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Ausgabe:

September/2004

Spalte:

954–956

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Wiemer, Axel

Titel/Untertitel:

"Mein Trost, Kampf und Sieg ist Christus". Martin Luthers eschatologische Theologie nach seinen Reihenpredigten über 1. Kor 15 (1532/33).

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2003. XX, 280 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 119. Geb. Euro 78,00. ISBN 3-11-017519-3.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Die von O. Bayer betreute Tübinger Dissertation präsentiert eine durch das "lebensgeschichtlich gewachsene Interesse an der Thematik von Heil und Sterblichkeit" (1) motivierte systematische Interpretation von Luthers Reihenpredigten über 1Kor 15 (1532/33).

Die "Einleitung" (I.) referiert Anlage und Methode der Arbeit sowie die einschlägige Forschungsgeschichte. So unbestreitbar die eschatologische Prägung der Theologie Luthers - und zumal seiner Predigten über 1Kor 15 - zweifellos ist (2), so wenig scheint mir damit das Proprium seines Denkens, das sich ebenso gut als biblische, trinitarische, christologische oder - gewiss mit dem größten Recht - als soteriologische Theologie kennzeichnen ließe, zureichend begründet zu sein.

Die "Annäherungen" (II.) bieten zunächst Luthers Übersetzung von 1Kor 15 in der zeitlich unmittelbar benachbarten Fassung der ersten Vollbibel von 1534, deren "Auffälligkeiten" dann allerdings nicht etwa im Vergleich mit Luthers griechischen und lateinischen Vorlagen, sondern mit der revidierten Lutherbibel von 1984 erhoben werden (17). Zu Recht hat sich der Vf. dafür entschieden, für Luthers Predigten das Stenogramm Georg Rörers und nicht die spätere Druckbearbeitung durch Caspar Cruciger zu Grunde zu legen. Als eine sehr beachtliche, nur in Einzelfällen anfechtbare Leistung des Vf.s ist hervorzuheben, dass er die mitunter äußerst schwierige Textgestalt Rörers in eigener, anhand der Fußnoten jederzeit kontrollierbarer Übertragung gebraucht hat. Hilfreich ist auch die vorausgehende "Übersicht" (27-46), die zu den insgesamt 17 Predigten jeweils den Skopus sowie einen - formale und materiale Aspekte allerdings weithin vermischenden - Gliederungsvorschlag benennt.

Die "Vorbemerkungen" (III.) erläutern das die Interpretation strukturierende Ordnungsprinzip und bieten wertvolle Beobachtungen zur Antithetik als einem wesentlichen Strukturmoment in Luthers theologischem Denken (48-54). Die "Grundentscheidungen" Luthers (IV.) werden anhand der Leitgesichts- punkte "Gottes Wort", "Glaube" und "Lehre" entfaltet. Dabei zeigt sich, dass die zentralen Motive des Reformators auch in der strikten Beschränkung auf jene Predigtreihe lückenlos zu rekonstruieren sind. In der Explikation der "Lehre" tritt dann aber das Thema von 1Kor 15 immer stärker hervor. Treffend arbeitet der Vf. dabei heraus, inwiefern mit dem in 1Kor 15,12-15 geführten "Beweis" für Luther nicht etwa die Auferstehung der Toten bewiesen, sondern der Auferstehungsglaube als ein notwendiger Bestandteil christlichen Glaubens demonstriert wird (115 f.). Erhellend ist auch, was der Vf. zu Luthers "Forderung der passio" sowie zu dessen Metapherntheorie aus den Texten erhebt (117-131).

Die materiale Entfaltung von Luthers eschatologischer Theologie (V.) ist an dem Gedanken der "von der Perversion zur Restitution der Schöpfung" sich vollziehenden "doppelten Umkehrung" orientiert (133). In dieser Figur lässt sich der Zusammenhang von "Auferstehung Christi und der Christen" ebenso entfalten wie das dem weltlichen Regiment verordnete und in konkreten Geschichtsereignissen (etwa den Stadtbränden von Belzig und Liebenwerda [161]) zeichenhaft vorweggenommene irdische Ende. Erst recht aber findet darin Luthers kräftige Ausmalung der Auferstehungserwartung ihren sachgemäßen theologischen Ort (163-215). Die interpretatorische Sorgfalt und Intensität des Vf.s macht diesen Abschnitt zu einem besonderen Lesevergnügen. Der vorneuzeitliche Realismus von Luthers eschatologischem Denken tritt dabei plastisch hervor, etwa wenn er die Erstlingschaft Christi (1Kor 15,20), dem die Gemeinde als dessen Leib anhängt, mit einer Hebammenweisheit zum Trost werden lässt: "Ist das Kind geboren mit dem Kopf, so hat's keine Not (mehr)" (141). Sofern sich der Vf. der unaufhebbaren geschichtlichen Distanz solcher Vorstellungen durchgehend bewusst gewesen ist, mag es in Ordnung gehen, dass er die darin aufscheinende, prinzipielle Abständigkeit an keiner Stelle thematisiert.

