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Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

593–595

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Boer, Martinus C. de

Titel/Untertitel:

Johannine Perspectives on the Death of Jesus.

Verlag:

Kampen: Kok Pharos 1996. 360 S. gr.8 = Contributions to Biblical Exegesis and Theology, 17. Kart. hfl 69,90. ISBN 90-390-0191-X.

Rezensent:

Johannes Beutler

Die gegenwärtige Johannesforschung ist nach wie vor von methodologischer und hermeneutischer Vielfalt gekennzeichnet. Einer zunehmenden Zahl von stärker textimmanent ausgerichteten Arbeiten steht eine abnehmende Zahl von Studien mit stärker historischer Orientierung gegenüber. Die vorgelegte Arbeit des Niederländers M. C. de Boer ist vor allem durch dessen nord-amerikanische Lehrer und Kollegen geprägt, unter denen J. Louis Martyn, Raymond E. Brown, Wayne A. Meeks und Robert T. Fortna herausragen. Sie ist vorwiegend dem historischen Paradigma verpflichtet.

Die Grundidee der Studie ist einfach: Es lassen sich drei grundlegende Krisen der johanneischen Gemeinde erkennen, denen (zählt man die Phase vor der ersten Krise mit) vier Phasen der Geschichte dieser Gemeinde entsprechen. Bevor der Vf. dieses Grundmodell darstellt (Kap. 2), führt er kurz in aktuelle Probleme heutiger Johannesforschung ein (Kap. 1.). Wichtiger Gesprächspartner ist dabei die Bultmannschule, die vor allem die Inkarnation des Offenbarers betont und dem Tod Jesu kaum einen Eigenwert einräumt (E. Käsemann, W. Loader). Die Frage nach dessen Stellenwert ist dem Vf. zufolge nicht pauschal zu beantworten. Vielmehr sind die unterschiedlichen Fragestellungen und Bedürfnissen der johanneischen Gemeinde in den Phasen ihrer Entwicklung zu berücksichtigen. Eine erste Phase reicht von der Entstehung der Gemeinde bis zum Ausschluß von einzelnen ihrer Mitglieder aus dem Synagogenverband. Die vorherrschende Christologie ist hier diejenige vom Messias Jesus, der sich durch seine Zeichen ausweist und so dem Judentum verkündigt werden kann. Sie endet mit dem Ausschluß erster Gemeindemitglieder. Die zweite Phase reicht von diesem Ereignis bis zur ausbrechenden Verfolgung von johanneischen Christen durch Juden. Der Tod Jesu wird hier selbständiges Thema. Die dritte Phase reicht von der beginnenden Verfolgung bis zu einem Schisma innerhalb der joh Gemeinde über die Bedeutung der Menschheit Jesu. Die vierte und letzte Phase ist nach diesem Schisma anzusetzen.

Wie stellt sich nun die Sicht des Todes Jesu in den verschiedenen Phasen und Schichten dar? Entsprechend den angenommenen Unterteilungen kann von Joh I bis IV gesprochen werden. Joh I sieht Jesus vor allem als den Propheten und Messias Israels, der sich durch Zeichen ausweist. Der Tod Jesu ist dabei das größte und abschließende Zeichen (vgl. Joh 20,30 f. im Kontext), ohne freilich einen selbständigen Stellenwert zu besitzen (vgl. Kap. 3). Er muß nur apologetisch gerechtfertigt werden, was im Rückgriff auf die Schrift geschieht (vgl. 91-93). Eine Heilsbedeutung kommt ihm kaum als solchem zu, sondern eher der Taufe zur Vergebung der Sünden (93 f.). Dies ändert sich in der zweiten Phase, die durch den beginnenden Synagogenausschluß joh Christen gekennzeichnet ist (Kap. 4). Literarisch ist diese Schicht oder Phase durch die Aussagen über den kommenden und den zum Vater heimkehrenden Gottessohn gekennzeichnet. Jüdische Vorlagen und Vorstellungsmodelle für den kommenden Gottessohn sind Theologumena über die Weisheit bzw. die Tora, die in die Welt kommt (114). Wichtiger sind die Aussagen über das Scheiden des Offenbarers aus der Welt. Es wird u. a. in den Abschiedsreden mit Jesu Auferstehung identifiziert. Der Vf. sieht dabei einen engen Zusammenhang zwischen dem Abschied Jesu und demjenigen der Gläubigen: Durch den herausgestellten Abschied Jesu sollen die Gläubigen der joh Gemeinde ermutigt werden, ihren auf sie zukommenden Abschied von der Synagoge durch Ausschluß ins Auge zu fassen und anzunehmen (135). Auch hier hat dem Vf. zufolge der Tod Jesu noch keinen deutlich erkennbaren theologischen Stellenwert.

