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Ausgabe:

September/2004

Spalte:

905–908

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lipinski, Edward

Titel/Untertitel:

The Aramaeans. Their Ancient History, Culture, Religion.

Verlag:

Leuven-Paris-Sterlin: Peeters 2000. 697 S. m. zahlr. Abb. gr.8 = Orientalia Lovaniensia analecta, 100. Kart. Euro 95,00. ISBN 90-429-0859-9.

Rezensent:

Siegfried Kreuzer

Mit dem hier vorzustellenden opus magnum liegt nun innerhalb relativ kurzer Zeit neben dem Werk von Paul E. Dion (Les Araméens, 1997; vgl. ThLZ 126 [2001], 501-505) eine weitere, umfassende Darstellung der aramäischen Geschichte, Kultur und Religion vor. Abgesehen vom größeren Umfang behandelt L. auch die Aramäer in Babylonien.

Zur Frage einer Frühbezeugung der Aramäer im 3. und im frühen 2. Jt. v. Chr. ist L. zu Recht skeptisch. Auch für L. ist die erste eindeutige Bezeugung der Aramäer in den Feldzugsberichten von Tiglat Pileser I. um 1100 v. Chr. gegeben, wobei wahrscheinlich auch die schon etwas früher erwähnten Ahlamu, womit offensichtlich nomadische und halbnomadische Stämme bezeichnet wurden, mit den späteren Aramäern in Verbindung stehen. Dagegen wird der (im Plural mit der typisch aramäischen Endung "n" gebildete) Name der aus Nordsyrien kommenden lokalen Hilfskräfte der Ägypter bei der Schlacht von Kadesch von L. nicht diskutiert. Das in Amos 9,7 als Herkunftsbereich der Aramäer erwähnte Qir bringt L. in Verbindung mit dem Gebiet der jetzt in den Emar-Texten für das 13. Jh. bezeugten, etwas südlich von Emar am mittleren Euphrat lebenden "Menschen des Landes von Qir" (44), für die bereits ein König (!) genannt wird. Zur Etymologie des Namens Aram vermutet L. die Bedeutung Wildstier und eine damit in Verbindung stehende ursprünglich totemistische soziale und religiöse Struktur. Die Verbindung dieser möglichen Etymologie mit der Verehrung des - doch keineswegs nur aramäischen, sondern typisch syrischen - Wettergottes Hadad und dessen für das 10.-8. Jh. bezeugten Darstellung als auf einem Stier stehend erscheint mir dagegen weniger überzeugend, weil solche Darstellungen weit verbreitet und auch schon wesentlich älter sind. Von L. ebenfalls ausführlich diskutiert werden die biblischen Erwähnungen der Aramäer, insbesondere in Dtn 26,5 und in den Erzvätererzählungen, wobei L. durchaus literarisch und chronologisch differenziert.

In den folgenden Kapiteln III bis XIII wird die historische Entwicklung der verschiedenen Gebiete bzw. Stadtstaaten, vom Haburgebiet in Nordostsyrien bis hin nach Aram-Damaskus in Südsyrien, dargestellt. L. folgt hier einer Linie, die sich offensichtlich sowohl aus historischen wie aus geographischen Gründen nahe legt und wie sie - bis hin zur Einordnung des etwas abseits im Nordwesten gelegenen Gebietes von Sam'al - auch vom Rez. vorgenommen wurde (Die Religion der Aramäer auf dem Hintergrund der frühen aramäischen Staaten, in: P. Haider/M. Hutter/S. Kreuzer [Hrsg.], Religionsgeschichte Syriens, Stuttgart 1996, 101-115). In beeindruckender Weise wird von L. die Fülle des Quellenmaterials ebenso wie die Fülle der wissenschaftlichen Literatur dargestellt und diskutiert. Bezeichnend ist die große Bedeutung der assyrischen Quellen für unsere Kenntnis der Geschichte der Aramäer, worin sich die Bedeutung des Konflikts und später der Verbindung der aramäischen und assyrischen Kultur und Geschichte spiegeln.