Der letzte Hauptteil schildert den Niederschlag jener doppelten Umkehrung "im Leben der Ungläubigen und der Gläubigen" (VI.). Während sich für Luther der Glaube in dem "kontrafaktische[n] Vertrauen auf die Verheißungen Gottes" vollzieht (216), bleibt der Ungläubige der Perversion der Schöpfung verhaftet: Er "nennt Tod Leben und erwartet statt Leben Tod" (218). Dergestalt unterliegt er einer fatalen "Diesseitsvertröstung" (237): "Mit der Frage nach dem Jenseits [erstickt er] auch das Sündenbewusstsein" (223) und verschreibt sein Leben stattdessen dem "Saus" sowie dem nie zur Ruhe kommenden "Geiz" (Habgier) (222-226). In sachgemäßer Differenzierung arbeitet der Vf. nun freilich heraus, dass für Luther das Leben der Gläubigen nicht etwa die schiere Antithese darstellt: Einerseits weiß er die irdische Existenz durchaus auch positiv konnotiert - es ist eine der feinsten Beobachtungen des Vf.s, dass Luther niemals vom Leben "nach dem Tod" spricht, sondern immer nur vom Leben "nach diesem Leben" (230) -, andererseits sieht er im Leben der Gläubigen Zuversicht und Anfechtung unauflöslich ineinander verschränkt. Deshalb ist Luther gegenüber der Versuchung, für den Glauben eine ausweisbare Lebensgestalt zu reklamieren, außerordentlich spröde geblieben.

Mit großer philologisch-hermeneutischer Sorgfalt hat der Vf. die Reihenpredigten über 1Kor 15 erstmals im Zusammenhang analysiert. Sein eingangs gestecktes Ziel, "Luther zu hören und zu Gehör zu bringen" (7), ist damit erreicht. Das leise Unbehagen, das die Lektüre gleichwohl hinterlässt, verweist indessen auf drei gravierende methodische Defizite.

Unberücksichtigt bleibt erstens der werkgeschichtliche Kontext. Da der Vf. über seine erwähnte Zielsetzung hinausgehend zugleich "eine von seiner Predigtreihe her entworfene Gesamtdarstellung" (4) und ein "Kompendium der Theologie Luthers" (2) vorzulegen beansprucht, hätte die Frage nach den Kriterien, denen sich der Vf. dabei verpflichtet weiß, zwingend beantwortet werden müssen. Entgegen der programmatischen Beschränkung auf jene Predigtreihe wird zwar sporadisch auch auf andere Luthertexte verwiesen (z. B. 218, Anm. 13; 231, Anm. 103). Doch nirgendwo wird für den Anspruch, Luthers "gesamte Theologie" (2) zu repräsentieren, ein stringenter, auf das ganze uvre des Reformators ausgreifender Nachweis geführt. Und die Bedeutung des bislang gehaltvollsten Beitrags zum Thema, G. Ebelings Aufsatz "Des Todes Tod" (1987), sieht der Vf. ausgerechnet dadurch relativiert, dass dort auch noch andere Luthertexte vergleichend bedacht worden sind (11 f.).

Unberücksichtigt bleibt ferner der auslegungsgeschichtliche Horizont. Ausdrücklich verzichtet der Vf. auf die "Suche nach älteren Auslegern, denen Luther in seinen Predigten in Zustimmung oder Ablehnung verpflichtet ist" (9). Für die "systematisch-theologische Zielsetzung der Arbeit" sei "zwar ein möglichst korrektes Textverständnis erforderlich, nicht aber die Beantwortung der Frage, ob andere vorher auch schon so gedacht haben" (9 f.). In der Tat hat der Vf. erfreulich viele sprachwissenschaftliche Hilfsmittel gebraucht (vgl. 260-262). Doch bleibt es mir unerfindlich, wie sich anhand von Luthers Reihenpredigten über 1Kor 15 das Spezifikum seiner "eschatologischen" Theologie erkennen und darstellen lassen soll, ohne dabei die Frage, wie jener Text vor und neben Luther ausgelegt worden ist, durchgehend einzubeziehen oder auch nur zu stellen.

Unberücksichtigt bleibt schließlich die gattungsspezifische Relevanz. Wenn anders Predigten den aktuellen Vollzug einer integrativen Text- und Situationswahrnehmung darstellen, ist für deren wissenschaftliche Beurteilung eine Analyse des argumentationsstrategischen Bibelgebrauchs sowie des konkreten Hörerbezugs schlechthin konstitutiv. Zwar lassen sich zumindest für den ersten Gesichtspunkt vereinzelte Hinweise finden (z. B. 183). Doch die gattungsspezifische Besonderheit dieser Texte, also beispielsweise Luthers zwischen Aneignung, Fortschreibung und vereinzelter Umdeutung oszillierender Gebrauch der neutestamentlichen Textvorlage oder dessen intensive rhetorische Interaktion mit seiner Gemeinde, bleibt für den Vf. weithin außer Betracht.

Es ist an der Zeit, das Verhältnis von historischer und systematischer Methode erneut auf die theologische Tagesordnung zu setzen.