Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2004

Spalte:

928 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Mandolfo, Carleen

Titel/Untertitel:

God in the Dock. Dialogic Tension in the Psalms of Lament.

Verlag:

London-New York: Sheffield Academic Press 2002. X, 222 S. gr.8 = Journal for the Study of the Old Testament. Supplement Series, 357. Lw. £ 50,00. ISBN 0-8264-6200-6.

Rezensent:

Manfred Oeming

Die Untersuchung lenkt die Aufmerksamkeit (1-26) auf ein bislang unterbewertetes Phänomen, nämlich auf den Sprecherwechsel innerhalb von "multi-voiced-psalms". Innerhalb der Klagepsalmen, die - wie der Titel sagt - "Gott auf die Anklagebank setzen", begegnen mitten in den Ich- und Wir-Passagen sowohl Nominalsätze in der dritten Person, die über das Wesen JHWHs handeln und ihn als Richter und Retter beschreiben (didactic interjections, vgl. die Übersichtstabelle 105 f.), als auch Imperative, die zu Vertrauen oder Buße auffordern (imperative interjections).

In sehr knappen Auslegungen einiger Psalmen (28-104) deutet M. diese dialogischen Elemente als Belege für ein reales kultisches Geschehen (vgl. die Arbeiten von Gerstenberger/Buss). Gegenüber einer einseitigen Spiritualisierung der Gesprächselemente als Selbstgespräche wie auch gegenüber einer sapientialen Interpretation des Kultes (z. B. Perdue) bevorzugt M. eine umfassende Synthese von Kult mit Weisheit und Pädagogik (26 f. 123 f.). - Die Theologie der nominalen Aussagen über JHWH lässt sich nach M. am besten in Analogie zum Deuteronomium verstehen. Das, was Patrick Miller (vgl. JBL 118 [1999], 3-18) im Dialog von Dtn ("as a settled theological voice") und Psalmen wahrnimmt, vollzieht sich nach M. in den Psalmen selbst (142 f.).

Ein eigener Abschnitt ist der Diskursanalyse von Mikael Bakhtin (149-196) gewidmet, dessen Thesen zu Heteroglossie und Dialogismus ausführlich referiert werden. "The way discourses ordered in a given society is the most sensitive and comprehensive register of how all its other ideological practices are ordered including its religion, education, state organization, and police" (149). Der Gefahr einer ideologischen "kanonischen" Einheitssprache (monoglottic unitary language) wehren die Psalmen durch ihre dialogische Struktur. Darin sind sie vorbildlich. Der Ritus mit seinen vielen Stimmen bietet - so mit Rekurs auf die Ritualtheorien von C. Geertz - ein Modell dafür, wie die gesellschaftliche Wirklichkeit sein sollte. Dialogische Klagepsalmen sind "embryonale Hiobbücher" (189 f.), die freilich durch die Dominanz der didaktischen Stimme und der orthodoxen Imperative entschärft und für die öffentliche Aufführung tauglich gemacht worden seien (189 f.).

Insgesamt versteht M. die Psalmen als lebendiges dialogisches Geschehen, das sich - ganz im Sinne der Theologie von W. Brueggemann - zwischen "unorthodoxen" Erfahrungen und Gefühlen des zweifelnden Einzelnen und den orthodoxen Erklärungen der frommen Leviten abgespielt haben soll. Als Anregung für die Terminologie schlägt M. die Gattung "dialogic lament psalm" vor.

Der zweifelsohne anregende Versuch der Deutung des Stimmenwechsels wirft freilich Fragen auf: Ist es nicht etwas romantisierend und idealisierend, wenn Orthodoxie und Heterodoxie in ein harmonisches kultisches Duett gebracht werden? Wie soll man sich die Rolle der Leviten konkret vorstellen? Als Personen, die einem Klagenden zuhören, um ihm ins Wort zu fallen und orthodoxe Lehrsätze und Imperative wieder und wieder einzubringen? Als Phrasendrescher (wie Hiobs Freunde gerne verzeichnet werden)? Ich bezweifle, dass die kultische Erklärung des Sprecherwechsels zutrifft. Mir bleibt der innere Dialog des Beters, der die Lehrsätze des Katechismus und die Imperative zu Vertrauen und Hoffnung selbst einführt und mit seinen unerklärlichen Leiderfahrungen ins Gespräch bringt, wesentlich wahrscheinlicher. "Warum bist du so betrübt und warum so unruhig in mir, meine Seele. Harre auf Gott, denn ich werde ihn noch preisen, der meines Angesichts Hilfe ist und mein Gott" (Ps 42,12).