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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

841–843

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schweitzer, Friedrich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Bildungsauftrag des Protestantismus.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2002. 327 S. 8 = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 20. Kart. Euro 39,95. ISBN 3-579-05348-5.

Rezensent:

Martin Rothgangel

"Ist es noch zeitgemäß, vom Bildungsauftrag des Protestantismus zu sprechen?" - pointiert eröffnet Friedrich Schweitzer seine Einleitung (7-9) zu einem vernachlässigten Thema, dessen Brisanz sich etwa durch öffentliche Diskussionen um LER, aber auch durch geflügelte Wendungen wie "Kulturprotestantismus" dokumentiert. Grundlage dieser Veröffentlichung ist u. a. eine Tagung der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie in Erfurt 1998.

In Anbetracht der Themenstellung ist es unerlässlich, dass in einem ersten Teil "gesellschaftliche Voraussetzungen und übergreifende Perspektiven" (11-141) eingehend reflektiert werden.

Versucht man unter gegenwärtigen Bedingungen - man mag sie als postmoderne Moderne, als radikalisierte Moderne oder wie auch immer bezeichnen - den Bildungsauftrag des Protestantismus zu bestimmen, dann ist es nach K. E. Nipkow (13- 35) wesentlich, eine "plurale protestantische Bildungspartnerschaft" (31) sowie "Dialogprinzipien im Pluralismus" (33) auszuarbeiten. Wie konsequent Nipkow die Pluralitätsthematik verfolgt, lässt sich daran ersehen, dass er im Grunde genommen die Titelformulierung dieses Sammelbandes "Der Bildungsauftrag des Protestantismus" (Hervorhebung von M. R.) hinterfragt: "Ist das Thema überhaupt behandelbar, wenn nicht nur das Bildungsverständnis variiert, sondern auch der Ausdruck Protestantismus"? (21) Auf dem Hintergrund von fünf Aspekten, die jeweils innerprotestantisch kontrovers verstanden werden (z. B. "Geistliche Unmittelbarkeit im gottbezogenen Selbstverhältnis - zugleich weltlich gewährte Subjektivität? Bildung als Selbstbildung?") bringt Nipkow seine eigene Position zum Ausdruck: "Wenn nicht prinzipiell die freie, sich selbst-bestimmende Subjektivität und hierin Selbstbildung (1 und 2), ferner eine zivilgesellschaftlich erforderliche, gesellschafts- und autoritätskritische politische Bildung (3) mit bejahten liberalen, demokratischen Grundrechten anstatt Gemeinschaftsideologien kirchlich gelten soll (4) und folglich damit zugleich ein Begriff von Bildung als einseitige Prägung durch eine geschlossene evangelisch-weltanschauliche Glaubenserziehung verabschiedet wird (5), ist der Protestantismus nicht pluralismusfähig." (31) Nipkows Konsequenz lautet: "Dann wird eine plurale evangelische Bildungspartnerschaft in unserer Gesellschaft illusorisch, und die pädagogischen Skeptiker und Kirchenkritiker behalten Recht." (31)

Ausgesprochen bemerkenswert sind auch die Ausführungen von R. Schieder, der mit seinem Beitrag "Die Zivilisierung der Religion durch Bildung als Programm und Problem des Protestantismus" (36-53) einerseits die notwendige zivilreligiöse Funktion des Religionsunterrichts und andererseits mit Rekurs auf S. Kierkegaard die "Einübung im Christentum als Privileg des Religionsunterrichts" (44) herausarbeitet. "Der Religionsunterricht an der staatlichen Schule erfüllt also durchaus zivilreligiöse Funktionen, er geht aber darin nicht auf" (53).

Die Spielräume hermeneutischer Verfahrensweise treten hervor, wenn man sich im Vergleich zu Nipkow und Schieder die unterschiedlichen historischen Referenzen des Berner Pädagogen F. Osterwalder vor Augen führt (u. a. M. von Egidy). Sie führen schließlich auch zu einer anderen Konsequenz, da grundsätzlich der Bildungsbegriff als ein antipluralistisches politisch-theologisches Konzept verworfen wird: "Das Konzept Bildung [ist] für die wesentlichen Probleme von Schule in einer pluralen Demokratie kaum geeignet" (55).

