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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

828–830

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Gräb-Schmidt, Elisabeth

Titel/Untertitel:

Technikethik und ihre Fundamente. Dargestellt in Auseinandersetzung mit den technikethischen Ansätzen von Günter Ropohl und Walter Christoph Zimmerli.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2002. XIV, 370 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 118. Geb. Euro 98,00. ISBN 3-11-017500-2.

Rezensent:

Christian Schwarke

Nachdem sich in den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Erkenntnis einstellte, dass die Suche nach dem einen dogmatischen Fundament der Ethik wenig ergiebig sei, entstand eine Reihe so genannter angewandter Ethiken. Nicht mehr die Frage, ob alle Ethik von der Christologie oder vielmehr von der Eschatologie her zu begründen sei, stand im Vordergrund, sondern das Problem, wie die theologische Ethik konkret auf den Problemdruck der technischen Zivilisation reagieren solle und zu den Lösungen der anstehenden Fragen beitragen könne. Diese Konzentration auf das Konkrete brachte zwangsläufig eine gewisse Vernachlässigung von Begründungsfragen mit sich. Die Vfn. der vorliegenden Habilitationsschrift möchte diese Entwicklung korrigieren und eine "ethiktheoretische Grundlagenreflexion" (5) zur Technikethik anbieten. Keine Technikethik, so die erste Hauptthese der Vfn., steht nämlich auf tragfähigen Füßen, die sich ihrer eigenen Fundamente nicht bewusst ist und die diese nicht als Elemente der Theorie auszuweisen in der Lage ist. Dabei geht es freilich nicht um ein beliebig wählbares Fundament. Grundlegend für jede Technikethik sei vielmehr ihr jeweiliges Menschenbild. Dass dies nicht allgemein so gesehen werde, liege in dem Umstand begründet, dass sich die vorhandenen technikethischen Entwürfe zwar um ein Verständnis von Technik bemühen, nicht jedoch um ein Ethikverständnis. Was Ethik im Zusammenhang mit der Technik eigentlich heißen könne, werde vielmehr als bekannt vorausgesetzt, ohne es jedoch zu sein. Es geht der Vfn. um die "Prolegomena zu einer jeden Technikethik" (36), ohne die alles Folgende in Verwirrung enden müsse.

Um dieses Programm durchzuführen, beginnt die Vfn. mit einer Klärung der Begriffe Technik und Ethik. Technik wird dabei auf die so genannte Realtechnik eingegrenzt und Ethik im Anschluss an Schleiermacher und Herms als Handlungstheorie bestimmt, die im christlichen Kontext dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die vorreflexiven Grundlagen jeder Ethik im Menschen- und Weltverständnis expliziert, ohne diese dadurch aufzulösen. Da jedes Weltbild individuell gebunden ist, entsteht im ethischen Diskurs eine jeweils unhintergehbare, weil dem Individuum selbst nicht gänzlich zur Disposition stehende Standortgebundenheit. Und diese Positionalität ließe sich auch im Diskurs nicht rational beseitigen. Dem Individuellen müsse ein "Status von allgemeiner Gültigkeit eingeräumt werden" (30).

Was geschieht, wenn man dieses so bestimmte Fundament der Technikethik nicht legt, will die Vfn. an den Entwürfen Günter Ropohls und Walter Zimmerlis zeigen. Deren kritische Analyse und Rekonstruktion bildet denn auch den materialen Hauptteil des Buches (45-316). Zunächst wird G. Ropohls Technik- und Technikethikverständnis entfaltet. Bei Ropohl zeige sich eine mangelhafte Reflexion auf die anthropologischen Grundlagen. Zwar gebe es in Ropohls Schriften zahlreiche Hinweise auf ein bestimmtes Menschenbild. Dies werde aber nicht explizit als Teil der Theorie ausgewiesen. Neben diese theoretische Schwäche tritt nach der Vfn. das gravierende Problem, dass Ropohls Menschenbild trotz gegenteiliger Bezeugungen im technizistischen Verständnis verbleibe und den Menschen letztlich nur als ausführendes Organ seiner eigenen technischen Verfasstheit begreifen könne. Darüber hinaus blende Ropohl mit seinem systemtheoretischen Ansatz das Individuum weitgehend aus. Ropohl sehe im Menschsein "nur das Exekutivpotential von Technik" (97). Diese Elemente seiner Theorie führten dazu, dass Ropohl die anthropologischen Dimensionen nicht angemessen in den Blick nehmen könne. Daher verwirft die Vfn. den Ansatz weitgehend.

