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Ausgabe:

September/2004

Spalte:

946–948

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Walker, Donald Dale

Titel/Untertitel:

Paul's Offer of Leniency (2 Cor 10:1). Populist Ideology and Rhetoric in a Pauline Letter Fragment.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XVI, 443 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 152. Kart. Euro 69,00. ISBN 3-16-147891-6.

Rezensent:

Ulrich Heckel

Die Studie wurde als Dissertation an der Universität Chicago von Hans Dieter Betz betreut (1998). Während der Kommentar von H. D. Betz zum Galaterbrief (1979, deutsch 1988) eine ganze Reihe von Untersuchungen zur Rhetorik des Paulus angeregt hatte, bedauert der Vf., dass dessen Studie über den Apostel Paulus und die sokratische Tradition in seiner Apologie 2Kor 10-13 (1972, englisch 1975) zu wenig beachtet wurde (260; vgl. als neuere Arbeiten zum Galaterbrief D. Kremendahl, Die Botschaft der Form, 2000; R. A. Bryant, The Risen Crucified Christ in Galatians, 2001; M. D. Nanos, The Irony of Galatians, 2002, und zum Ganzen L. Thurén, Derhetorizing Paul, 2000; C . J. Classen, Rhetorical Criticism of the New Testament, 2000; J. S. Vos, Die Kunst der Argumentation bei Paulus, 2002).

Nach der Einführung in die Übersetzungsproblematik von dia tes praute tos kai epieikeias tu Christu in 2Kor 10,1 beginnt der Vf. mit einer Darstellung der Forschungsgeschichte, die vor allem von A. v. Harnack (Huld des Herrschers) und R. Leivestad (kenotische Deutung auf die Niedrigkeit und Schwachheit Christi) bestimmt wurde. Methodologisch sieht der Vf. vor allem drei Probleme (35 f.): 1. den allzu einseitigen Bezug zur LXX und speziell zu dem Jesuswort in Mt 11,29, ohne den hellenistischen Gebrauch zu berücksichtigen, 2. das mangelnde Augenmerk auf die Verbindung beider Wortfamilien im selben Zusammenhang und 3. die unzureichende Beachtung des literarischen Kontexts von 2Kor 10-13. Daraus ergibt sich der Aufbau der Arbeit.

Nach der umfassenden Analyse des Wortfelds schließt Kap. 2 mit einer Definition von epieikeias als "a general reference to virtue or gentlemanly behavior" (52) sowie prautes als "an imperturbable gentleness or mildness" (62). Die Kombination beider Begriffe begegnet vor allem bei Personen in einer überlegenen Position als abgemilderte Form der Autoritätsausübung (74). Da Paulus seinen Vollmachtsanspruch in 2Kor 10-13 (vgl. exusia und dynamis) mit Zerstörungsdrohungen und Kriegsmetaphorik bekräftigt, spricht der Vf. sich in 10,1 gegen Leivestads Deutung auf die Niedrigkeit aus und plädiert stattdessen für ein Verständnis im Sinne der Nachsicht und Milde mit dem Übersetzungsvorschlag: "leniency and clemency of Christ" (90).

Im dritten Kapitel beschreibt der Vf. die "good king topoi" mit einer Fülle von Belegen aus der griechisch-römischen Literatur, um auf dieser Folie die entsprechenden Züge im paulinischen Bild von Christus als göttlichem König, Richter und Retter sowie Messias nachzuzeichnen. Daraus zieht der Vf. den Schluss, dass in 2Kor 10,1 weder die Kenosis des Präexistenten (Leivestad) noch der Charakter des irdischen Jesus wie in Mt 11,29 (v. Harnack) im Hintergrund stehen, sondern der Auferstandene als göttlicher König, d. h. "an ideology of kingship", die erwächst "from the virtue which Christ displays in the administration of his present kingdom" (186). So sehr es im Kontext von 2Kor 10-13 nicht um das Verhalten Jesu und auch nicht um seine Inkarnation, sondern primär um die gegenwärtige Wirksamkeit der göttlichen Kraft Christi in dem schwachen Apostel geht, wird man die Unterschiede aber nicht überbewerten dürfen, da für Paulus gerade der Auferstandene kein anderer ist als der Mensch gewordene Sohn Gottes, der am Ende seines irdischen Lebens aus Schwachheit gekreuzigt wurde (13,4; vgl. Röm 1,3 f.; 1Kor 15,21-28; Phil 2,5-11).

