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Ausgabe:

September/2004

Spalte:

960–962

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Ising, Dieter

Titel/Untertitel:

Johann Christoph Blumhardt. Leben und Werk.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 423 S. m. 8 Abb. Geb. Euro 39,00. ISBN 3-525-55642-X.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Die vorliegende Biographie J. Chr. Blumhardts (1805-1880) geht auf die kommentierte Briefedition zurück, die D. Ising für die Blumhardt-Werkausgabe versorgte (Gesammelte Werke, R. 3, 7 Bde., 1993-2001). Erstmals werden hier Leben und Werk des älteren Blumhardt, der als Prediger und Seelsorger weit über Württemberg hinaus bekannt wurde, auf der Basis umfassender Kenntnis des handschriftlichen und gedruckten Materials dargestellt, und dies auf eine lebendige und detailreiche, auch für breitere Kreise gut lesbare Art und Weise. Der anfängliche Gedanke, Leben und Werk getrennt darzustellen, wurde zum Glück aufgegeben. Der inhaltliche Vorzug der vorliegenden Biographie gegenüber älteren Darstellungen - man denke hier nur an das einflussreiche Werk des ersten Biographen Blumhardts, Friedrich Zündel, aus dem Jahr 1880 - ist denn auch nicht schwer zu benennen. Neben Vertrautem kommen bislang vernachlässigte oder übersehene Aspekte der Vita Blumhardts im breiteren Kontext seiner Entwicklung zusammenhängend zur Sprache. So gewinnen Blumhardts Stellung im Rahmen von Pietismus und Erweckung, seine "Theologie der Hoffnung" auf das nahende Gottesreich und seine vielfältigen Aktivitäten als Prediger und Seelsorger an Profil. Blumhardts Herkunft aus Stuttgarter Handwerkerkreisen, das intensive Bibelstudium seit dem vierten und fünften Lebensjahr unter Anleitung des Vaters, die frühen Einflüsse von Gemeinschaftskreisen in Stuttgart und Korntal sowie die Studienzeit in Tübingen und die Freundschaft mit Eduard Mörike werden ebenso sorgfältig nachgezeichnet wie die bekannteren Lebensabschnitte, die Wirksamkeit Blumhardts in Möttlingen (1838-1852) und Bad Boll (1852-1880).

Hier sei nur auf einige Punkte hingewiesen. Das Verständnis der Möttlinger Periode, bald geprägt durch die Begleitung der schwerkranken Gottliebin Dittus, durch Aufsehen erregende Gebetsheilungen und die Erweckung der Gemeinde, wird erleichtert durch die nähere Kenntnis der vorausliegenden Jahre als Vikar, als Missionslehrer am Basler Missionshaus (1830- 1837) und als Pfarrer in dem zerstrittenen Dorf Iptingen (1837- 1838). So machte Blumhardt schon in den frühen 1820er Jahren in Korntal Bekanntschaft mit der Verbindung von Naherwartung, Kampf gegen dämonische Besessenheit und Krankenheilung durch Gebet. Nicht vergessen werden dürfen die erheblichen diakonisch-sozialen Aktivitäten, die Blumhardt zusammen mit seiner Frau Doris in der Möttlinger Anfangszeit organisierte (Suppenküche, Kindergarten, Industrieschule, Viehleihkasse u. a.). Auch die Beteiligung an der Reform von Gesangbuch und Choralbuch und die Bemühungen zur Verbesserung des Volksschulwesens gehören in diese Zeit.

Schließlich wird deutlich, wie der von J. A. Bengel aufgenommene und durch die Möttlinger Erfahrungen zur Erwartung einer nahe bevorstehenden allgemeinen Geistausgießung abgewandelte Endzeitgedanke die anfangs erwartungsvolle Haltung gegenüber der Revolution von 1848/49 und die Absage an einen übersteigerten Nationalismus im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 mitbestimmte. Hier zeigen sich deutliche Unterschiede zu anderen erwecklichen Kreisen.