Im Blick auf die deutliche Dominanz der assyrischen Quellen kann man sich die Frage stellen, warum wir von der Seite der Aramäer im Wesentlichen nur die auf Stein geschriebenen Königsinschriften sowie vereinzelte Inschriften auf anderen Objekten besitzen. Angesichts der Bedeutung der aramäischen Stadtstaaten und der von daher anzunehmenden Rolle aramäischer Verwaltungsstrukturen und Schreiberkenntnisse ist der Mangel an Quellen doch sehr auffallend. Wahrscheinlich hängt der Unterschied in den Quellen mit der unterschiedlichen Sprache und dem unterschiedlichen Schreibmaterial zusammen. Während die Assyrer mit ihrer Keilschrift auf Tontafeln schrieben, schrieben die Aramäer offensichtlich auf Papyrus bzw. organischem Material (vgl. dazu die bekannte Darstellung aus Nimrud von ca. 730 v. Chr. mit zwei vor einer hochrangigen Persönlichkeit stehenden Schreibern, von denen der eine eine Tontafel, der andere eine [Papyrus-?]rolle in der Hand hält).

L. zieht aber nicht nur die vielfältigen assyrischen und altaramäischen Quellen heran, sondern vielfach auch die Quellen aus späteren Zeiten bis hin zu den antiken und christlichen Quellen. Es ist hier nicht möglich, auf die Fülle des vorgestellten Materials und der diskutierten Fragen einzugehen. Im Folgenden können nur einzelne markante Aspekte erörtert werden.

Die Geschichte der "Aramaeans in Babylonia" (Kap. XIV; 409-489) sieht L. in vier Phasen ablaufen. In der 1. Phase, die vom 11. bis gegen Ende des 10. Jh.s dauerte, waren die Aramäer Nomaden, die Raubzüge durchführten, und zwar vor allem im Norden, während die Chaldäer entlang der Sümpfe im Süden des Landes siedelten. In der 2. Phase, die in etwa mit dem 9. Jh. zusammenfällt, sind die Babylonier, Chaldäer und Aramäer im Kampf gegen Assyrien verbündet. Die Chaldäer siedeln entlang des Euphrat und des Meerlandes, während von Westen her nordarabische Stämme in das Land eindringen. In der 3. Phase, die der 1. Hälfte des 8. Jh.s entspricht, beginnen die Aramäer und die nordarabischen Stämme in Babylon sesshaft zu werden. In der 4. Phase kämpfen die Aramäer und Nordaraber gegen die Assyrer, und zwar meist als Verbündete der Chaldäer und der Elamiter. Die um 745 von Tiglat Pileser III. begonnene assyrische Politik der Eroberung und Deportation hatte keinen bleibenden Effekt (409). Es fällt auf, dass in babylonischen, assyrischen und hebräischen Texten ab dem Ende des 9. Jh.s deutlich zwischen Aramäern und Chaldäern unterschieden wird (416). In differenzierter Diskussion kommt L. zu dem Ergebnis, dass die beiden Gruppen nicht zu unterschiedlichen westsemitischen Völkerschaften gehören, sondern dass sie sich nur durch die sozioökonomische und kulturelle Entwicklung unterscheiden (417). Offensichtlich kamen die Chaldäer im 11. oder 10. Jh. nach Untermesopotamien und wurden dort sesshaft, während die nachkommenden Aramäer zunächst noch nomadisch lebten. Auch in der sesshaften Zeit behielten die Chaldäer ihre Stammesstruktur und Identität, wobei, ganz abgesehen von der späteren chaldäischen Dynastie Babylons von 625-539, schon im 8. Jh. babylonische Herrscher aus chaldäischen Stämmen stammten. - Der hier vergleichsweise gut bezeugte Prozess der Einwanderung und Sesshaftwerdung nomadischer Stämme ist ein nicht uninteressantes Analogon für die Frühgeschichte Israels.