Dies ist auch deshalb der Fall, da der Vf. die joh Sprüche vom Menschensohn und seinem Geschick der nächsten Stufe zuordnet, d. h. Joh III. Auf dieser Ebene wird bereits das Martyrium erster Mitglieder der joh Gemeinde im Gefolge des Konflikts mit der Synagoge, aber wohl mit Hilfe römischer Behörden (vgl. 208), vorausgesetzt. Beherrschende theologische Formel ist jetzt der Menschensohn, der erhöht und verherrlicht werden muß (Kap. 5). Der Vf. geht davon aus, daß die joh Menschensohnworte erst sekundär, wenn auch johanneisch, ihrem Kontext zugewachsen sind. Sie dienen nicht zuletzt dazu, die Mitglieder der joh Gemeinde zur Annahme
des Geschickes ihres Meisters zu ermutigen. Erst auf der letzten Stufe, d. h.
nach dem erfolgten Schisma in der joh Gemeinde, wird eine eigentliche soteriologische Bedeutung des Todes Jesu erkennbar (Kap. 6). Gegenüber den Sezessionisten, die sich von der Gemeinde getrennt haben, betont der Vf. der Johannesbriefe die Heilsbedeutung des Blutes Jesu und damit seines Erlösertodes.

Ging es im Evangelium (vgl. Joh 19,34b.35) vielleicht noch um das Wasser als Symbol der Taufe und Sündenvergebung bei der Initiation, so nun (in 1Joh 1,7.2,2; 5,6) vor allem um das Blut als Ausdruck der Sündentilgung auch der nach der Taufe begangenen Sünden, im Gegensatz zur Meinung der Sezessionisten, die eine solche Reinigung nicht mehr für nötig hielten. Das Kommen Jesu im Wasser in 1Joh 5,6 hält der Vf. dabei für eine Umschreibung der Heilswirksamkeit Jesu in der Verleihung des durch das Wasser symbolisierten Geistes und der Sündenvergebung (vgl. 260 ff.). Noch eigenwilliger ist die Deutung der Wassermetaphorik in Joh 13,1.20: Der Vf. sieht hier das Blut Jesu versinnbildlicht, das für Petrus und die übrigen Jünger vergossen werden soll und das als solches Heil vermittelt (aufgrund dieser Deutung schreibt der Vf. denn auch diesen Abschnitt der spätjohanneischen Redaktion zu: 283-287). In einer Zeit zunehmenden enthusiastischen Selbstverständnisses von Gemeindemitgliedern würde so an die Notwendigkeit der Tilgung auch postbaptismaler Sünden erinnnert.

Ohne Zweifel wird hier eine faszinierende Gesamtsicht der Theologie und vor allem Soteriologie der joh Gemeinde vorgelegt. Der Vf. erweist sich durchgängig als vertraut mit der neueren Literatur, vor allem des englischen Sprachgebiets. Zum Durchhalten des historischen Paradigmas gehört inzwischen auch auf dem nordamerikanischen Kontinent fast schon so etwas wie Trotz angesichts des weithin beherrschenden reader-response-criticism.

Dennoch bleiben gegenüber dem hier vorgelegten Entwurf doch ernsthafte Bedenken. Methodisch erscheint es immer fraglicher, ob es möglich ist, eine Kompositionsgeschichte des Johannesevangeliums und eine Theologiegeschichte der joh Gemeinde von den frühesten Schichten her aufzubauen. Es erscheint fast wie der Versuch, einen Tell von der frühesten Schicht her auszugraben. Was wir heute vorliegen haben, ist das abgeschlossene Corpus Iohanneum, und der einzige Zugang dazu dürfte in der jüngsten Schicht liegen. Dabei bietet sich dem Ausleger neben bzw. vor dem historischen Paradigma das literarische an (vgl. dagegen Vf. 311: Verbindung von Theologie und Geschichte).

Im einzelnen ergeben sich Schwierigkeiten auf fast allen vom Vf. angenommenen Stufen. So läßt sich z. B. die Geschichte vom Weinwunder von Kana nicht ohne Schwierigkeiten der angenommenen judenchristlich-messianischen Sicht von Joh I zuordnen. Einfluß der hellenistisch geprägten Motivwelt des Dionysos-Mythos muß hier ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Bei der Aufteilung von Joh II und Joh III will die Zuordnung der Menschensohnworte nicht recht überzeugen.

Die These S. Schulz’ (1957) von einer selbständigen Menschensohn-Thematradition hat sich nicht durchsetzen können. Innerhalb des Johannesevangeliums sind die Menschensohnworte zu eng mit ihrem Kontext verwoben. Dies gilt besonders von Joh 12,20.36 (vgl. dazu Biblica 71, 1990, 333-347). "Erhöhung" und "Verherrlichung" des Menschensohnes stehen dabei im Johannesevangelium für das Geschick des Gottesknechtes nach Jes 52,13 LXX. Die Bedeutung dieser Stelle ist vom Vf. nicht ausreichend gesehen, vielmehr werden beide Verbalaussagen nacheinander und ohne erkennbaren Bezug zur Gottesknechtsthematik behandelt (vgl. 157-217). Die soteriologische Bedeutung kommt dabei dann nicht ausreichend in den Blick. Auch die Deutung des "Kommens" Jesu "im Wasser" bleibt eigenwillig. Für das "Kommen" als Umschreibung des Wirkens Jesu fehlen eher die Belege.

Wenn so bei der Lektüre des vorgegelegten Bandes auch viele Fragen offenbleiben, so hat der Vf. doch das Verdienst, jetzt schon ein wenig gegen den Trend auf die Notwendigkeit auch historischer Untersuchungen zu den joh Texten hingewiesen und dazu einen kohärenten Beitrag vorgelegt zu haben.