Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2004

Spalte:

916–918

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Neudecker, Reinhard

Titel/Untertitel:

The Voice of God on Mount Sinai. Rabbinic Commentaries on Exodus 20:1 in the Light of Sufi and Zen-Buddhist Texts.

Verlag:

Roma: Editrice Pontificio Istituto Biblico 2002. XVIII, 157 S. gr.8 = subsidia biblica, 23. Kart. Euro 15,00. ISBN 88-7653-619-1.

Rezensent:

Michael von Brück

Es erfordert Mut, wenn ein renommierter Historiker und gelehrter Philologe der rabbinischen Literatur das Wagnis unternimmt, eine religionsvergleichende Studie zu schreiben, die Texte dekontextualisiert und eine gemeinsame "mystische Grunderfahrung" annimmt, die es erlaubt, relativ unabhängig von höchst differenten historischen Situationen Texte zusammenzustellen und unter phänomenologisch bestimmten Themen zu bündeln. Ausgehend von dem Vers Exodus 20,1, der die Gottesoffenbarung am Sinai einleitet, untersucht N. die Konsequenzen für religionstheologische Theoriebildungen. Er geht aus von den höchst interessanten rabbinischen Interpretationen, die über Jahrhunderte Explikationen dieses Verses versucht haben, die eine ganze Theologie der Offenbarung umfassen könnten, und vergleicht die Theologoumena mit Zitaten aus der Sufi-Literatur und dem Zen-Buddhismus. Während N. im Feld der rabbinischen Exegese zu Hause ist und die Originaltexte kommentiert, fußen seine Parallelisierungen auf Übersetzungen und der Sekundärliteratur zu Sufismus und Zen. Für den Sufismus wird ausgiebig aus den Werken über Ibn al-'Arabi (W. C. Chittick, M. Chodkiewisz) zitiert, Zen wird vornehmlich in der Darstellung von D. T. Suzuki und einigen modernen Autoren, die Koan-Sammlungen interpretieren, wahrgenommen.

Das Buch ist klar aufgebaut: Sieben Themen, die sich nach des Autors Lesart der rabbinischen Traditionen ergeben, werden in einer Einleitung, die untergliedernde Problemstellungen angibt, knapp eingeführt und dann jeweils durch rabbinische Texte sowie Zitate aus dem Sufismus und dem Zen erhellt: 1. das göttliche Attribut der Gerechtigkeit, 2. ein einziges Wort (in der Vielheit der Aussagen), 3. die umfassende Vollkommenheit der Offenbarung, 4. die zeitfreie Präsenz des Offenbarungsereignisses, 5. die Einheit in einander widersprechenden Aussagen, 6. die gegensätzlichen Handlungen Gottes, 7. die Frage nach dem Adressaten der Offenbarung. Das letzte Kapitel über den "großen Klang" der Stimme Gottes beschäftigt sich ausschließlich mit rabbinischen Texten.

Besonders interessant sind die Vergleiche zwischen Koan- Praxis und dem sufischen dhikr (19 f.), die Thematik der revelatio continua, die in allen Traditionen fundamental ist, sowie die Ausführungen über die Einheit der Gegensätze (92 ff.). Eher problematisch sind verkürzende Bemerkungen zu einigen historisch viel stärker zu differenzierenden Begriffen: So wird die buddhistische trikaya-Theorie nur ungenau behandelt (13), die geschichtliche Neuheit der Avatamsaka-Literatur verkannt (15f.), und auch der Vergleich des buddhistischen Begriffspaares prajna/karuna mit dem Gerechtigkeitsbegriff in den semitischen Traditionen (29 f.) ist schwierig.

Gott ist, ob auf rabbinischem, neuplatonischem, sufischem oder zen-buddhistischem Hintergrund, der letztlich Unnennbare, die coincidentia oppositorum, und darum nur in nicht-dualistischer Sprachform sagbar. Die Widersprüche in den Aussagen der Offenbarung(en) so wie der Theologien, werden in der Tiefeninterpretation eins. Als Quintessenz kann ein Zitat Ibn al-'Arabis (gest. 1240) gelten (116), das der Autor zu seiner eigenen erkenntnisleitenden Maxime macht, die an die bekannte Philosophia perennis anknüpft, sehr wohl aber auch bei neuplatonischen Autoren sowie in buddhistischen Sutras auftaucht und eben von dem berühmten Sufi-Philosophen aus Sevilla stammt, dessen Werk in der europäischen Philosophiegeschichte zu wenig bekannt ist und doch an oberste Stelle gehört: "... Boten wurden gesandt entsprechend der Unterschiede der Zeiten und der Vielfalt der Situationen. Jeder von ihnen bestätigte die Wahrheit der anderen. Keiner von ihnen unterschied sich vom anderen, was die Wurzeln betrifft, auf die sie sich stützten und von denen sie redeten, auch wenn die Argumente und Vorschriften verschieden waren. Offenbarte Religionen wurden hinab gesandt, und daraufhin kamen die Vorschriften. Die regelnde Eigenheit war zeitlich und situativ bestimmt, genau wie Gott erklärt hatte: Jedem von euch haben Wir einen rechten Weg gegeben und das Gesetz offenbart. (Koran, 5:48) So stimmen die Wurzeln überein ohne einander im Geringsten zu widersprechen."

Ein außerordentlich anregendes Werk, das im Streit der Religionen um Offenbarungs- und Wahrheitsansprüche zu denken geben sollte!