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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

843–846

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Sohns, Ricarda

Titel/Untertitel:

Verstehen als Zwiesprache. Hermeneutische Entwürfe in Exegese und Religionspädagogik.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2003. X, 315 S. 8 = Religionspädagogische Kontexte und Konzepte, 9. Kart. Euro 24,90. ISBN 3-8258-6431-6.

Rezensent:

Klaus Wegenast

Für das Bewusstsein vieler Exegeten ist das Verhältnis zwischen ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Ausleger und der die Praxis des Evangeliums in Kirche und Gesellschaft bedenkenden Praktischen Theologie noch immer das einer bestimmenden Theorie und einer an dieser Theorie zu messenden Bemühung. In diesem Denkmodell ist die Religionspädagogik so etwas wie das Endstück einer Einbahnstrasse, auf der es kein Hin und Her geben kann. Mag hier und da trotzdem ein Gegenverkehr stattfinden und mögen sich Zwischenrufe mehren und sich die Kunde verbreiten, dass die Kommunikationsstörungen zwischen Bibel und jugendlichen Adressaten überhand zu nehmen drohen und Exegeten wie z. B. Gerd Theißen dazu veranlassen, sich mit religionspädagogischer Theorie und Praxis intensiv zu beschäftigen, so ist doch die Forderung von Ricarda Sohns nach einer Rückkoppelung exegetischer und religionspädagogischer Hermeneutik und ihrer verschiedenen Methoden durchaus noch nicht überflüssig. Sie denkt an eine Art "Zwiesprache", welche die "erforderliche Intensität und das Konfliktpotential (bis hin zur Zwietracht) des geforderten Dialogs ebenso wie die Notwendigkeit einer Zweisprachigkeit theologischer Hermeneutik zum Ausdruck bringen könnte", in der Differenzen nicht nivelliert, aber Übersetzbarkeit und wechselseitige Interpretation intendiert würde (290).

Es ist das Verdienst der Dissertation von S., eine solche "Zwiesprache" nicht nur zu fordern, sondern in beachtlichen Ansätzen zu versuchen. Sie tut das, indem sie dem Leser und der Leserin nicht nur einen systematisch strukturierten Überblick sowohl über die wichtigsten hermeneutischen Denkansätze vornehmlich neutestamentlicher Exegeten als auch entsprechender religionspädagogischer Bemühungen um die Vermittlung und Aneignung biblischer Traditionen präsentiert, sondern darüber hinaus Vorschläge für ein ihr notwendig erscheinendes Gespräch beider Forschungsrichtungen mit dem Ziel vorstellt, die unterschiedlichen Denkweisen und auch Ergebnisse aufeinander zu beziehen.

Interessant ist die das Buch einleitende Charakterisierung der beiden Spielarten von Hermeneutik im Haus der Theologie: hier die exegetische Hermeneutik mit ihrem Schwerpunkt auf dem Vermittlungsproblem zwischen der Bibel als historischem Dokument und als verbindliche Urkunde; und da die religionspädagogische Hermeneutik, für die das Vermittlungsproblem durchaus auch eine Rolle spielt, das aber erst nach der Klärung von Fragen nach dem heute lebenden Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts, sozialer Stellung, kultureller und konfessioneller Prägung im Kontext konkreter Lebenswelten. Dieser Forschungsschwerpunkt nötigt die Religionspädagogik neben und vor einer Durchmusterung der verschiedenen Spielarten exegetischer Hermeneutik dazu, verschiedenste sozial- und humanwissenschaftliche Disziplinen in ihr Forschungsprogramm zu integrieren, weil nur so die Bedingungen der Möglichkeit des Auffindens von Chancen sichtbar werden, fruchtbare Begegnungen zwischen heutigen Menschen und biblischen Texten zu initiieren.

Wie immer, angesichts des beiden theologischen Disziplinen gemeinsamen Problems der "Vermittlung" muss S. feststellen, dass von einer wirklichen Kooperation noch nicht viel zu spüren ist. Immerhin könne festgestellt werden, dass es im Haus der Religionspädagogik Projekte gegeben hat, die durch eine bipolare Korrespondenz geprägt sind und so das Verhältnis von Tradition und Situation, Schrift und Subjekt, Theologie und Pädagogik nicht ohne einen Bezug auf exegetische Forschungen zu bestimmen suchen. An dieser Stelle will S. weiterarbeiten, um das traditionelle top-down-Modell zwischen Exegese und Religionspädagogik zu überwinden. Das soll nicht dadurch geschehen, dass die Exegese als wenig hilfreich diffamiert wird, sondern in ihrer Bedeutung als Partnerin der Praxis herausgearbeitet, aber auch in ihren Grenzen durchsichtig gemacht wird.

