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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

831–834

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Reinders, Hans S.

Titel/Untertitel:

The Future of the Disabled in Liberal Society. An Ethical Analysis.

Verlag:

Notre Dame: University of Notre Dame Press 2000. XII, 280 S. gr.8 = Revisions. Kart. £ 14,50. ISBN 0-268-02857-5.

Rezensent:

Bernd Wannenwetsch

In der vorliegenden Studie bietet der Autor, Professor für "Ethik und Geistige Behinderung" an der Freien Universität Amsterdam, einen philosophischen Traktat, in dem die theologische Prägung des Denkens durchweg deutlich bleibt. In großer syllogistischer Klarheit entwickelt R. einen Argumentationsgang, der an seinen Schaltstellen konzeptionelle Klärungen im Dialog mit zumeist angelsächsischen Denkern wie Th. Nagel, A. MacIntyre, Z. Bauman und anderen sucht.

Komprimiert lautet R.s Argument folgendermaßen: Die Situation Behinderter in liberalen Gesellschaften ist durch eine spezifische Spannung gekennzeichnet, die durch die gegenwärtigen biotechnologischen Entwicklungen verschärft wird: Zwar ruft das Gleichberechtigungsideal zur Integration Behinderter, gleichzeitig aber schwächt die Orientierung an einem aktivistisch-autonomen Ideal vom "Selbst" und das dazugehörige Freiheitsideal das Widerstandspotential gegen die implizite Diskriminierung Behinderter, wie sie mit dem Trend zur genetischen Selektion verbunden ist. Obwohl die liberale Gesellschaft durchaus den Willen zum Schutz behinderten Lebens hat, kann dieser Wille allerdings innerhalb dessen, was R. die "liberale Konvention" nennt, weder theoretisch ausreichend begründet noch praktisch hinreichend umgesetzt werden. Die Zukunft Behinderter wird darum nach dem Urteil R.s weniger von politischen Programmen und öffentlichen Winkelzügen abhängen als vielmehr von der Existenz von Bürgern, die bereit sind, ihr Leben mit Behinderten zu teilen - und die auch charakterlich dazu in der Lage sind. Die Voraussetzungen dafür erkennt R. in solchen Überzeugungen, die das Leben auch in den mit Behinderung gegebenen Begrenzungen als Geschenk anzunehmen in der Lage sind. Für jene Überzeugungen wird die Bedeutung eines solchen Lebens nicht in spekulativen "Leidensannahmen" gesucht, sondern im faktischen Zusammenleben mit Behinderten erkannt.

R. konzentriert sich insbesondere auf geistige Behinderungen, weil daran die Unfähigkeit des liberalen Idioms, den eigenen Anti-Diskriminierungsimperativ durchzuhalten, besonders deutlich zu Tage tritt, weil hier gerade diejenigen Kennzeichen und Potentiale wie Rationalität, Willensfreiheit usf. fehlen, um die herum die Vorstellung einer schützenswerten Personenwürde gemeinhin aufgebaut ist. So lässt sich ein Szenario erwarten, in dem das Problem der Behinderung zunehmend vom Imperativ zur Vermeidung bestimmt werden wird, und die Ressourcen, welche zur Beseitigung gesellschaftlicher Hindernisse im Leben Behinderter gebraucht würden, zunehmend in die genetische Forschung bzw. in die Verbreitung genetischer Testprogramme fließen werden, die dem Ziel dienen, die Existenz Behinderter überhaupt zu verhindern.

In diesem Zusammenhang setzt sich R. mit dem Argument auseinander, wonach es in jenen Programmen lediglich um Vermeidung individuellen bzw. zukünftigen Leidens gehe und damit keineswegs aktuell lebende Behinderte diskriminiert werden. Dieses auf der Unterscheidung von Person und Zustand beruhende Argument übersieht freilich, dass sich der Imperativ zur Vermeidung behinderten Lebens eben aus dem Urteil bzw. Vorurteil über das Leben gegenwärtig lebender Behinderter speist. Auch das auf dem Hintergrund individueller Gentherapie nahe liegende Rationale der Trennung der Person von ihrem Leiden beruht auf einer Außenwahrnehmung des Phänomens. Die Frage an die Eltern "hättet ihr euer Kind N. lieber ohne Behinderung?" läuft in Wahrheit darauf hinaus, zu fragen, ob sie lieber ein anderes Kind hätten als N., da N. von seiner leiblichen Existenz unter Einschluss der Behinderung nicht zu trennen ist.

