, 1761; F. S. G. Sack, Ueber die Auferstehung, 1778), Stammbäumen zur Familiengeschichte, Personen- und Bibelstellenregister.

Die auch nach Holland, England und Frankreich ausstrahlende Außenwirkung A. F. W. Sacks - er stand in engem Kontakt zu J. S. Semler, J. F. W. Jerusalem, F. G. Klopstock u. a. - bestimmte sich zunächst durch sein herausragendes Wirken als Prediger. Sack, der von P. als Vertreter einer moderaten Aufklärungstheologie vorgestellt wird, verstand es, die biblische Überlieferung in den Zeitgeist zu überführen. Seine theologischen Werke bestanden im Kern aus Predigtbänden und Gelegenheitsschriften. Durch die Schrift "Vertheidigter Glaube der Christen", die in acht Stücken zwischen 1748 und 1751 entstand, trat er in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit. Nur durch den Glauben an die biblische Offenbarung gelange die natürliche Theologie zu angemessener Ausprägung. In seiner Lebensführung habe der Christ die an ihm geschehene Rechtfertigung in die Tat umzusetzen. Glaube und vernunftbezogener Nachvollzug der Heilsbotschaft befänden sich in einem notwendigen Wechselverhältnis. Die durch Eklektizismus geprägte theologische Ausrichtung A. F. W. Sacks - auch die seines Sohnes - ist P. zufolge, "ein großangelegter Kommentar zum Jakobusbrief" (550 f.). Tief verwurzelt war in Sack eine Abneigung gegen die Prädestinationslehre Calvins, und mit konsequentem Rückbezug auf die biblische Überlieferung grenzte er sich gegenüber der Orthodoxie, ihrer strengen Bindung an Tradition und Bekenntnis ab (vgl. 153 f.). So wandte er sich etwa entschieden gegen den lutherischen Hamburger Pastor J. M. Goeze (vgl. 388-403). In der Abendmahlslehre folgte er Zwingli. "Der Fauxpas", so P., "bei seiner Ordination - als man zunächst vergaß, ihn den für Prediger vorgeschriebenen Revers zur Verpflichtung auf die Bekenntnisschriften unterzeichnen zu lassen- wurde zum theologischen Programm." (544)

War bereits A. F. W. Sack ein energischer Wegbereiter der Union, so gilt dies in noch stärkerem Maße auch für F. S. G. Sack. P. stellt ihn an die Seite F. Schleiermachers und G. J. Plancks. Maßgeblich wurden ein Promemoria Sacks vom 13. Juli 1798 zur Agendenfrage sowie seine Schrift "Ueber die Vereinigung der beiden protestantischen Kirchenparteien in der Preußischen Monarchie" aus dem Jahr 1812. Der Rang der Bekenntnisschriften trat "zugunsten des gemeinsamen Praktizierens des Christentums" (560) zurück. F. S. G. Sack vertrat seine Positionen profiliert. So stellte er sich, ebenfalls in einem Promemoria, am 26. August 1788 nachdrücklich gegen das Wöllnersche Religionsedikt (vgl. 460-485). Schleiermacher, der in Sack stets einen Förderer und Freund gefunden hatte, traf im Hinblick auf seine gesellschaftlichen Kontakte in Berlin, insbesondere zu H. Herz und F. Schlegel, auf dessen harsche Kritik. Auch Schleiermachers Reden "Über die Religion" passierten auf Grund ihrer vermeintlichen pantheistischen oder spinozistischen Ausrichtung nur mit Mühe eine Zensur durch Sack (485- 504). Ernüchternd fällt das Urteil P.s aus, wenn er feststellt, dass F. S. G. Sack die Positionen seines Vaters zwar aufgenommen, jedoch nicht entscheidend weiterentwickelt habe. "Das theologische Feuer biblischer Aufklärung, das sein Vater im Kampf gegen Orthodoxie und Religionskritik zu entfachen vermochte, ist bei ihm zu einer lauen Flamme geworden." (546 f.) Resümierend bemüht sich P. um den Nachweis, dass Religion und Aufklärung bei den beiden Sacks nicht im Widerspruch stehen, sondern sich in "lebendige[r] Praxis" einen: "Eine Alternative Religion oder Aufklärung hat es für die beiden Hofprediger nicht gegeben; denn erst in ihrer Verflechtung gelangen Religion und Aufklärung zu ihrer eigentlichen Bestimmung." (559)

In extensiver Breite legt P. das von ihm erschlossene Material vor. Dabei fehlt eine präzise Systematisierung leitender Begriffe wie Aufklärung, Neologie, Religionskritik, Rückbezug auf die Bibel. Der Autor entbehrt eines analytischen Zugriffs und leistet keine Einbindung der Ergebnisse in die bisherige theologische Debatte zur Theologie der Aufklärungszeit. Die Erschließung von Archivmaterialien, die Bibliographien und der immense Detailreichtum der Einzelabschnitte - F. S. G. Sack, ist zu erfahren, konnte die hohe Kanzel des Berliner Doms auf Grund von Schwindelanfällen kaum betreten (s. 124) - machen die Dissertation P.s jedoch zu einem wichtigen Baustein in der Erschließung einer bislang immer noch, gerade aus werkbiographischem Blickwinkel, nur unzureichend erfassten Epoche. Die Arbeit verführt zur weiteren Beschäftigung mit ihrem Gegenstand. "Die Mittel zur Verführung" liegen dabei, so in Analogie zu einer Aussage A. F. W. Sacks im Rahmen der Lehre vom Teufel, "nicht beim Verführenden, sondern bei demjenigen, der verführt wird" (292).