Diesem Vorhaben soll vor allem anderen eine Analyse heute aktueller Denkansätze neutestamentlicher Hermeneutik dienen, zuerst der so genannten "Hermeneutik des Einverständnisses" von Peter Stuhlmacher unter Berücksichtigung ihrer Wurzeln bei Karl Barth, Rudolf Bultmann, Ernst Fuchs, Gerhard Ebeling und Gadamer, und dann ausgewählter Rezeptionen, die sich in Zustimmung und konstruktiver Kritik auf Stuhlmacher beziehen (G. Theißen, J. Ebach, J.-W. Taeger, U. Körtner, H. Weder u. a.), und Klaus Bergers "Hermeneutik der Fremdheit", die nicht auf einem Vorverständnis, das auf Einverständnis hin offen ist, aufbaut, sondern ein Missverstehen biblischer Tradition als Regelfall der Kommunikation betrachtet und folglich die Kategorie des Subjekts als eigentlichen Innovationsfaktor des Verstehens restituiert. Im Gegensatz zu Stuhlmachers Hermeneutikentwurf fungieren bei Berger deswegen Tradition und Situation als gleichberechtigte Parameter im hermeneutischen Geschehen, die als aufeinander bezogene erst Verstehen bewirken.

Es wäre jetzt an der Zeit, die sorgfältige Analyse S.', die sie dem Einverständnis-Begriff in seinen verschiedenen Spielarten in der Hermeneutik Stuhlmachers angedeihen lässt, und vor allem deren Bewertung vorzustellen: Ist er als Einverständnis mit der Tradition sachbezogen wie bei Gadamer oder eher subjektbezogen als Treueverhältnis zu den biblischen Autoren wie bei Barth, oder, oder? Betont er eine grundsätzliche Bereitschaft und Notwendigkeit des Hörens, die sogar von einem voraus laufenden Gehorsam reden lässt, und zielt so auf eine inhaltliche Affinität des Konsenses zwischen Text und Adressat? Aber das ist im Rahmen einer Rezension unmöglich. Wichtig zu diesem Tatbestand im Buch sind vor allem die Seiten 18 bis 34, die S. dazu dienen, die Hermeneutik Stuhlmachers in einer Bewegung aus Glauben in Richtung auf Glauben sehen zu lehren, und dann die Auflistung der Chancen und Risiken, die sich in ihr für die Praxis des Evangeliums zeigen (159 ff.). Drei Gefahren sieht S., die der Einverständnisbegriff Stuhlmachers transportiere: eine Generalisierungstendenz, die Individuelles und Abweichendes unterdrückt; eine laxe Praxis des Verstehens ohne Reflexion postmoderner Verhältnisse; und eine Förderung der Wiederkehr von Immergleichem (161).

Was die Hermeneutik der Fremdheit Bergers anbetrifft, gewinnt sie bei S. schon deshalb Sympathie, weil sie die aktuelle Situation und damit das Subjekt im Verstehensprozess als gleich wichtig betrachtet und deswegen die Ergebnisse ihres Forschens nicht als "objektiv" zu betrachten vermag. Abgesehen davon kann die im Grunde wesentliche Trennung zwischen Exegese und Applikation eines Textes dazu führen, den innertheologischen Dialog etwa mit der Systematik aber auch mit der Religionspädagogik abzubrechen. Berger hat sich im Zusammenhang einer Öffnung der Exegese hin zu einer intensiven interdisziplinären Kooperation vor allem auch mit moderner Sprachwissenschaft, z. B. der Rezeptionsästhetik in ihren verschiedenen Spielarten, der Einsicht geöffnet, dass Verstehen stets Ergebnis eines doppelseitigen Prozesses zwischen Text und Subjekt ist. Trotz des deutlichen Gegensatzes zwischen den beiden Spielarten moderner Bibelexegese vertritt S. kein Entweder-Oder sich ausschließender Alternativen, sondern ein klärendes Hin und Her zwischen Einverständnis und Fremdheit, Sache und Subjekt, Konsens und Differenz, das sich so auch in der religionspädagogischen Hermeneutik widerspiegelt.

Damit sind wir beim 2. Teil der Arbeit, der sich der Aufgabe widmet, die hermeneutische Diskussion im Rahmen der Religionspädagogik durchschaubar zu machen. Er beginnt mit einer geschichtlichen Herleitung des hermeneutischen Problems vor allem nach dem 2. Weltkrieg, dem eine sachkundige Analyse ausgewählter hermeneutischer Entwürfe auf der Folie der im 1.Teil ins Auge gefassten exegetischen Ideenproduktionen folgt.