Die Güte dieses Königs bestimmt auch das Auftreten des Apostels gegenüber den Korinthern. Deshalb folgert Kap. 4 aus der Einstellung zu clementia und lenitas in der griechischen und römischen Welt, dass Paulus Milde bevorzugt, aber vor starken Worten nicht zurückscheut und sich notfalls auch die Möglichkeit von Strafmaßnahmen vorbehält (253). Damit seine Nachsicht jedoch nicht mit Schwachheit verwechselt wird, bekräftigt er seinen Autoritätsanspruch, indem er ihn als gottgewollten Auftrag darstellt und seine clementia mit severitas verbindet (255 f.). Auf diese Weise hofft er die Korinther zur Umkehr zu bewegen.

Kap. 5 wendet sich der konkreten rhetorischen Umsetzung in der Selbstdarstellung des Paulus in 2Kor 10-13 zu: "Despite the explosion of rhetorical studies since the publication of Betz's work on Galatians, the rhetoric ethos has not received sufficient appreciation. This chapter remedies this" (260). Seinem Lehrer folgend konstatiert der Vf. eine Reihe von Berührungen zwischen der rhetorischen Tradition und Paulus im Bescheidenheitsstil, dem antienkomiastischen Vorgehen und der paradoxen Ironie, die er aus der sokratischen Tradition herleitet. Dennoch will er Paulus nicht als guten Philosophen darstellen, sondern dessen Christologie als die eigentliche Basis für den Gehorsam des Apostels aufzeigen (318-325: "Paul's Counterculture"; vgl. 2Kor 10,1.5; 12,9; 13,3 f.).

Es folgen noch drei Anhänge zur Definition von der epieikeias und prautes sowie Odysseus, Herakles, Aesop und Sokrates in der antienkomiastischen Rhetorik. Die üblichen Register schließen das Werk ab.

Aufs Ganze gesehen bietet der Vf. einen reichhaltigen Überblick über die Topoi und rhetorischen Traditionen aus der hellenistisch-römischen Welt, die als Hintergrund für die Nachsicht und Milde Christi in 2Kor 10,1 weitgehend plausibel erscheinen. Ob der neuerliche Versuch, Kap. 10-13 insgesamt aus der griechischen Rhetorik zu erklären, nun besser zu überzeugen vermag, ist damit jedoch noch nicht gesagt. Denn dass die angeführten Parallelen Paulus tatsächlich beeinflusst haben, ist durch die Vielzahl der Belege noch nicht erwiesen, sondern bedarf erst einer Gegenprobe. Völlig zu Recht weist der Vf. bei der Doppelwendung in 2Kor 10,1 darauf hin, dass das Vorkommen einzelner Worte in der LXX als solches noch nicht für die alttestamentlich-jüdische Prägung vereinnahmt werden darf (35). Im Umkehrschluss hat dieselbe methodische Forderung aber auch für die Parallelen aus der griechischen Umwelt zu gelten. Dieser Anspruch wird jedoch vom Vf. selbst nicht eingelöst. So wird das Rühmen unter die Stilmittel der Selbstdarstellung eingereiht (300 ff.), doch fehlt eine Analyse des Schlüsselbegriffs kauchasthai mit dem Paulus die christologische Neubewertung seiner Schwachheit rhetorisch umsetzt. Statt in der "Narrenrede" das Wortfeld der Torheit (aphrosyne) zu untersuchen und mit der Weisheit in 1Kor 1 f. oder gar mit dem Sprachgebrauch der LXX zu vergleichen, wird die Mischung aus Bescheidenheit und Ironie allein von Sokrates bzw. aus dem Maskenspiel der griechischen Komödie hergeleitet - ohne zu fragen, ob Paulus das griechische Theater in der abstoßend obszönen Form des Mimus überhaupt gekannt und dann auch noch nachgeahmt haben könnte (299-311). Ungelöst bleibt auch der Widerspruch, dass der Vf. einerseits folgert: "Paul therefore drew upon Hellenistic propaganda", andererseits in der zugehörigen Fußnote aber feststellt: "Paul's approach to boasting is drawn from Jeremiah (boast in the Lord, 9:22-23 [LXX])" (320; vgl. 322).

Mit diesem widersprüchlichen Befund weckt der Vf. selbst Zweifel an der Schlüssigkeit seiner These. Es entsteht der Eindruck, dass der Vf. nicht durch eine Analyse der paulinischen Argumentation herausfinden möchte, von welchen Traditionen Paulus beeinflusst sein könnte, sondern a priori von einer primär hellenistischen Prägung ausgeht und diese in den paulinischen Ausführungen nachzuweisen versucht. Trotz dieser methodischen Einwände hat der Vf. eine verdienstvolle Arbeit vorgelegt, die in vielfältige Berührungen mit der griechischen Umwelt einführt.