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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

849–851

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Kahle, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Wege und Gestalt evangelisch-lutherischen Kirchentums. Vom Moskauer Reich bis zur Gegenwart.

Verlag:

Erlangen: Martin-Luther-Verlag 2002. 359 S. 8. Kart. Euro 24,00. ISBN 3-87513-117-7.

Rezensent:

Erich Bryner

Das Buch ist eine von Wilhelm Kahle (1914-1997) selber gestaltete Neubearbeitung seines 1962 bei Brill (Leiden und Köln) erschienenen Werkes "Aufsätze zur Entwicklung der evangelischen Gemeinden in Russland".

Der erste Teil ist weitgehend unverändert geblieben. In ihm zeigt der Vf. die Geschichte der Evangelischen Kirche in Russland von den Anfängen im 16. Jh. bis ins 20. Jh. auf, charakterisiert die Einwanderung von Lutheranern aus Mittel- und Westeuropa, die Gemeindebildung und die Sozialstruktur der Gemeinden und bietet zahlreiche Angaben über die Entstehungszeiten, Mitglieder und Größen. Der zweite Teil "Gestalt und Gefährdung der Gemeinden" handelt von den inneren Entwicklungen und weist nachdrücklich auf Besonderheiten der Geschichte des Luthertums in Russland hin: Die Diasporasituation in den riesigen Weiten Russlands brachte es mit sich, dass die einzelnen Gemeinden stark auf sich selber angewiesen sein mussten, weil die Pastoren dauernd auf Reisen waren. An vielen Orten konnte nur alle paar Wochen einmal ein regulärer Gottesdienst gehalten werden und man musste auch mit Lesegottesdiensten und anderen Notlösungen zurecht kommen. Die Pfarrvakanzen dauerten oft sehr lange, und die Anforderungen an den Pfarrdienst waren sehr hoch: Neben einer vielseitigen Ausbildung hatte der Pastor über eine robuste Gesundheit zu verfügen, um die ständigen Reisestrapazen durchhalten zu können. Das Diasporachristentum zeichnete sich durch besondere Intensität, ein ausgeprägtes konfessionelles Bewusstsein und eine erstaunliche Widerstandskraft aus. Die Unterschiede in der Finanzkraft und in der sozialen Zusammensetzung der einzelnen Gemeinden waren enorm.

Der dritte Teil "Der Weg zur Kirche" ist der Gründung und der Geschichte der Kirchenorganisation gewidmet, schlägt den Bogen von den Anfängen bis zur Gegenwart und ist gegenüber der Erstfassung stark erweitert worden. Bemerkenswert sind insbesondere die Ausführungen über die Sowjetzeit: 1924 hatte sich die lutherische Kirche unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen neu zu konstituieren, 1925 konnte sie trotz aller Einschränkungen des religiösen Lebens ein Theologisches Seminar in Leningrad ins Leben rufen, das bis 1934 existierte. Interessant ist die Feststellung Kahles, dass die Sowjets bei der Kontrolle der religiösen Aktivitäten und innerkirchlichen Vorgänge dieselben Methoden gebrauchten, die in der Zarenzeit bis zum Toleranzedikt von 1905 vom russischen Innenministerium für die Überwachung der nicht-orthodoxen Religionsgemeinschaften angewandt wurden (139). Die 1930er Jahren waren eine Zeit des Sterbens ganzer Gemeinden. Die letzte lutherische Kirche in der Sowjetunion war die Petri-Pauli-Kirche in Moskau; sie wurde im August 1938 geschlossen. Für die Evangelischen bedeutete die Deportation der Deutschen aus dem europäischen Russland ins Innere Asiens im Zweiten Weltkrieg einen sehr tiefen und schmerzlichen Einschnitt, denn zahlreiche Familien, Dorfgemeinschaften und Kirchgemeinden wurden auseinander gerissen. Trotz allem konnten in der Mitte der 1950er Jahre wieder lutherische Kirchgemeinden ins Leben gerufen und eine lutherische Kirche geschaffen werden. Heute ist es die "Evangelisch Lutherische Kirche in Russland und anderen Staaten" (ELKRAS). Der Vf. verstand es, deren Geschichte sehr lebendig und mit vielen feinen und nachdenkenswerten Beobachtungen nachzuzeichnen.