Die Engführungen subjektivistisch-ästhetisierender Bestimmungen des Bildungsbegriffs, wie sie in der jüngeren religionspädagogischen Diskussion vereinzelt zu finden sind, werden spätestens dann deutlich, wenn man sich das differenzierte und subtile Kontrastprogramm von R. Preul vor Augen führt: Kirche als Bildungsinstitution und Bildung als gesteigerte, über sich selbst aufgeklärte Handlungsfähigkeit (101-123).

Die beiden Wiener Praktischen Theologen S. Heine "Virtualität - Imagination - Epiphanie. Mediale Bildwelten und protestantisches Bildungsverständnis" (78-100) sowie G. Adam "Bildung als Dimension von Diakonie und Diakoniewissenschaft" (124-141) bringen ihre thematischen Perspektiven jeweils instruktiv zur Geltung.

Der zweite Teil "Religionsunterricht - Schule - Gemeinde" (143-262) besticht insbesondere durch informative Überblicksartikel zu unterschiedlichen Kontexten und Konkretionen des protestantischen Bildungsauftrags. Drei Artikel diskutieren den Kontext der Neuen Bundesländer: H. Hanisch setzt sich mit dem Religionsunterricht im Freistaat Sachsen auseinander, von der "nachhaltigen" Bildungspolitik des SED-Regimes bis zur gegenwärtigen Situation (145-163). Gleichfalls erhellend sind die Ausführungen von R. Degen zu zehn Jahren Schulfach LER (200- 215), schließlich stellt J. Henkys Überlegungen zu gemeindepädagogischen Aufgaben aus ostdeutscher Sicht an (248-262).

Einem weiteren Themenkreis gehören die verschiedenen Gestaltungsformen von religiöser Bildung in der Schule an: Aufschlussreich äußern sich Chr. Scheilke zum interreligiösen Religionsunterricht und interreligiösen Lernen (164-178), R. Mokrosch mit dem beredten Titel: "Religionsunterricht - konfessionell, ökumenisch, konfessionell-kooperativ? Welcher Unterricht entspricht dem Bildungsauftrag des Protestantismus?" (179-199) sowie M. Schreiner zum Thema "Evangelische Schule und der Bildungsauftrag des Protestantismus" (216-233).

Wie schon im ersten Teil sind die unterschiedlichen Töne von Pädagogen unschwer zu erkennen: der Berliner Pädagoge A. Leschinsky skizziert auf historischem Hintergrund die fortwährende Dynamik von Religion in der Schule.

Im dritten Teil "Praktische Theologie und Theologische Fakultäten" (263-292) plädiert F. Schweitzer dafür, Bildung als eine Dimension in allen Handlungsfeldern Praktischer Theologie ernst zu nehmen und den Bildungsauftrag des Protestantismus nicht allein auf die Religionspädagogik zu beschränken (265-277). Dabei fällt auf, dass zahlreiche Argumente Schweitzers eigentlich auch im nachfolgenden Artikel von H. Schröer "Der Bildungsauftrag der Theologischen Fakultäten" (278- 292) hätten stehen können, da sie sich im Horizont von Kirche und Theologie insgesamt bewegen (z. B. Ausbildung, Bildungsdilemma, Kirche als Bildungsinstitution, vgl. 272-275). Vielleicht hätten die instruktiven Überlegungen Schweitzers bezogen auf die Praktische Theologie noch stärker an Kontur gewonnen, wenn er sich mit den einschlägigen Veröffentlichungen von G. Lämmermann zu diesem Thema kritisch auseinander gesetzt hätte.

Die im vierten Teil "Internationale Perspektiven" von G. Mitchell und W. Weiße fokussierten internationalen Aspekte (295- 309) bringen interessante Gesichtspunkte für die bundesdeutsche religionspädagogische Diskussion zur Geltung. So tritt u. a. die Besonderheit hervor, "dass der Religionsunterricht und die Ausbildung von Religionslehrerinnen und -lehrern im öffentlichen System unseres Landes fest verankert" sind; dies gilt in anderen Ländern keinesfalls als selbstverständlich (308).

Nicht zuletzt der vorzüglichen Herausgeberschaft F. Schweitzers wird es zu danken sein, dass der vorliegende Band durch seinen Facettenreichtum, mit dem der Bildungsauftrag des Protestantismus gegenwärtig erörtert wird, überzeugt. Damit stellt diese Publikation einen unentbehrlichen Baustein dar für die religionspädagogische Diskussion um den Bildungsbegriff.