Wer sich für das zunehmend wieder aktuelle Thema "Krankheit und Heilung" interessiert, wird gespannt sein auf die Schilderung und Deutung des Möttlinger "Kampfes", die Vorgänge um die angeblich dämonisch besessene Gottliebin Dittus. Zu gerne wüsste man, was es mit dem Wüten blutsaugender und würgender Dämonen und dem Erbrechen von Glas, Nägeln und Schuhschnallen auf sich hat. Neben Blumhardts Sicht der Dinge kommen moderne Erklärungsversuche von Suggestion und Autosuggestion zu Wort, doch bleiben sie von begrenztem Wert. Man muss sich wohl mit dem Faktum der Heilung begnügen, die Blumhardt mit dem bekannten Ruf "Jesus ist Sieger!" einleitete, und dabei zur Kenntnis nehmen, dass die anschließende Erweckung der Gemeinde zum erweiterten Deutungshorizont der Ereignisse wurde. Bemerkenswert bleibt, dass sich Blumhardt im Namen der erlebten "historischen Wahrheit" von Krankheit und Heilung um eine Dämonologie bemühte, die offenkundig biblisch nur schwer zu rechtfertigen war. Die Möttlinger Erweckung trug ihrerseits wesentlich dazu bei, dass Blumhardt die allzu schroffe Scheidung zwischen Bekehrten und Unbekehrten relativierte und die schon in Basel aufgenommenen überkonfessionellen Impulse wieder stärker zur Geltung kamen, nun auch gegenüber dem Katholizismus. So kristallisierten sich die Besonderheiten Blumhardtscher Theologie im weiteren Rahmen von Pietismus und Erweckungsbewegung zunehmend deutlich heraus. Für Blumhardts Reich-Gottes-Vorstellung bleiben kennzeichnend die Universalität der Hoffnung, wie sie die Sympathie für die Lehre von der Apokatastasis und die eigentümliche Erwartung einer nahen allgemeinen Geistausgießung in Überbietung des Pfingstwunders erkennen lassen, sowie die Überzeugung von der den Mächten der Finsternis schon jetzt im Glaubenskampf abzutrotzenden leiblich-seelischen Heilserfahrung. Damit trägt die Reich-Gottes-Vorstellung Blumhardts stark prozesshaft-dynamische Züge. Die Schilderung von Blumhardts Wirken in Bad Boll (1852-1880) zeigt schließlich auf eindrückliche Weise, wie er seine Anliegen als Gastgeber und Seelsorger im Kurhaus, als Briefeschreiber, Schriftsteller und Reisender weithin erfolgreich in die Tat umsetzte. Auch die anfänglichen Schwierigkeiten mit staatlichen Behörden, die Bad Boll unter fachmedizinische Aufsicht gestellt wissen wollten, und Blumhardts Bemühen, seine Behandlung "gedrückter Gemüter" abzugrenzen von der Betreuung Geisteskranker, werden gut analysiert. Dies gilt ebenso für die Schattenseiten des Erfolgs, die Überforderung der Ehefrau und die zeitweilige Vernachlässigung der Kinder, die gegen Ende einfühlsam besprochen werden. Immerhin sind zwei der vier Söhne den Fußspuren des Vaters gefolgt, Christoph ("Blumhardt der Jüngere", 1842-1919) bekanntlich als Nachfolger in der Leitung Bad Bolls.

Im Schlusskapitel wird eine Zusammenfassung geboten, die ältere und neuere Literatur zu Blumhardt aufnimmt und thematische Ausblicke gibt. Neben Blumhardts Verhältnis zum Pietismus werden seine Theologie, seine Verkündigung und seine Seelsorge charakterisiert, jeweils unter dem treffenden Generalthema der Erwartung des Reiches Gottes. Hier bleibt freilich vieles disparat und oberflächlich. Immerhin aber bietet das Kapitel genügend Anregungen, das Gespräch über Seelsorge, Glaubensheilung und Eschatologie in aktuellen Bezügen fortzusetzen.

Eines soll nicht verschwiegen werden: Das an sich lobenswerte Streben nach einer Schilderung, "die man am Schreibtisch wie auf dem Sofa lesen kann" (Vorwort, 13), führt in den Augen des Rez. doch etwas zu weit. Dem Sofa zuliebe hätte sicher nicht gänzlich auf Fußnoten und den Nachweis von Zitaten verzichtet werden müssen. Die am Ende des Buches jeweils für ein Kapitel summarisch verzeichneten Quellen- und Literaturangaben bieten hier zu wenig. Bleibt nur der Trost, dass auch große Historiographen zuweilen der Ansicht waren, Fußnoten seien zu meiden wie die Pest. Personen-, Orts- und Sachregister (er-) schließen den Band.