R. analysiert die Begrenzungen der liberalen Konvention sowohl nach ihrer praktischen als auch nach ihrer theoretischen Seite hin. Praktisch stellt er folgenden Zusammenhang vor Augen: Im Rahmen der allgemeinen Vorstellung von "Reproduktionsfreiheit", die heute dezidiert als Selektionsfreiheit verstanden wird, werden pränatale oder prä-implantative Gentests wie heutige Schwangerschaftstests zukünftig kostengünstig auf dem freien Markt erhältlich sein, und ihre Anwendung wird zur Sache "individuellen verantwortlichen Verhaltens" werden. Zusammen mit den Imperativen zur Budgetierung im Gesundheitssystem und dem Trend zur Überführung des Wohlfahrtsstaates in ein System der "Eigenverantwortung" dürfte eine solche moralische Aufladung "genetischer Vorsorge" längerfristig die gesellschaftliche Bereitschaft unterminieren, für dennoch entstandenes behindertes Leben mit ausreichenden öffentlichen Mitteln zu sorgen.

Um ein solches Szenario im Namen des Diskriminierungsverbots zu verhindern, müsste der Staat eben jene individuelle "Reproduktionsfreiheit" beschränken und den Konnex von pränatalen Gentests und selektiver Abtreibung beschneiden. Dies wäre zwar theoretisch denkbar, zumal die Beschränkung individueller Freiheit im Namen der Freiheit davon betroffener Anderer in der liberalen Konvention durchaus vorgesehen ist. Allerdings schätzt R. die praktische Durchführbarkeit äußerst gering ein, da solche politischen Programme dem im Namen jener Freiheit ausgeübten öffentlichen Druck kaum widerstehen können, da die Angst vor der Affizierung mit dem Leiden Behinderter im eigenen Leben je größer sein wird als diejenige, in einer Gesellschaft zu leben, in der behindertes Leben diskriminiert wird.

Die theoretische Begrenzung der liberalen Konvention demonstriert R. anhand der Beispiele von H. Tristam Engelhardt und John Rawls, deren kantische Versuche, die Integration von Behinderten aus dem liberalen Idiom zu begründen, auf einen konsequentialistischen Seitenschritt angewiesen sind, wonach die Integration nicht auf Grund der (im Fall schwer geistig Behinderten: prekären) Menschenwürde gefordert ist, sondern allenfalls weil und (eben: nur) sofern ihr Ausschluss dem Ansehen der die soziale Gerechtigkeit verbürgenden Institutionen schaden würde. Beide Autoren wissen allerdings um den parasitären Charakter liberaler Moralität und verweisen auf die Rolle tiefer liegender moralischer Ressourcen, welche "moral communities" innerhalb der liberalen Gesellschaft bereitstellen, ohne allerdings selbst in der liberalen Konstruktion der öffentlichen Diskursbedingungen vorzukommen.

In einem eigenen Teil spürt R. den moralischen Ressourcen nach, von denen eine liberale Gesellschaft zehren muss, wenn sie behindertes Leben in ihrer Mitte anerkennen und schützen will. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht die Einsicht, dass es dabei nicht um die abstrakte Außenperspektive moralischer Reflexion gehen kann, die nach der Legitimität von selektiver Abtreibung und Verhinderung behinderten Lebens fragt. Die konkreten Vorstellungen von sozialer Verantwortung für von uns abhängige Menschen sind vielmehr ein Spiegel unserer jeweiligen moralischen Identität. In einer faszinierenden Analyse eines Romans von Kenzaburo Oë über einen Vater, der beschließt, seinen schwerst-behinderten neugeborenen Sohn loszuwerden, und sich ob dieses Entschlusses selbst unerträglich wird, zeigt R., dass sittliche Verantwortung bereits mit den konkreten sittlichen Lebensverhältnissen, in diesem Fall der Vaterschaft, gegeben ist und nicht etwa begründungstheoretisch konstituiert wird. So wird die charakteristische Engführung ethischer Diskurse auf das "moralische Dilemma": behindertes Kind behalten oder nicht? abgelöst durch die Frage nach der Authentizität der Person, die sich dieser Frage stellt: Kann ich den Tod meines Kindes veranlassen und derjenige sein bzw. bleiben, der ich bin bzw. zu sein berufen bin?

