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Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

596–598

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hofrichter, Peter Leander

Titel/Untertitel:

Modell und Vorlage der Synoptiker. Das vorredaktionelle "Johannesevangelium".

Verlag:

Hildesheim-Zürich-New York: Olms 1997. 205 S. gr.8 = Theologische Texte und Studien, 6. ISBN 3-487-10371-0.

Rezensent:

Walter Schmithals

In Fortsetzung und Korrektur älterer Untersuchungen, in denen manches "noch ungesichert, einzelnes auch überzogen" (5) war, legt Hofrichter einen umfassenden Entwurf zur Literarkritik der Evangelien-Überlieferung vor, der zwar die Zwei-Quellen-Theorie voraussetzt, im übrigen aber gänzlich unkonventionelle Wege beschreitet.

Ausgangspunkt der von H. entfalteten Traditionsgeschichte ist "ein Bekenntnishymnus der frühen hellenistischen Jesusbewegung" (133), der sich im Prolog des Johannesevangeliums verbirgt, von H. freilich nicht im einzelnen rekonstruiert wird.

Dieser Hymnus wurde in einem zweiten Schritt "Grundlage uferloser gnostischer Spekulationen" (133), die sich an die ersten beiden Kapitel der Genesis anschließen; weitere "Interpretationsfolien bildeten der Schöpfungsmythos des platonischen Dialogs Timaios, die mittelplatonische Dreischichtigkeit von Welt und Mensch, sowie die ägyptischen Motive der ramessidischen Reichstrias, der Göttertriaden und der mannweiblichen Emanationsreihen in den Kosmogonien von Heliopolis und Hermupolis" (134), was alles sich im kanonischen Johannes-prolog noch wiederfinden soll. So besagt z. B. Joh 1,3, wonach alles durch den Logos und ohne ihn nichts geschaffen wurde, daß die "Weisheit" ohne Gott, "ihren Paargenossen", das Nichts, nämlich "die nichtige Welt der Finsternis" hervorbrachte (134).

Auf diese Fehlentwicklung reagiert der Verfasser des ,Hellenistenbuches’, wie H. die ursprüngliche Fassung des Johannesevangeliums nennt. Das vorredaktionelle Johannesevangelium stellt also den dritten Schritt der Traditionsgeschichte dar. Bei diesem Buch haben wir es mit der ältesten Evangelienschrift zu tun; sein Verfasser hat also die literarische Gattung ,Evangelium’ geschaffen. Dies erste Evangelium ist antignostisch, zugleich aber gnosisnah und antipetrinisch.

An diesem Hellenistenbuch orientiert sich der Verfasser des Markusevangeliums, womit der vierte Schritt des literarischen Prozesses erreicht wird. Ein zentraler Abschnitt (33-83) der vorliegenden Untersuchung dient dem Nachweis, daß bei Übereinstimmungen zwischen Markus- und Johannesevangelium dem letzteren die Priorität zukommt. Auch Matthäus, dessen Evangelium im übrigen nach der Maßgabe der Zwei-Quellen-Theorie zu erklären ist, hat, folgt man Hofrichter auf S. 128, das ,Hellenistenbuch’ in seiner ursprünglichen Fassung benutzt.

In einem fünften Schritt kommt es unter dem Einfluß des Markusevangeliums zu einer antipetrinischen Redaktion (82) des freilich schon von Hause aus antipetrinischen ,Hellenistenbuchs’, danach oder daneben aber auch - ein möglicherweise also sechster Schritt - zu einer "petrinischen Redaktion" (83), "deren Absicht es war, die Autorität des Petrus in der Hellenistenschrift zu verankern" (128). Folgt man H. auf S. 83, hat Matthäus erst diese bearbeitete Fassung des ,Hellenistenbuches’ vorliegen gehabt.

Diese redigierte Schrift dient jedenfalls auf einer siebten Stufe der Entwicklung dem Evangelisten Lukas als Vorlage - auf S.162 lesen wir freilich, Lukas habe wie Matthäus das vorredaktionelle Johannesevangelium benutzt -, der im übrigen nicht nur auf Markus und auf der Spruchquelle fußt, sondern auch das Matthäusevangelium gekannt und benutzt hat. In einem zweiten zentralen Abschnitt seines Buches (85-160) bemüht sich H. nachzuweisen, daß die Berührungen des Johannesevangeliums mit den Evangelien nach Matthäus und Lukas, die nicht auf das Markusevangelium zurückgehen, gleichfalls die johanneische Priorität voraussetzen. Dies gilt auch für die Kindheitsgeschichten bei Matthäus und Lukas, "deren literarische Abhängigkeit vom Hellenistenbuch aus den vorhandenen Texten" zwar "vielfach nicht evident" (133), dennoch aber aus einem Vergleich mit dem Johannesprolog zu erschließen ist. Ein Beispiel: "Lukas paraphrasiert das Sein des Eingeborenen an der Brust des Vaters mit dem Verweilen des zwölfjährigen Jesus im Tempel von Jerusalem" (159). Dabei setzt die lukanische Kindheitsgeschichte außerdem die matthäische voraus; "Lukas übernimmt das Konzept als solches, Namen, Orte und manche Motive, verbessert aber das Verfahren" (133). Alle Synoptiker haben also "mit der Logosspekulation auch jede Präexistenzaussage" unterdrückt (164).

