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Ausgabe:

September/2004

Spalte:

938–941

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kazen, Thomas

Titel/Untertitel:

Jesus and Purity Halakhah. Was Jesus Indifferent to Impurity?

Verlag:

Stockholm: Almqvist & Wiksell 2002. XII, 402 S. m. Abb. 8 = Coniectanea Biblica. New Testament Series, 38. Kart. SEK 301,00. ISBN 91-22-01964-2.

Rezensent:

Lutz Doering

Die von K. Syreeni betreute und von der Universität Uppsala angenommene Doktorarbeit des Vf.s stellt sich die Aufgabe, die Position Jesu zu ritueller Unreinheit zu untersuchen und zu erklären (2). Der erste Teil, "Initial Positions", besteht aus einer Einleitung (Kap. I; 2-11) und Überlegungen zur historischen Rückfrage nach Jesus (Kap. II; 12-42).

K. stellt u. a. heraus, dass sich die Arbeit vor allem mit körperlich kontaminierender Unreinheit (vgl. Lev 12-15; Num 19) beschäftigt, während die Unreinheit schwerer Sünden (vgl. Lev 18 ff.) nur punktuell (in Kap. V) und die Frage unreiner Speisen kaum behandelt wird (4). Die biblischen und rabbinischen Systeme mit Graden der Unreinheit etc. werden in Anlehnung an J. Milgrom, H. K. Harrington u. a. kurz vorgestellt (5 f., komplexer 79.82). K. skizziert sodann knapp die Phasen historischer Jesusforschung, sieht die gegenwärtigen Bemühungen stärker der früheren Forschung verpflichtet als häufig eingestanden und möchte eher von einer "third phase" als einem "Third Quest" sprechen (16). In der Kriterien-Debatte plädiert K. für "a balance between the ideas of continuity and discontinuity when evaluating Jesus' relationship to his historical context" (31). Er hebt die zirkuläre Natur historischer Untersuchung hervor und will eher ein Gesamtbild erheben als einzelne Worte und Taten historisch absichern (30 u. ö.). Die Selbstbeschränkung wird freilich im Gang der Untersuchung z. T. aufgegeben (z. B. 314.336, wo einzelnen Exorzismen Historizität zugesprochen wird).

Im Rahmen des zweiten Teils des Buchs, "Law, Purity and Body", behandelt K. in Kap. III (44-88) punktuell die Streitgespräche ("conflict stories") Jesu. Die Hauptgegner Jesu seien Pharisäer gewesen, wobei der Uneinheitlichkeit und Entwicklung der Gruppe Rechnung zu tragen sei (47). Bei der Suche nach halachischen Traditionen, die zum Vergleich herangezogen werden können, plädiert K. mit Recht für eine vorsichtige (!) Einbeziehung tannaitischer Texte - die Rabbinen seien zwar nicht die direkte Fortsetzung des Pharisäismus, stünden mit ihm aber in gewissem Zusammenhang -, doch kommen die sonstigen antiken jüdischen Texte hier zu kurz (51-55). Am Sabbat "as a test case" soll dann die Tragfähigkeit bisheriger Überlegungen partiell erprobt werden (55-60). Warum dieser Umweg zur Reinheitsfrage genommen wird, ist unverständlich, zumal die Diskussion hier viel zu knapp bleibt, um wirklich aussagekräftig zu sein. Grundsätzlich wäre freilich ein Vergleich der Stellung Jesu zur Reinheit und zum Sabbat reizvoll, der dann aber die differenzierte Analyse zu beiden Themen zu seiner Voraussetzung haben muss.

Der zweite Teil des Kapitels (60-85) widmet sich Mk 7,1-23. K. ist skeptisch gegenüber allzu detaillierten redaktionsgeschichtlichen Ergebnissen (62). Entsprechend bleiben seine Überlegungen hier punktuell. Das Logion Mk 7,15 sei relativ aufzufassen ("A man is not so much defiled by that which enters him from outside as he is by that which comes from within.") und in diesem Verständnis im Grundsatz auf Jesus zurückführbar. K. sieht dabei mit J. Dunn die Formulierung in der Parallele Mt 15,11 (vgl. EvThom 14) dem ursprünglichen Jesuswort am nächsten, während Mk 7,15 eine radikalisierende - wohl hellenistisch-judenchristliche - Bearbeitung sei (66). Angesichts des auch für Mt keineswegs unbestrittenen relativen Verständnisses von u ... alla, bleibt K.s Argumentation hier zu knapp. Ebenfalls mehr behauptet als begründet wird, dass sich das Logion nicht auf unreine Speisen, sondern auf das Händewaschen bzw. die Übertragung von Unreinheit bezogen habe (65.67).