Abschließend entwickelt R. im Anschluss an Løgstrups "Ethische Forderung" ein Konzept der Verantwortung, in der die Anerkennung des Lebens Behinderter nicht in einem Reziprozitätsverhältnis gründet, sondern in der Erkenntnis aufgehoben ist, dass sie "in unsere Hand gegeben sind" - als Geschenk und Aufgabe. In Aufnahme der qualitativen Studien von Kate Scorgie geht R. den Transformationen nach, die Eltern von Behinderten in ihren biographischen Auskünften bezeugen. Entscheidend für ein gelingendes Zusammenleben ist demnach der Lernprozess, der einsetzt, wenn die Annahme des tatsächlichen Lebens mit dem Behinderten anstelle des Abgleichens mit einem imaginären Leben "wie es hätte sein können" zu einer Veränderung des eigenen Selbst unter Einschluss der gehegten Bilder vom "gelingenden Leben" führt - ein Vorgang, den R. als Erwachen zur Liebesfähigkeit beschreibt. Die "Sinnhaftigkeit" des Lebens mit Behinderung und Behinderten wird darum nicht über Strategien des "Umgangs" mit ihnen konstituiert, sondern vielmehr entdeckt - und zwar eben dann, wenn dem Mythos von selbst-produziertem Leben und Lebenssinn der Abschied gegeben wird zu Gunsten einer Realität, die man sich nicht ausgesucht hätte, ohne die das Leben aber ärmer wäre.

Abgesehen von der überzeugenden These und der jederzeit nachvollziehbaren, konzisen Argumentation, ist R.s Studie insbesondere auch methodologisch interessant, sofern sie den in der deutschsprachigen Diskussion leider kaum bekannten Typus "post-liberaler" Argumentation repräsentiert. "Post-liberal" bedeutet, dass sich die Überlegungen zwar im Sinne einer Innenansicht der liberalen Gesellschaft und ihrer Probleme entfalten, sich jedoch nicht innerhalb des liberalen Paradigmas bewegen. Vielmehr wird die "liberale Konvention" selbst zum Gegenstand kritischer Analyse, indem es gewissermaßen bis an seine Grenzen ausgeschritten und ausgereizt wird. Der erklärten Absicht, die Parameter der öffentlichen Diskussion über diejenigen der liberalen Konvention hinaus auf die Frage nach den Überzeugungen und Vorstellungen vom guten Leben auszuweiten, entspricht die bemerkenswert konspektive Struktur des Arguments, das die philosophische Analyse mit derjenigen von Romanen und Gesprächsprotokollen anreichert.

Der Horizont aktueller gentechnologischer Entwicklungen verleiht R.s Studie zweifellos einen dramatischen Hintergrund. Allerdings ist das Werk eher an den sekundären Folgen jener Entwicklungen interessiert als an der Frage, inwiefern diese Technologie selbst primäres Expressionsmedium der leitenden Metaphern und Bilder ist, in denen sich die liberale Gesellschaft selbst versteht. Ist die Diskriminierung Behinderter unbeabsichtigte Nebenfolge der vermeintlich eigendynamischen Entwicklung jener Technologien oder nicht vielmehr selbst deren integraler Bestandteil? R.s These dürfte in jedem Fall relevant bleiben: Je mehr das Leben überhaupt als Projekt autonomen Gestaltungswillens verstanden wird, desto dünner wird die Luft für behindertes Leben.