Im Fortgang der Entwicklung kommt es zu einer neuerlichen antipetrinischen Redaktion des ,Hellenistenbuches’, die H. gelegentlich auch ,Lieblingsjünger-Redaktion’ nennt, und schließlich scheint er mit einer neunten Stufe zu rechnen, die uns mit Hilfe der aus Bultmanns Auslegung vertrauten ,kirchlichen Redaktion’ - diesen Ausdruck verwendet H. freilich mehrdeutig- das kanonische Johannesevangelium beschert hat.

Der Umfang des ,Hellenistenbuches’ einerseits, der verschiedenen Redaktionen andererseits wird von H. nicht umfassend, sondern lediglich in Einzelfällen bestimmt, so daß man die vorausgesetzten Entwicklungen nur begrenzt kontrollieren kann.

Dreh- und Angelpunkt der von Hofrichter versuchten Beweisführung ist der Vergleich der 51 von ihm vorausgesetzten Textparallelen von Johannes mit dem Markusevangelium und der 27 entsprechenden Parallelen mit Matthäus und Lukas. Dieser Vergleich wurde im einzelnen "in einem durch fünf Semester geführten Forschungsseminar mit drei bis vier Mitgliedern" durchgeführt. Hinsichtlich der Prioritätsverhältnisse wurden dabei "Benotungen" von A bis D vergeben, wobei mit A jene Stellen bewertet wurden, die "ein eindeutiges und evidentes Gefälle von Johannes zu den synoptischen Evangelien" zu erkennen geben, während diese Evidenz bei den mit B und C benoteten Parallelen zunehmend abnimmt und sich bei den wenigen mit D beurteilten Vergleichen eher umkehrt. In die Bewertungen fließen jeweils die Einzelvoten der Mitglieder des Forschungsseminars ein. Sie sind also "als Konsensergebnisse aufgrund argumentativ begründeter subjektiver Einschätzungen zu verstehen. Eine im Laufe der Arbeit gewachsene Voreingenommenheit der Gruppe zugunsten der hier vertretenen Theorie soll dabei nicht bestritten werden" (32).

Die vorgelegten argumentativen Begründungen erscheinen freilich den subjektiven Einschätzungen deutlich unterlegen. Schon die Anzahl der vorausgesetzten Parallelen geht erheblich über alles hinaus, was man auch bei großzügiger Betrachtungsweise sonst anzusetzen pflegt.

Daß die Kindheitsgeschichten bei Matthäus und Lukas auf den (vorredaktionellen) Johannesprolog zurückgehen, ist freilich eine These, die auch H. selbst nicht mit seiner exegetischen Analyse zu beweisen trachtet, sondern die sich für ihn mit einer gewissen Notwendigkeit aus den vorausgesetzten literarischen Prozessen ergibt. Im übrigen beruht die Argumentation meist auf allgemeinen und nicht selten historisierenden Beobachtungen von zweifelhafter Beweiskraft: "Die Darstellung des Hellenistenbuches ist die stimmigere und absichtslosere" (44); "Die Erzählung des Hellenistenbuches ist sehr einfach und plausibel" (53); "Nur die Darstellung des Hellenistenbuches ist wirklich realistisch" (118) usw. Häufig lautet das Argumentationsmuster: "Eine umgekehrte Änderung ist hingegen schwer denkbar" bzw. "schwer vorstellbar"(49) oder ähnlich, ohne daß damit mehr als ein subjektiver Eindruck vermittelt würde.

Eine Auseinandersetzung mit der sonstigen literarkritischen Diskussion unterbleibt; dementsprechend fehlen im allgemeinen Forschernamen und Anmerkungen. "In dieser ersten Präsentation einer veränderten Sichtweise soll vor allem die Evidenz der Texte selbst zur Wirkung kommen und zum Weiterdenken anregen" (32). Somit ergibt die vorliegende Untersuchung im besten Fall eine Arbeitshypothese, deren Evidenz durch die vorgelegten Textanalysen keineswegs erhellend dargetan wird. Man könnte sich nur dann zum Weiterdenken in der angegebenen Richtung ermutigt fühlen, wenn zunächst zumindest eines der Evangelien unter den anvisierten literarischen Voraussetzungen erfolgreich und methodisch stringent in seiner Gänze analysiert und ausgelegt würde. Die Behandlung der synoptischen Kindheitsgeschichten durch H. ist freilich nicht geeignet, entsprechende Erwartungen zu wecken.

Dem vorliegenden Buch ist ein Blatt mit etwa 30 Corrigenda beigelegt worden, das allerdings nur einen geringen Bruchteil der zahllosen Versehen enthält, mit denen der Leser Seite um Seite belästigt wird. Diese äußerliche Nachlässigkeit scheint mir symptomatisch zu sein für die Darlegung einer Konzeption, in die sich ihr Autor offensichtlich seit langen Jahren hineingesponnen hat, ohne daß es ihm gelingt, dem Leser viel mehr als subjektive und nicht selten unbesorgt widersprüchliche Eindrücke zu vermitteln. So bleibt der Leser auch am Ende ratlos, wenn er auf S.162 sowohl liest: "Mehr und Besseres an historischen Informationen zum Wirken Jesu, als das ,Johannesevangelium’ bieten kann, ist von den Synoptikern nicht zu erwarten", als auch: "Anstelle der Zeichen und fiktiven Reden des Hellenistenbuches verwendet Markus authentisches Traditionsmaterial ...".