K. fragt dabei zunächst nach der Verbreitung des Händewaschens vor Mahlzeiten zur Zeit Jesu. In Anlehnung an G. Alon u. a. sieht er eine verbreiteten "expansionist view regarding impurity" (72-78), der an entsprechende Tendenzen im Pentateuch anknüpfe (nach J. Milgrom vor allem an H, im Gegensatz zu P, wo Reinheit auf den Tempel beschränkt sei). Der expansive Trend sei zum einen durch die Verbreitung von miqwa'ot gefördert worden. Unterschiede in deren Bauweise (z. B. mit und ohne Nachfüllbecken [osar]) deuteten auf Erfordernisse verschiedener Gruppen. Hingegen sei die andere Einrichtung, die dem expansiven Trend entgegenkommt, nämlich das Konzept des tevul yom, nur für den pharisäisch[?]-rabbinischen Bereich belegt: Bereits vor Sonnenuntergang kommt nach einem Tauchbad dem Reinwerdenden eine Reduktion der Unreinheit um einen Grad zugute. K. nimmt mit Recht an, dieses Konzept sei schon vor 70 n. Chr. vertreten worden; 4QMMT B 15 polemisiere dagegen. Nun ergebe sich aber gerade dann die Frage, welchen Sinn Händewaschen vor (nicht-priesterlichen) Mahlzeiten macht: "If people immersed, why would they need to wash their hands? And if they did not immerse regularly, of what use could hand-washing be, when the whole person suffered from first-degree impurity?" (81) K. sieht die Lösung mit R. Booth und anderen darin, dass Hände immer in Berührung mit Flüssigkeit oder Feuchtigkeit kommen können, die in besonderer Weise als Überträger von Unreinheit galten. Als Realia-Beleg zum Händewaschen weist er abschließend auf den Befund frühjüdischer Steingefäße hin, die nach R. Deines auch zum Händewaschen dienten (84 f.). Vor dem Hintergrund dieses (K. zufolge auch, aber nicht exklusiv pharisäischen [280 f. u. ö.]) Trends zur Ausweitung ritueller Reinheit muss Jesu Haltung als indifferent oder nachlässig erschienen sein (67.88).

Damit ist für K. aber noch nicht alles gesagt. In methodisch innovativer Weise wertet er im umfangreichen Kap. IV (89- 198) auch Geschichten von Heilungen und Ähnlichem aus, bei denen die Problematik von Unreinheit im Spiel ist (89 f.: "non-conflict traditions"). Besprochen und in ihren frühjüdischen Kontext eingeordnet werden Heilungen von Aussatz (sara'at, lepra; Lepra im heutigen Sinn dürfte kaum mit gemeint sein) (Mk 1,40-45; vgl. Lk 17,11-19; P. Egerton 2 in Verbindung mit P. Köln 255) und von Genitalausflüssen (Mk 5,25-34), ferner Texte, die über den Umgang mit Totenunreinheit Aufschluss geben: Erzählungen von Totenerweckungen (Mk 5,21- 24.35-43; Lk 7,11-17), das Wort über die Unreinheit von Gräbern (Lk 11,44 par. Mt 23,27) sowie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37; V. 30 nennt das Opfer hemithane). Als Ergebnis hält K. fest, dass Jesu Handeln und Reden in allen drei besprochenen Bereichen "must have been considered unacceptable in contexts where expansionist ideals were influential" (197). Wenn Jesus aber innerhalb seines jüdischen Kontexts wahrzunehmen ist, stellt sich die Frage nach Erklärungsmodellen für diese Haltung.