Besser wird demgegenüber Walter Zimmerlis Ansatz beurteilt. Zwar würde auch er die anthropologischen Elemente seiner Theorie nicht angemessen reflektieren, was die Vfn. auch seinem rhapsodischen Philosophiestil zuschreibt. Aber Zimmerli hat immerhin ein - in den Augen der Vfn. - angemessenes Menschenbild, weil er die Basis jeder individuellen ethischen Entscheidung im Gefühl des Einzelnen wahrnimmt und expliziert. Allein der Verzicht, diese Erkenntnis fruchtbar zu machen, führe zu den Defiziten seines Ansatzes, obwohl Zimmerlis eigene Gedanken ihn eigentlich auf die Richtigkeit und konsequente Verfolgung des von der Vfn. anvisierten Programms hätten führen müssen. Das Individuelle wird zwar ebenso wie die Zeitlichkeit menschlichen Daseins bei Zimmerli erkannt, aber nicht konsequent genutzt. In einem Schlussteil werden beide Ansätze noch einmal zusammenfassend verglichen. Im Ergebnis werden sie den Anforderungen des anthropologischen Programms der Vfn. nicht gerecht.

Die Vfn. entfaltet ihren eigenen Ansatz nicht vollständig. Das war sicher auch nicht das Ziel der Arbeit. Dennoch gibt sie Hinweise. So sei eine christlich bestimmte Technikethik durch die in der Einleitung dargestellte Wahrnehmung des Menschen als Individuum an eine unhintergehbare Perspektivität gebunden, die zu einer prinzipiellen Begrenztheit technikethischen Wissens führt, die mit der Begrenztheit unseres technischen Wissens korrespondiert. Der damit verbundenen Relativierung jedes sich als allgemeingültig darstellenden Wissens steht die Absolutheit des je eigenen Urteils entgegen. Daher könnten u. a. all jene Ethikkonzepte "nicht akzeptiert werden", die nach rational herstellbaren Minimalkonsensen suchten (323).

Die Vfn. hat mit ihrer Arbeit den Finger auf einen wunden Punkt gegenwärtiger Technikdebatten gelegt. Denn die Ergebnislosigkeit zahlreicher Debatten dürfte in der Tat darauf zurückzuführen sein, dass die hinter den scheinbar rationalen Argumenten liegenden Welt- und Selbstverständnisse nicht thematisiert werden können, was sich dann auch in den Theorien widerspiegelt.

Die präzisen und scharfen Analysen der Werke von Ropohl und Zimmerli durch die Vfn. erhellen über die Ansätze der Autoren hinaus den Aufbau von Theorien der Technikethik (und ihre Probleme) überhaupt. Wichtig scheint mir auch der Impuls zu sein, jenseits pragmatischen Umsetzungsdruckes erneut über die Grundlagen christlicher Ethik nachzudenken.

Fragen habe ich in dreierlei Hinsicht: 1. Sollte man die Erfahrungen früherer Debatten nicht ernst nehmen und ein monistisch gedachtes Fundament (hier die Anthropologie) ausschließen? Warum schlägt die von der Vfn. so sehr zu Recht postulierte Multiperspektivität nicht auf das Fundament der Ethik durch? 2. Das Individuelle scheint bei der Vfn. ans Inkommensurable zu grenzen. Es ist als eine Art "unbewegter Beweger" Grund allen Nachdenkens über Technikethik. Ist aber nicht auch unser Menschenbild vermittelt?

Auf beide Fragen scheint mir auch die Kritik des Zweitgutachters hinauszulaufen, welche die Vfn. in einem Anhang aufnimmt. Denn der Hinweis auf die Sünde und die sprachliche Vermitteltheit allen Selbstverständnisses (durch das Wort Gottes) zielt doch - abgesehen von dogmatischen Interessen - strukturell auf das jenseits des Individuellen eben doch auch vorhandene Allgemeine in den verschiedenen Menschen. Wollte man dies berücksichtigen, käme man jedoch auf eben jene (System-)Zusammenhänge, deren Erwägung die Vfn. bei Ropohl so scharf kritisiert. 3. So wichtig auch dem Rez. die Erhellung der Hintergründe ethischer Debatten ist: Die Ethik muss leider zugleich mit der Erfahrung umgehen lernen, dass die Thematisierung dieser Ebenen in faktischen Diskursen keine Rolle spielt, und vielleicht auch keine Rolle spielen kann. Das m. E. nach wie vor ungelöste Problem evangelischer Ethik besteht in der Vermittlung solche Einsichten, wie sie dies Buch bereithält, mit den konkreten Fragen alltäglicher Ethik-Praxis.