Drei klassische Konzeptionen sind es, die das Bild hermeneutischer Bemühungen zwischen 1945 und 1990 wesentlich bestimmt haben: Die so genannte "Evangelische Unterweisung" (H. Kittel u. a.) und der "Hermeneutische RU" (Stallmann, Stock, G. Otto, K. Wegenast u. a.), welche in je verschiedener Weise eine Hermeneutik der Vermittlung repräsentieren, der so genannte problemorientierte Unterricht, der einer Hermeneutik der Aneignung zuneigt und so vom Adressaten und seiner Lebenswelt her gleichsam in einem zweiten Durchgang biblische Tradition befragt, und endlich Versuche, eine Hermeneutik der Aneignung und eine bestimmte Weise der Hermeneutik der Vermittlung miteinander zu vermitteln.

Eine breitere Würdigung erfahren Arbeiten von Klaus Gossmann und Norbert Mette, welche die Hermeneutik der Aneignung und die der Vermittlung als zwei komplementäre Aspekte religionspädagogischer Didaktik einander zuordnen, und dann vor allem die Hermeneutik des Einverständnisses von Karl Ernst Nikpkow in ihrer Entwicklung von Anfängen, die vornehmlich eine inhaltliche Vermittlung der Sache des Evangeliums betonen, bis hin zu einer mehrperspektivischen Hermeneutik, die neben einem Interesse an der Bewahrung Ordnung stiftender Traditionen und Institutionen eine bemerkenswerte Sensibilität für das Individuelle im Kontext einer pluralen und multikulturellen Gesellschaft verrät. Interessant und weiterführend ist der Hinweis S.s auf Nipkows Doppelstrategie einer dezidierten Ernstnahme der semiotischen Feststellung, dass es die Subjekte sind, die aktiv ihre Weltdeutungen und auch ihr Verständnis von Tradition produzieren, bei gleichzeitigem Insistieren auf einem ausdrücklichen Treueverhältnis zur "Sache" der Tradition, z. B. der Rechtfertigungsbotschaft und dem in ihm sich zeitigenden Verständnis des Menschen. Als Beweis für die Systematisierungsfähigkeit S.' zitiere ich ihr abschließendes Fazit ad vocem Nipkow:

"Theologische Hermeneutik ist nicht nur Selbstexplikation des Glaubens in der Gemeinschaft von Christen [...], sondern auf das verstörende Potential des Un- und Andersverständnisses angewiesen, um die Provokation der Rechtfertigungsbotschaft noch zu hören, die allen gleichermaßen gilt." (252)

Fazit: Es bedarf verschiedener hermeneutischer Grundformen, um die Voraussetzungen zu Gesicht zu bekommen, die in der klassischen theologischen Hermeneutik untergehen. Nipkow reklamiere da bei Exegese und Systematik Nachholbedarf, was die Ernstnahme empirischer Befunde anbetrifft. Dagegen hält S. das Durchhalten des Einverständnisbegriffs Stuhlmachers bei Nipkow für sperrig. Das veranlasst sie dazu, abermals für eine "Zwiesprache" zwischen Exegese und Religionspädagogik zu plädieren.

Gleichsam als Appendix des bisher zur Religionspädagogik Ausgeführten ergänzt S. in einem kurzen Abschnitt die Entwürfe von Nipkow und Gossmann/Mette mit Korrektiven einer Hermeneutik des Einverständnisses, die sie in der Hermeneutik der Wahrnehmung von Peter Biehl und Wilfried Engemann vorfindet, im Versuch, das Verhältnis von Wahrheit und Pluralismus näher zu bestimmen, von Emmanuel Lévinas und Henning Wrogemann sowie in von Konrad Raiser vorgelegten Impulsen für eine ökumenische Hermeneutik der Einheit.

Als Schlussakkord der gelungenen Arbeit unternimmt es S., Vorschläge für eine mögliche Rückkoppelung religionspädagogischer und exegetischer Hermeneutik als Zwiesprache zu machen, denen es ihrer Meinung nach gelingen könnte, nicht nur Defizite auf beiden Seiten zu beheben, sondern eine Praxis des Evangeliums vorzubereiten, die heute für Heutige Wege ebnen hin zu einem Selbst-Verstehen im Verständnis des Evangeliums.

Der Rez. empfiehlt das Buch Fachgenossen beider Disziplinen mit Nachdruck zur Lektüre.