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Ausgabe:

September/2004

Spalte:

918–920

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Veltri, Giuseppe

Titel/Untertitel:

Magie und Halakha. Ansätze zu einem empirischen Wissenschaftsbegriff im spätantiken und frühmittelalterlichen Judentum.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1997. XII, 372 S. gr.8 = Texte und Studien zum antiken Judentum, 62. Lw. Euro 89,00. ISBN 3-16-146671-3.

Rezensent:

Stefan Schreiner

Das Bemühen um die richtige Unterscheidung zwischen dem, was als Magie oder in den Bereich der Magie und damit zum "geheimen Wissen" gehörig zu definieren, und dem, was - im Gegensatz dazu - "als geprüft und erlaubt geltendes Wissen" abzugrenzen ist, hat eine bis weit in die Antike zurückreichende Geschichte, an der auch die rabbinische Tradition ihren Anteil hat, auch wenn das rabbinische Judentum selbst keinen eigenen Begriff für Magie bzw. das Magische entwickelt hat. Um die Sache jedoch, d. h. um die genannte Abgrenzung hatte sich die rabbinische Halacha gleichwohl immer wieder zu bemühen, und zwar in dem Maße, in dem die Entwicklung insbesondere der ärztlichen Heilkunst zwischen einem durch "magische Praktiken" gewonnenen Wissen und damit Verbotenem und empirisch gefundenem Wissen und damit Erlaubtem immer wieder neu zu unterscheiden zwang. Damit ist das Problem genannt, das Hauptthema der hier vorzustellenden, 1996 vom Fachbereichsrat des Fachbereiches Philosophie und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin als judaistische Habilitationsschrift angenommenen Arbeit ist. Wie im Untertitel der Arbeit angezeigt ist, steht dabei im Mittelpunkt die Frage, wie das spätantike und frühmittelalterliche Judentum halachisch mit diesem Problem umgegangen ist. Damit schließt die Arbeit zugleich - und sie tut dies, um es eingangs bereits zu sagen, auf ebenso gekonnte wie überzeugend gelungene Weise - eine wesentliche Forschungslücke; denn wenn auch das Material, das die spätantike und frühmittelalterliche rabbinische Literatur dazu bereithält, bemerkenswert breit ist, hat es die bisherige Forschung, trotz aller vorhandenen Studien, doch eher stiefmütterlich behandelt.

Nach einem forschungsgeschichtlichen Rückblick, der der Formulierung des status quaestionis dient (1-25), beschreibt der Vf. drei Fragenkreise, die zu behandeln waren, nämlich zuerst die Bestimmung dessen, was die Rabbinen bei ihrer Unterscheidung von Magie, Zauberei und Wissenschaft unter "Verbotenem" und was unter "Erlaubtem" verstanden haben, sodann das rabbinische Verständnis vom Magier im Vergleich zum Zauberer und schließlich die Frage, ob die rabbinischen Gelehrten des Mittelalters hinsichtlich Magie, Zauberei und Wissenschaft und der Beziehungen zwischen ihnen die Vorstellungen ihrer antiker Vorgänger geteilt haben oder nicht.

