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Ausgabe:

September/2004

Spalte:

948–951

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kruse, Jens-Martin

Titel/Untertitel:

Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516- 1522.

Verlag:

Mainz: von Zabern 2002. XII, 452 S. gr.8 = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 187. Lw. Euro 45,00. ISBN 3-8053-2758-7.

Rezensent:

Hellmut Zschoch

Jens-Martin Kruses noch von Bernhard Lohse angeregte Hamburger Dissertation unternimmt den mutigen Versuch, ein vermeintlich altbekanntes Thema, die Anfänge der von Wittenberg ausgehenden Reformation, neu in den Blick zu nehmen. Obwohl dabei nicht viele völlig neue Fakten zu Tage treten, ist der Versuch gelungen, weil K. eine neue Perspektive eröffnet und von ihr aus die bekannten Sachverhalte in einem veränderten Kontext erschließt. Seine zentrale These, mit der er die Darstellung eröffnet, lautet: Die "Diskussionsgemeinschaft der Wittenberger Universitätsprofessoren stand am Anfang der reformatorischen Theologie" (1). Den Übergang von der Theologie zur Aktion bezeichnet eine zweite These: "Am Anfang der Reformation stand die Erneuerung der Universitätstheologie." (138) Von ihr geht dann die "Wittenberger Bewegung" aus, die K. neu definiert als die auf einer "Interaktion und Kommunikation unter den Akteuren beruhenden Prozesse der Ausbildung, Aneignung und Umsetzung der reformatorischen Ideen" (28), in die auch die "Stadtbevölkerung" (3) einbezogen wird. Es geht K. um die Grundlegung der Reformation in der Genese einer "neuen" Theologie an der Wittenberger Universität, die nicht in erster Linie dem genialen Durchbruch Martin Luthers zuzuschreiben ist, sondern in einem "Kommunikationsprozess" (23 in Aufnahme einer Formulierung von Bernd Moeller) der Universitätsprofessoren gründet. K. verlagert den Gedanken des Kommunikationsprozesses von der publizistisch wahrnehmbaren Kontroverse zurück in die inneruniversitäre Kommunikation. Um den dort angesiedelten Prozess rekonstruieren zu können, betrachtet er die "universitären Kommunikationsformen" (24) Vorlesung und Disputation, dazu Briefe und andere ergänzende Quellen.

Die Erschließung dieser Texte unter dem Gesichtspunkt nicht solitärer theologischer Positionen, sondern der Interaktion innerhalb einer sich bildenden Interessengemeinschaft unter den Lehrenden der Wittenberger Universität, unternimmt K. in dem grundlegenden zweiten Kapitel des Buches, das der "Ausbildung der Wittenberger reformatorischen Theologie" in den Jahren 1515 bis 1517 gewidmet ist (53-112). Er setzt bei Luthers Römerbriefvorlesung (1515/16) ein, die Diskussionen auslöst und damit "wichtige Impulse für das Entstehen der Reformgruppe und die Ausbildung einer gemeinsam vertretenen Wittenberger Theologie" vermittelt (54). Die anregende Wirkung von Luthers theologischen Einsichten zeigt der Vergleich mit Johannes Langs 1516 gehaltener Vorlesung über den Römerbrief, die weitgehend von Luther abhängig ist. Eine zentrale Rolle in K.s Darstellung spielt Bartholomäus Bernhardis Disputation vom 25. September 1516 über drei Thesen "de viribus et voluntate hominis sine gratia", die Luthers Theologie formulieren. K. zeigt an den Reaktionen von Nikolaus von Amsdorf, Andreas Bodenstein von Karlstadt und Johannes Dölsch, wie die universitäre Öffentlichkeit zu theologischer Bewegung und zur Konstituierung einer "Gruppe" führt. Als inhaltliche Gemeinsamkeiten in dieser Reformgruppe arbeitet K. neben dem programmatischen Bezug auf die Bibel und die Kirchenväter (speziell auf den antipelagianischen Augustin) und der Absage an die scholastischen Autoritäten die Konzentration auf Fragen der Soteriologie und der theologischen Anthropologie heraus (109 f.). Trotz einer "Pluriformität der Positionen" (112) erkennt K. einen gemeinsamen theologischen Neuansatz, der darauf abzielt, "im universitären Rahmen die scholastische Theologie und die aristotelische Philosophie zugunsten einer an der Bibel und den Kirchenvätern orientierten Theologie zu überwinden" (112).

In den folgenden Kapiteln verfolgt K. die Rolle der Wittenberger "Arbeitsgemeinschaft" im Zuge des öffentlichen Streites, der durch Luthers Ablassthesen und die römische Reaktion darauf ausgelöst worden ist. Deutlich wird dabei, dass in Wittenberg das Vorgehen gegen Luther als gegen den Ansatz der Reformgruppe als Ganzer gerichtet verstanden wird, als deren Repräsentanten vor allem Karlstadt und Melanchthon hervortreten. Insbesondere das "reformatorische Schriftprinzip" wird im Zuge der Auseinandersetzung als gemeinsam erarbeitete Position hervorgehoben (173). Im Blick auf die Leipziger Disputation von 1519 (186-232) trägt der von K. vorgenommene Perspektivenwechsel zu einer deutlicheren Konturierung der Rolle Karlstadts und seines Zusammenwirkens mit Luther bei. Im Anschluss an Leipzig sieht K. den Übergang von einem "vor allem im akademischen Kontext ausgetragenen" Konflikt (238) zum Kampf um kirchliche Gestaltungsfragen. Die Rolle der Wittenberger "Gruppe" gewinnt dabei im Sommer 1521 noch einmal an Kontur, als Luther infolge seiner erzwungenen Abwesenheit von Wittenberg von der Beteiligung am Reformgeschehen ausgeschlossen ist. Die Differenzen in den hermeneutischen Ausgangspositionen zwischen Melanchthon (und Luther) einerseits und Karlstadt andererseits, die nun deutlicher erkennbar werden (287-292), verhindern zunächst eine gemeinsame Reformprogrammatik und ein geschlossenes Vorgehen nicht. Wie es dazu kommt, dass Karlstadt 1521/22 vom Zögerer zum Reformbeschleuniger avanciert, um dann von den anderen als potentieller "Aufrührer" ausgegrenzt zu werden, so dass Luther 1522 das Monopol auf das "Reformatorische" für sich reklamiert und darin von Melanchthon unterstützt wird, vermag freilich auch K. nicht plausibel zu erklären.