Dieser Aufgabe widmet sich der dritte Teil des Buchs, "Explanatory Models". In drei Kapiteln wird je ein Modell diskutiert, wobei keines exklusiven Anspruch habe. Zunächst "Purity and morality" (Kap. V; 200-262): K. nimmt Berührungen zwischen den Konzepten der Unreinheit und der Sünde wahr; in Anknüpfung an und Auseinandersetzung mit J. Klawans spricht er im Blick auf Reinheit von einer "moral trajectory" (214-219) im antiken Judentum, der auch Jesus zuzuordnen sei. Dieser habe zwischen innerer und äußerer Unreinheit unterschieden (vgl. Mt 23,25-28 par.; EvThom 89; Mk 7,15) und dabei eine nachlässige Haltung zu körperlicher Reinigung vertreten (gegen P. Fredriksen), wofür K. auch P. Oxy. 840 auswertet. Ein weiteres Modell berücksichtigt Jesu Verankerung im Judentum Galiläas (Kap. VI "Purity and diversity"; 262-299). K. sichtet hier verschiedene Deutungen der Situation Galiläas und schließt sich im Wesentlichen der Sicht S. Freynes an, der zufolge Galiläa eine konservative Prägung aufwies, zugleich aber durch Spannungen zwischen Landbevölkerung und hellenistischen Städten gekennzeichnet war. Das expansive Reinheitsverständnis sei deshalb schwer umzusetzen gewesen. Jesu Haltung "might represent a way out of the dilemma in which many of the common people were caught" (293). Das dritte Modell setzt bei einem von B. Chilton und K. Berger angeregten dynamischen bzw. offensiven Verständnis von Reinheit an (Kap. VII "Impurity and demonic threat"; 300-339). K. versucht vor allem mit Bezug auf Texte aus Qumran nachzuweisen, dass Unreinheit auch ein dämonischer Aspekt beigelegt wurde. Umgekehrt wohne Exorzismen der Aspekt der Reinigung inne. Jesus sei weder als jüdischer Kyniker (B. Mack) noch als galiläischer Chasid (G. Vermes) oder salomonischer Magier (M. Smith) zu beschreiben, sondern als "messenger of the eschatological kingdom" (324-327): "What was perceived by some as indifference may be seen as a paradoxical acceptance of the impurity concept, in which the power of the kingdom was understood as stronger than the threats associated with impurity, thus relativizing the need for conventional purification" (339).

Im vierten Teil der Arbeit bietet K. "Concluding Reflections" unter der Überschrift "Reconstruction and interpretation" (Kap. VIII; 343-353). Neben einer knappen Rekapitulation der wichtigsten Ergebnisse finden sich Überlegungen zur kirchengeschichtlichen und gegenwärtigen Bedeutung der Stellung Jesu zum Thema. Eine Bibliographie (354-385; Buchstaben V und W sind vermischt) sowie Stellen-, Sach- und Autorenregister (386-402) beschließen den materialreichen Band.

K. hat ein wichtiges Buch geschrieben, das durch konsequente Einordnung Jesu in seinen sozialen und religiösen Kontext, z. T. mit Hilfe innovativer kulturanthropologischer Theorien, bei gleichzeitiger Herausarbeitung von Spezifika der Jesustradition zu überzeugen weiß. Die Reinheits-Thematik gehört zu den komplexesten Bereichen der Halacha, und K. hat sie mit erheblichem Sachverstand bewältigt. Die Grundzüge seiner Deutung verdienen m. E. Zustimmung, auch wenn man im einen oder anderen Punkt anderer Meinung sein mag. Im Grundsatz zu begrüßen ist, dass die Fixierung auf Mk 7 aufgegeben ist; allerdings ist der diesem Kapitel gewidmete Abschnitt allzu knapp ausgefallen. Auch fragt man sich, ob K. das Ergebnis nicht auch mit geringerem Aufwand hätte erreichen können: Eine Menge zweitrangiger Probleme wird mit verhandelt, und manchmal erscheinen die Pfade der Diskussion sehr verschlungen (z. B. taucht Mk 7 später noch einmal kurz auf [228-231]; der Bezug zur basileia theu kommt spät und bleibt in der Darstellung schmal). Der offenkundige Anspruch, eine Vielzahl von Theoriebildungen zu berücksichtigen, mindert bisweilen die Trennschärfe in der Argumentation. Weiterer Klärung bedarf m. E. der von K. gebrauchte Begriff der Indifferenz. Während er damit meist auf das Erscheinen Jesu in der Wahrnehmung anderer abhebt, kann er auch schreiben, Jesus "carried relativization to the point of neglect" (261). Lässt sich solch ein Verhalten noch in (verlässliche) Halacha einzeichnen? Dieser Befund ließe sich nun in der Tat mit der Stellung Jesu zum Sabbat vergleichen. In der durch neuere exegetische Ansätze und ein vertieftes Verständnis der jüdischen Quellen differenzierter gewordenen Debatte zum Gesetzesverständnis Jesu verdient K.s Beitrag höchste Aufmerksamkeit.