In den weiteren Kapiteln widmet sich L. der Kultur und Religion der Aramäer: Kap. XV: Nomadism, Royalty, Dignitaries; Kap. XVI: Society and Economy (Ackerbau, Viehzucht, Waldnutzung, städtische Lebenswelt, Luxusgüter, Metallarbeiten, Textilien, Handel, Lohnarbeit, Frauen; zum letztgenannten Thema vertritt L. die Meinung, dass die Frauen bei den Aramäern eine relativ freie und gleichrangige Stellung hatten, wofür er allerdings Rückschlüsse aus doch sehr späten Dokumenten, d. h. aus Dokumenten der hellenistisch-römischen Zeit ziehen muss); Kap. XVII: Law: L. weist darauf hin, dass es auf Grund der Konservativität des Rechtslebens durchaus möglich sei, von späteren Texten über die vom 7. bis zum 4. Jh. v. Chr. faktisch bestehende Lücke hinweg Schlüsse auf die altaramäische Zeit zu ziehen. - Gegenüber der wohl doch etwas zu großen Zuversicht im Blick auf die Kontinuität alter aramäischer Rechtstraditionen müsste man m. E. bei den aramäischen Texten aus Elephantine (5. Jh. v. Chr.) und erst recht beim syrisch-römischen Gesetzbuch von 726 n. Chr.(!) auch an den - über das Judentum bzw. Christentum vermittelten - Einfluss der alttestamentlichen Rechtssätze denken.

Das Kapitel über die aramäische Religion (599-640) beginnt mit dem Kult der Betyle. Für eine Reihe von aramäischen Ortsnamen kann er zeigen, dass ein heiliger Stein bzw. eine Massebe den Bezugspunkt bildete. Das gilt etwa für den Namen Nusaybin (später: Nisibis), der nicht vor der aramäischen Besiedlung bezeugt ist (von der Wurzel nsb, aufstellen, vgl. Massebe).

Dieselbe Bedeutung hat auch der Ortsname Sikkan, der allerdings schon ab ca. 2000 v. Chr. belegt ist. Der in der Antike berühmte schwarze Stein in Emesa (Homs, am Orontes) trug den Namen Ammuda, was ebenfalls einen aufgestellten Stein oder eine heilige Steinsäule bezeichnet. Auch das aramäische Wort Qam (vgl. hebräisch qum) hat dieselbe Bedeutung. L. verweist darauf, dass in Gen 22,21 Qemuel der Vater Arams ist. Allerdings gibt es auch schon ältere entsprechende amoritische Personennamen aus Obermesopotamien, z. B. Qamu-Haddu. Damit kommt L. zeitlich und geographisch in ein sehr weites religionsgeschichtliches Feld, vom westsemitischen Bereich ab ca. 2000 v. Chr. bis hin zu den Nabatäern. - Leider stellt er jedoch nicht die Frage nach der Bedeutung für die religionsgeschichtliche Entwicklung. Zweifellos hatten im obermesopotamischen und syrischen Bereich heilige Steine im Sinne von Masseben, aber auch heilige Berge als Wohnort von Gottheiten eine große Bedeutung, aber: Kann dieses Element nun als typisch aramäisch gelten? Die Tatsache, dass diese Namen und Bezeichnungen weiter zurückgehen und auch voraramäisch belegt sind, spricht m. E. eher dafür, dass von den Aramäern zu einem erheblichen Teil lokale Gegebenheiten übernommen wurden. Andererseits ist es wohl in der Tat so, dass die Verehrung heiliger Steine insbesondere im nomadischen Bereich eine große Rolle spielte.