Zunächst also geht es um Fragen der Definition des (wahren) Zauberers/der (wahren) Zauberin (mekhashef) und des "Augentäuschers" (ohez 'enayim), des Nekromanten (ba'al ov, yad'ani) und des Wahrsagers (me'onen) und damit um die Unterscheidung zwischen Magie, Mantik und Zauberei, bei der die Rabbinen als unterscheidendes Kriterium "tatsächliches Bewirken von etwas" ('oseh ma'aseh) ansahen und entsprechend zwischen unerlaubter "Zauberei" (mekhashfut), auf die die Todesstrafe stand, und straffreier "Augentäuschung" (ahizat 'enayim) trennten. Auf der Grundlage minutiöser Analyse der relevanten tannaitischen und amoräischen Texte mSan VII, ySan VII und bSan 67b-68a untersucht der Vf. dazu die entsprechende Halacha und ihre Entwicklung. Dabei behandelt er - sich der Abfolge der rabbinischen Diskussionen des Themas anschließend - zuerst das Thema Bestrafung und danach erst die Definition von Zauberei, Nekromantie und dergleichen (27-92), die gleichsam von ihren jeweiligen Sanktionen her und durch sie bestimmt werden. Gegenstand des nächsten Teils ist das, was im rabbinischen Sprachgebrauch darkhe ha-emori ("Amoriterbräuche") und huqqot ha-goy bzw. hoq [huqqe] ha-goyim ("nichtjüdische Satzungen") genannt wird und Inbegriff "fremder", in ihrer Herkunft nicht (mehr) bestimmbarer Bräuche bzw. Praktiken geworden ist, deren halachischer Evaluierung das Prinzip empirischer Überprüfbarkeit ihres Ergebnisses zu Grunde lag (93-220). Gestützt wiederum auf Übersetzung und ausführliche Kommentierung der einschlägigen diesbezüglichen rabbinischen Texte - neben einigen Abschnitten aus der Mischna sind dies vor allem tShab VI und VII, yShab VI,9/8cd und bShab 67ab - und der darin entfalteten rabbinischen Halacha kann der Vf. zeigen, dass bei den Rabbinen die "Amoriter" gleichsam den Platz einnehmen, den in der antiken, griechisch-römischen Literatur die magoi/magi innehaben. Wenn die "Amoriterbräuche" in der halachischen Diskussion auch gelegentlich in Parallele zu den "nichtjüdische[n] Satzungen" erwähnt werden, sind sie dennoch nicht gleichbedeutend mit ihnen, insofern - wie der Vf. mit Recht sagt - als die "Amoriterbräuche" per definitionem zum Verbotenen gehören, "nichtjüdische Satzungen" hingegen nicht nur diskutiert, sondern zulässig sind und übernommen werden können.

Für das mittelalterliche Judentum bot diese Unterscheidung übrigens die Möglichkeit, Nichtjüdisches zu integrieren, ohne gegen das Verbot der Befolgung der "Amoriterbräuche" zu verstoßen. Als positives Gegenüber der "Amoriterbräuche" und damit Gegenstück zu "Magie, Zauberei" figuriert in der rabbinischen Literatur die refu'a ("Heilung"), mit der sich der Vf. im dritten Kapitel auseinander setzt (221-282). Um refu'a von unerlaubten Bräuchen bzw. Praktiken unterscheiden zu können, definierten sie die Rabbinen, ebenso wie die Zauberei, von ihrem Ergebnis, vom "tatsächlichen Bewirken" her: Denn danach ist refu'a "all das, was tatsächlich Heilung bewirkt" (kol she-hu marpe'). Mit anderen Worten, nicht die Herkunft eines Brauchs oder einer Praktik entschied über seine/ihre Akzeptanz, sondern allein sein/ihr am Ergebnis ablesbarer Erfolg oder anders gesagt: seine/ihre "empirische Überprüfbarkeit". Gestützt wiederum auf Übersetzung und Kommentierung der relevanten rabbinischen Texte geht es dabei um das medizinische Wissen und den Beruf des Arztes ebenso wie um die dafür geltenden halachischen Richtlinien. Entsprechend weit ist der Bogen der Untersuchung gespannt. Er reicht von der Analyse der in der rabbinischen Literatur überlieferten Rezeptsammlungen als Zeugnisse des medizinischen (und magischen) Wissens (222- 249) und deren Kodifizierung (249-266) bis hin zum Verhältnis zwischen Rabbinen und Ärzten auf dem Hintergrund der "Auseinandersetzungen zwischen der Wissenschaft der Ärzte und der (ethischen) Autorität der Rabbinen". Erörtert wird in diesem Zusammenhang auch die Frage nach Art und Umfang der Übernahme und Aneignung griechisch-römischen medizinischen Wissens, bei der der Vf. angesichts der in der rabbinischen Literatur nur spärlich vorhandenen, zudem isolierten Aussagen allerdings mit Recht zur Behutsamkeit mahnt.

