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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

852–854

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Máté-Tóth, András

Titel/Untertitel:

Theologie in Ost(Mittel)Europa. Ansätze und Traditionen.

Verlag:

Ostfildern: Schwabenverlag 2002. 285 S. m. 3 Abb. u. 10 Tab. gr.8 = Gott nach dem Kommunismus. Kart. Euro 25,00. ISBN 3-7966-1058-7.

Rezensent:

Harm Klueting

Das inzwischen im ehemaligen Westen wie im früheren Osten unisono als "Wende" bezeichnete Ende der Zweiteilung Europas im Jahre 1990 ließ an einem alten Brückenkopf, in Wien, das "Pastorale Forum zur Förderung der Kirchen Ost-(Mittel)Europas" entstehen, das u. a. die Reihe "Gott nach dem Kommunismus" herausgibt und mit dem Projekt AUFBRUCH ein Netzwerk aufzubauen sucht, dem es um die Verbindung unter Theologen und Kirchenleuten geht, "die im Prozess der Repositionierung der Kirche in Ost(Mittel)Europa aus der Theologie her aktiv sind" (9). Der ungarische katholische Theologe mit einem Lehrstuhl in Szeged, der sich als Stipendiat des Pastoralen Forums in Wien habilitiert hat, ordnet sich in diesen Kontext ein. Er fragt danach, "ob und inwiefern es in dieser Region Ost-(Mittel)Europa - früher auch Zweite Welt genannt - eine spezifische Art von Theologie gibt: eine Art Theologie der Zweiten Welt" (11). Die Antwort lautet, dass es "eine Theologie auf der Basis osteuropäischer Erfahrungen" (126) gebe bzw. geben müsse, die nicht in den Fehler verfallen dürfe, die Antworten der Theologie des Westens zu übernehmen: "Das wäre eine Art Indoktrination in die Freiheit, eine geistige Kolonisierung übler Art" (126). Er zieht die Parallele zur Befreiungstheologie der "Dritten Welt", die auf der Erfahrung der Armen beruhe, und konstatiert das Vorhandensein der Voraussetzungen einer "Theology after Gulag" (145) in den postkommunistischen Reformländern der ehemaligen "Zweiten Welt". "In den Gesellschaften dieser Länder existieren genügend Verfolgungserfahrungen, um über sie eine theologische Reflexion machen zu können" (146). Doch müsste diese Theologie nicht nur "an die Ostmenschen adressiert" (128), sondern auch "von Menschen der Oststaaten entworfen" werden: "Wer denn sonst soll eine existenziell tröstende und kreative Theologie für den ehemaligen Ostblock entwickeln, wenn nicht die, die diese Erfahrungen gelebt haben und zum Teil auch dadurch geformt sind?" (128).

Der Vf. trägt in den Kapiteln "Ost(Mittel)Europa - Kairos für die Theologie", "Kaleidoskop der Wende", "Wende im Westen", "Ost-Erfahrung - Ost-Theologie", "Historische Trauer - Fallbeispiel Ungarn", "Zukunft der Vergangenheit", "Zur Theologie der Laien", "Säkulare Kultur in Ost(Mittel)Europa" und "Osterweiterung der EU und Kirche", die streckenweise mehr wie Aufsätze eines Sammelbandes wirken, eine Fülle eindrücklicher Schilderungen, Zustandsbeschreibungen und Analysen vor. Auffällig ist, dass der Vf. nahezu ganz im Katholischen bleibt und das Protestantische - in Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, in Polen, der früheren DDR, im rumänischen Siebenbürgen, in Ungarn oder Slowenien - nur marginal in den Blick nimmt. Wem das als Nachteil erscheint, der wird entschädigt durch die Diagnose eines Katholizismus, an dem das II. Vaticanum vorübergegangen ist: "Als das Zweite Vatikanische Konzil in Rom tagte, war die nachstalinistische Kirchen- und Religionsverfolgung noch voll im Gange. Die Delegationen der Länder Ost(Mittel)Europas waren voll von kommunistischen Agenten durchsetzt oder konnten - wie im Falle von Rumänien - gar nicht ausreisen" (23). "Die Länder Ost(Mittel) Europas hatten zu nachkonziliaren theologischen Entwicklungen praktisch keinen Zugang. Deshalb fällt es diesen Ländern schwer, die zeitgenössische Theologie aus den anderen Teilen der Welt zu verstehen" (23). Auch hier zeigt der Vf. eine Parallele zur Befreiungstheologie der Dritten Welt auf: "Die eine Kirche, die aus vielen Welten zusammenkommt, ließ sich nicht mehr als eine einheitliche betrachten. Die Konzilsdokumente legitimierten im Prinzip das Miteinbeziehen eigener Welterfahrungen in die Selbstbestimmung der Ortskirchen. [...] Dieser Impuls fand seine erste eigenständige theologische Gestalt in der Befreiungstheologie. Diese ihre eigene Erfahrungswelt in den Mittelpunkt der theologischen Reflexionsarbeit stellende Theologie erarbeitet ihre Grundpositionen gegenüber der europäischen Welt und europäischen Kirche. Sie nannte die Grunderfahrungen ihrer Theologie mit dem Sammelbegriff Dritte Welt [...] Hinter dem damaligen eisernen Vorhang lebte eine sprachlose Kirche, deren Vertreter zwar am Konzil teilgenommen haben. Sie waren aber nur sehr begrenzt in der Lage, ihre eigene Situation theologisch und sozialwissenschaftlich zu reflektieren und aus dieser Reflexion heraus an den Diskussionen als Zweite Welt teilzunehmen" (77).

Unter dem Titel "Babylon in Europa" listet der Vf. die in Ost(Mittel)-Europa gesprochenen Sprachen auf, wobei er "nur die Sprachen ohne die Dialekte" (51) zusammenstellen will. Dennoch erscheint - um nur ein Beispiel herauszugreifen - neben "Hochdeutsch" auch "Bayerisch". So entsteht eine beeindruckende Liste von Sprachen, wobei auch nach der sozialen Wirklichkeit dieser Sprachen heute zu fragen wäre: Wie viele Personen in Polen sprechen denn Slowinzisch oder Alt-Preußisch? Es ist auch mindestens ungenau, wenn der Vf. sagt, dass "nach der politischen Wende [...] geographisch, politisch und kulturell motivierte Diskussionen über Mitteleuropa" (100) aufblühten. Die Mitteleuropadebatte lief signifikant bereits vor der so genannten Wende in Österreich und in anderen Nachfolgestaaten der Donaumonarchie, darunter Ungarn. Es wäre zu untersuchen, in welchem Zusammenhang die Mitteleuropa-Debatte vor 1989 mit der politischen Wende und mit der Mitteleuropa-Debatte nach 1990 stand.

Zum Schluss bleibt zu fragen, ob das in die Theologie hineingenommene Gegenüber von Erster, Zweiter und Dritter Welt und ob damit das Postulat einer "Theologie der Zweiten Welt" nicht eine Sache von gestern ist. Das ist die Frage, ob nicht morgen anderes - Multireligiosität unter der Bedingung des Gleichgültigwerdens von Religion - viel drängender sein wird, und ob nicht der Satz des Vf.s in der Einen Welt gilt, dass die Kirche "auf ihrem Pilgerweg in der modernen Gesellschaft riskieren [muss], aus ihrer Armut Kraft zum Glauben zu schöpfen" (140).