Zum Ahnenkult (605-607), bezieht sich L. vor allem auf das Wort camm, das nach ihm den (verstorbenen) Ahnen bezeichnet. Es gibt in der Tat eine Reihe von theophoren Namen, die dieses Element enthalten. Allerdings erhebt sich die Frage, ob die allgemeinere Bedeutung "Verwandter" auf den (verstorbenen) Ahnen eingeengt werden kann und damit auch die in den theophoren Namen genannten Götter als Ahnengötter verstanden werden müssen. Im Prinzip stellt sich hier dasselbe Problem wie beim theophoren Element 'ab, also bei der Bezeichnung Gottes als Vater. Gilt sie einer Gottheit, die letzten Endes den Ahnen und damit wohl auch die Unterwelt repräsentiert, oder drückt sie die besondere Nähe der Gottheit aus? Die Problematik setzt sich bei der Gottheit 'Attar fort. Ob 'Attar in dem Namen Attar-Ammu wirklich als Vorfahre gedacht ist ("'Attar is identified with the Ancestor", 607 f.), hängt wieder daran, ob Ammu den Ahnen bezeichnet oder nicht doch die Nähe und Zuwendung der Gottheit ausdrückt.

Die Diskussion des Verhältnisses von Hadad und Il sowie Rakab-Il und Schamasch (mit denen Reschef und Arqu-Reschef in verschiedener Weise kombiniert werden) sowie des Sonnengottes entspricht im Wesentlichen der vom Rez. vorgenommenen Analyse der Zusammenstellungen in den Königsinschriften von Sam'al (s. o.; 106). Dort findet sich fünfmal eine ähnliche Formel mit leichten Variationen in der Zusammenstellung und Reihenfolge der Gottheiten. Während die Sonnengottheit erst in assyrisch-babylonischer Zeit Einfluss erhielt, war die Mondgottheit sehr bedeutend. Die wichtigste Gottheit, jedenfalls in der uns greifbaren Zeit, war jedoch der Sturmgott Hadad. Leider geht L. auch hier nicht auf die Frage ein, ob man diesen Wettergott als typisch aramäisch betrachten kann oder ob er, wie es mir wahrscheinlicher erscheint, doch erst jeweils bei der Sesshaftwerdung übernommen wurde.

Abschließend wendet sich L. den Begräbnissitten zu, wobei er darauf hinweist, dass die archäologischen Befunde aus den Ausgrabungen aramäischer Orte leider noch nicht zusammenfassend ausgewertet sind. Ein schwieriges Problem ist, dass es neben der normalen Bestattung zumindest in Gozan im 10. oder 9. Jh. auch Leichenverbrennung gab - man fand zwei Grabkammern mit einer Urne, die Asche enthielt. Ebenfalls in Gozan wurden unter dem Palast Grabanlagen entdeckt, was wohl auf die Bestattung und dann weitere Verehrung der königlichen Ahnen schließen lässt. Die Hadad-Inschrift aus Sam'al belegt die Invokation des verstorbenen königlichen Ahnen und die Gabe eines Totenmahls an die Verstorbenen. Auf Grund der Quellenlage bleibt offen, ob diese Riten auch allgemein in der Bevölkerung geübt wurden.

Das äußerst gehaltvolle Buch wird erschlossen durch einen Generalindex sowie einen eigenen Index der Bibelstellen und eine Liste der Abbildungen und der Landkarten (641-697). Leider gibt es kein Verzeichnis der zahlreichen weiteren aramäischen, assyrischen und anderen Texte, und nicht zuletzt fehlt auch ein Literaturverzeichnis bzw. wenigstens ein Autorenregister. Zweifellos hätte dies nochmals eine erhebliche Vermehrung des Umfangs bedeutet. Andererseits hätte man mit einem Literaturverzeichnis eine praktisch vollständige Bibliographie zu den Aramäern zur Hand.

Das Werk bietet nicht nur eine enorme Fülle an Material, sondern auch eine ausgezeichnete Analyse und Diskussion. Dass man sich an manchen Stellen deutlichere Entscheidungen von L. wünschte, wurde bereits vermerkt. Dass selbst ein so profunder Kenner der Materie an vielen Stellen im Urteil zurückhaltend ist, liegt aber nicht nur an der Vorsicht des Autors, sondern auch daran, dass wir für viele Sachverhalte in der Tat nur sehr punktuelle Quellen und Informationen besitzen. Insgesamt ist L. für diesen Band zu danken und ihm zu gratulieren. Als 100. Band der OLA liegt zugleich ein der Reihe würdiger Jubiläumsband vor.