Die Ergebnisse, zu denen der Vf. infolge seiner ebenso gründlichen wie sorgfältigen Quellenanalysen gelangt, sind bemerkenswert: Das betrifft zuerst die Definition und Wandlung im Verständnis der "Berufe" des "Zauberers" (mekhashef) und "Augentäuschers" (ohez 'enayim) und deren Identifikation als Nekromant, der als mekhashef mit dem Tode zu bestrafen ist, und Wahrsager (me'onen), der als ohez 'enayim straffrei ausgeht, sowie die Gegenüberstellung von "Amoriterbräuchen" und "Heilung" (283-286). Das betrifft sodann und vor allem den Begriff von Wissenschaft, den die Rabbinen in ihrer Unterscheidung von "Zauberei" und "Heilung" entwickelt haben (286-293). Bemerkenswert dabei ist nämlich, dass die mit ihrer Definition einhergehende Unterscheidung von Erlaubtem und Verbotenem einen nachgerade empirischen Wissenschaftsbegriff zu erkennen gibt, insofern als es von der empirischen Überprüfbarkeit abhängt, ob in einem Fall eine verbotene, im anderen eine erlaubte Handlung oder Praktik vorliegt. Der Nekromant ist ein mekhashef, weil er etwas bewirkt, der Mantiker hingegen ein me'onen bzw. ohez 'enayim, und der Arzt schließlich, wenn er Heilung bewirkt, "der würdige Verbreiter erlaubter Kenntnisse", denn "was heilt, ist nicht verboten" (293).

Mit der Figur des "Augentäuschers" schließlich haben die Rabbinen "den Prototypen des (Natur-)Wissenschaftlers" geschaffen, "der sich der Geheimnisse der Natur zugunsten seiner eigenen Interessen oder seiner Umwelt zu bedienen wußte. Auch wer - wie die Rabbinen - die Geheimnisse der Betrüger lüftet, trägt zur Bildung der Wissenschaft bei, weil beide, Gaukler und Kritiker, auf das empirische Prinzip (die Feststellung der wirklichen Ursache und des wirklich Verursachten) zurückgreifen" (287). Diese Wissenschaft basierte "nicht auf dem Anspruch innerer Logik, sondern auf ihrem Erprobtsein und auf ihrer Überlieferung, die aus der Erfahrung kommt", wie die Sammlungen von "Bräuchen" und Rezepten belegen (290). Darüber hinaus ermöglichte dieser empirische Wissenschaftsbegriff der Rabbinen, der sich ausschließlich am Ergebnis orientierte und das Erprobte, das, was einen feststellbaren Effekt erzielte, zum halachisch Erlaubten erklärte, auch aus "fremden" Wissensquellen zu schöpfen, dann nämlich, wenn das daraus Übernommene "die rechte Wirkung zeigte" (291). Der Arzt als der exemplarische Repräsentant dieser empirischen Wissenschaft tritt damit zwar in Konkurrenz zum rabbinischen Gelehrten, doch er bleibt seinem ethischen Urteil unterworfen: Jedoch kann sein Wissen, wenn es geprüft und als probat befunden worden ist, genutzt werden. Und es war wohl diese Pragmatik, die nicht zuletzt der ärztlichen Heilkunst jene Entwicklung innerhalb des Judentums ermöglicht hat, die spätestens seit dem Mittelalter so beeindruckend zu erleben ist.

Mit der Herausarbeitung dieses empirischen Wissenschaftsbegriffs hat der Vf. am Ende auch einen Schlüssel gefunden, mit dessen Hilfe die spätantike und insbesondere die frühmittelalterliche so genannte magische Literatur, wie sie nicht zuletzt die Geniza-Texte belegen, aufgeschlossen und die Demarkationslinie zwischen unerlaubter Zauberei und erlaubter Magie bzw. Wissenschaft neu gezogen werden kann.