K. ist eine instruktive Darstellung der frühen Reformationsgeschichte gelungen. Die spürbare Freude an einem neu entdeckten Erschließungszusammenhang macht die Lektüre des Buches angenehm. Natürlich wirft die Darstellung auch die ein oder andere Rückfrage auf:

- Was heißt für K. "reformatorische" Theologie? Der Begriff des "Reformatorischen" wird nicht geklärt und schillert damit zwischen einer pragmatischen und einer normativen Füllung.

- Wird der universitäre Entstehungszusammenhang der "neuen" Theologie von K. nicht doch zu stark verabsolutiert? Der Zusammenhang dieser Theologie mit der religiösen Erfahrung, wie er z. B. in Luthers Thesen zur Heidelberger Disputation von 1518 greifbar ist (wo K. nur von "Erneuerung der Theologie" [131] spricht), bleibt ausgespart. Gerade dieser Zusammenhang dürfte aber einen wesentlichen Reformimpuls markieren, der schon vor 1519 mit der Wittenberger Universitätstheologie verknüpft ist und der die Brücke zu dem Drängen auf Reform in einer breiteren Öffentlichkeit darstellt.

Dieser Aspekt ließe sich aufnehmen durch die Berücksichtigung der Verbindungen des Reformkreises zur spätmittelalterlichen Theologie der Mystik. Bei K. finde ich dazu nur zwei knappe Andeutungen im Blick auf Karlstadts Taulerrezeption (88) und auf Luthers Ausgabe der "Theologia deutsch" (181 f.), ohne dass diese Hinweise mit der These des Buches in Verbindung gebracht würden.

- Ließe sich das Ausscheiden Karlstadts aus dem Wittenberger Reformkonsens möglicherweise plausibler erklären, wenn man die Differenzen in theologischen Positionen, besonders hinsichtlich des "reformatorischen Schriftprinzips", schon vor 1521 stärker betonte? Freilich: K. folgt mit der Betonung der anfänglichen Einheit der Selbstwahrnehmung der Reformer, wie sie sich in Luthers schöner Wortbildung "Wittenbergescere" von 1518 (179) spiegelt.

- Eine Nachfrage wäre auch die Wittenberger Sicht der "Laien" wert, deren Urteilsvermögen von Karlstadt schon 1519 mit seinem Flugblatt "Wagen" hervorgehoben wird (199) und deren kirchliche Rolle in Luthers Adelsschrift von 1520 theologisch fundiert wird (vgl. 253 f.). Wie verhält sich die Hochschätzung des Laienchristentums zu den von K. betonten akademischen Ursprüngen des Reformatorischen?

Leider beeinträchtigt eine Vielzahl von Druckfehlern, geballt in den Kapiteln III und IV, mitunter die Lesefreude. Hier seien nur einige vermerkt: Mehrfach wird "Melanchthon" etymologisch falsch getrennt (145/146. 239.272.342/343). S. 92 f. lies "(5)" und "(6)" statt "(4)" und "(5)"; S. 136, Z. 9 "wonach" vor "Luther"; S. 187, Z. 25 "ihm" nach "bei"; S. 196, Z. 15 "Ingolstädter"; S. 221, Z. 10 f. "Meinungen". S. 222, Z. 2 f. ist der Satzbau unklar, weil offenbar etwas ausgefallen ist. S. 222, Z. 27 lies "die" statt "den"; S. 226, Z. 27 "ist" statt "hat"; S. 228, Z. 17 "Jüterboger"; S. 232, Z. 10 "reute" statt "bereute"; S. 239, Z. 13 "Operationes"; S. 247, Z. 13 "acquisita"; S. 261, Z. 26 "Grunddissens"; S. 273, Z. 16 "1520" statt "1521"; S. 281, Z. 15 streiche "die"; S. 295, Z. 20 lies "monachorum"; S. 342, Z. 25 "kleinste"; S. 354 "in dem Verzicht auf die vorausgehende Beichte"; S. 356, Z. 16 "Kustos".

Alles in allem: K.s Perspektive auf die frühe Reformationsgeschichte erschließt neue Zusammenhänge und stellt eine wichtige Bereicherung dar für das Bemühen, dieses Umbruchsgeschehen historisch und theologisch zu verstehen. Indem K. an diesem Beispiel den inneren Zusammenhang von Universitätstheologie und Kirchenreform aufweist, leistet seine Untersuchung zugleich einen historischen Beitrag zu den aktuellen Fragen um das Verhältnis von theologischer Lehre ("Theorie"?) und kirchlichem Leben ("Praxis"?) und verdient auch deshalb eine breite Aufmerksamkeit.