Von besonderem Interesse ist der erheblich erweiterte vierte Teil "Theologische Fragestellungen", der mit 120 Seiten genau einen Drittel des Buches umfasst. Der Vf. stellt fest, dass die Theologiegeschichte der Lutherischen Kirche in Russland im Wesentlichen parallel zur deutschen und baltischen verlaufen ist, aber durch eine andere Verteilung der Gewichte eigene Ausprägungen erhielt. Der bäuerlich-konservative Grundzug der weit von den Hauptstädten entfernten Landgemeinden brachte es mit sich, dass die Elemente, die nach Russland eindrangen, meist einen längeren Bestand hatten. Die Weite des geographischen Raumes und die geringen Kontakte der Gemeinden untereinander begünstigte die Entstehung vieler Sonderentwicklungen. Erweckungen kamen vor allem im 19. Jh. häufig vor, und oft entstanden spezifische Formen einer erwecklichen, teilweise auch ekstatischen Frömmigkeit, aber auch eine rigorose, weltabgewandte Ethik mit gesetzlichen oder gar pharisäischen Ausprägungen und einer scharfen Unterscheidung zwischen "Bekehrten" und "Unbekehrten". Wegen der seltenen Anwesenheit eines Pastors war das Verhältnis zum kirchlichen Amt anders und häufig distanzierter als etwa in Deutschland. Die Gemeinden mussten sich weitgehend selber versorgen. Die Laien waren stark gefordert. Hausandachten, Lektüre von Andachtsbüchern und Predigtsammlungen spielten eine große Rolle und mussten oft den Religionsunterricht ersetzen. Vielerorts entstanden Brüderkreise, die zum Teil mit den Pastoren gut zusammenarbeiteten, zum Teil aber auch eigene Wege gingen und zu Separationen führten. Ab 1917 kamen die Erfahrungen einer christlichen Existenz in einem religionsfeindlichen Umfeld und die Erfahrungen des Martyriums dazu.

Das Zusammenleben von Lutheranern und Reformierten unterlag zum Teil sehr heftigen Spannungen. Es gab auch viele Fälle einer guten Zusammenarbeit. Der Vf. weist darauf hin, dass exakte Untersuchungen fehlen und viele Fragen noch immer offen sind (216). Das Verhältnis zwischen Lutheranern und Orthodoxen beschreibt der Vf. als ein weitgehend beziehungsloses Nebeneinander. Die Evangelischen waren sich ihrer Andersartigkeit bewusst und erwarteten in der Regel nichts von den Orthodoxen; sie sahen deren innerkirchliche Reformen als unzureichend an, fühlten sich ihnen gegenüber überlegen und betrachteten die russische Kirche als rückständig. Die Orthodoxen sahen im Luthertum eine Angelegenheit der Deutschen. Sie gewährten den Einwanderern zwar Religionsfreiheit, hatten aber kein Verständnis für eine andere Ausprägung des christlichen Glaubens als die eigene. Sie fürchteten sich vor Überfremdung, Häresie und Proselytismus. So kam es kaum zu tieferen Begegnungen oder gar zu theologischen Gesprächen. Dies schloss allerdings gelegentliche Zeichen eines freundlichen nachbarschaftlichen Miteinanders oder eine gelegentliche Zusammenarbeit in praktischen Fragen der Nächstenliebe nicht aus. Dem Staat gegenüber verhielten sich die Lutheraner in der Regel loyal. Sie waren zumeist apolitisch und fühlten sich in der Defensive. An den Revolutionen von 1905 und 1917 nahmen sie nicht aktiv teil.

Das 5. Kapitel "Auftrag und Ausrichtung" behandelt die Fragen der Nachfolge Christi, der Mission und der Diakonie und zeigt, dass die Lutherische Kirche vor allem in den Hauptstädten im Vergleich zu ihrer Größe beachtliche Leistungen vollbrachte. Insbesondere die pietistischen und erwecklichen Elemente in der lutherischen Frömmigkeit führten zu missiona- rischem und diakonischem Engagement, während die Vertreter der lutherischen Neoorthodoxie und der liberalen Theologie mehr zur Beschäftigung mit sich selber und zu innerkirchlichen Projekten neigten. Der Vf. schließt seine material- und erkenntnisreiche Studie mit einem Zitat aus der Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeinden im Russischen Reich von 1766/67 von Anton Friedrich Büsching: "Ich habe ... die Anmerkung gemacht, dass die Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeinden im Russischen Reich kein unerheblicher Teil der Geschichte der evangelisch-lutherischen Kirche überhaupt sey" (332). Es ist dem Vf., dem wir eine ganze Reihe tief schürfender Studien zu diesem Themenbereich verdanken, auch in diesem Buch gelungen, dies überzeugend zu zeigen.