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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

822–824

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Stegemann, Wolfgang [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion und Kultur. Aufbruch in eine neue Beziehung.

Verlag:

M. Beiträgen v. Ch. Strecker, W. Stegemann, P. L. Oesterreich, J. Track, W. Sommer, D. Becker, A. Nehring, H. Utzschneider, R. Jost, P. Nash, O. Bobsin, K. F. Grimmer u. L. Lindner. Stuttgart: Kohlhammer 2003. 256 S. gr.8 = Theologische Akzente, 4. Kart. Euro 20,00. ISBN 3-17-017567-X.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Wolfgang Stegemann, der Herausgeber dieses Aufsatzbandes, der eine Ringvorlesung an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau dokumentiert, sieht in der gegenwärtigen Theologie einen Neueinsatz, der durch die Begriffe Religion und Kultur bestimmt wird. Dagegen steht die durch die Begriffe Offenbarung, Glaube oder Geschichte geprägte Theologie des 20. Jh.s. Dieser cultural turn der Sozial- und Geisteswissenschaften ist also die Denkvoraussetzung dieses Bandes, zu der die gegenwärtige Rückkehr der Religionen, ja die Wiederverzauberung der Welt, gehört.

Nach dieser grundsätzlichen Positionsbestimmung greift Christian Strecker das Thema der "Herausforderungen des cultural turn für die neutestamentliche Exegese" (9) auf. Er kommt dabei zu drei beachtenswerten Folgerungen: Erstens müssen die wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren "die kulturelle Kodierung des eigenen wissenschaftlichen Schreibens" (33) selbstkritisch reflektieren, um so die eigene Positionalität herauszuarbeiten. Das führt zweitens zu einem neuen Problembewusstsein über die eigene wissenschaftliche Methodik. Drittens folgen der Öffnung der Exegese für die Kulturwissenschaften inhaltliche Verschiebungen, indem neben der Reflexion auf das Geistige und Eigentliche eine "Aufmerksamkeit für das Materielle und Mediale, für die äußere Form, die vielfältigen diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken, den Körper und die Sprache im allgemeinen" (39) tritt. Auf diese Weise wird die neutestamentliche Exegese interdisziplinär arbeiten und international anschlussfähig.

Auf diesen exemplarisch ausgerichteten Beitrag bauen S.s weiterführende Überlegungen von der Religion als einem kulturellen Konzept auf, das im 17./18. Jh. entstanden ist. S. legt die diesem Religionsbegriff inhärente Suggestion einer kulturellen Neutralität und Übergeschichtlichkeit dar. Dagegen war Religion in den antiken mediterranen Gesellschaften keine eigene soziale Institution, sondern eingebettet in die zentralen Institutionen von Gemeinwesen und Familie. Daraus folgt für die heutige Zeit: "Der religiöse Bereich wird in den modernen Gesellschaften als die normalen Alltagerfahrungen alterierend empfunden und etwa durch die Begriffe wie sakral oder heilig in seiner Außeralltäglichkeit hervorgehoben" (55). Für die soziale Funktion der Religion ergibt sich dann in der Moderne die Zuweisung der Aufgabe der Kontingenzbewältigung. Die hier deutlich werdende Tendenz, nach einem überhistorischen Jenseits der christlichen Religion zu fragen, verfolgt S. über den Zeitraum der letzten hundert Jahre, genauer seit Adolf von Harnack bis zum EKD-Text Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kritik im neuen Jahrhundert (1999). S. legt dar, dass in diesen Positionen auf eine überhistorische Gestalt des christlichen Glaubens abgezielt wird, mit der ein "Unbehagen am Religionsbegriff" einhergeht, "das wohl vor allem daher rührt, dass der Gebrauch des Begriffes einerseits immer schon Pluralität von Religionen impliziert, andererseits zu einer Objektivierung des eigenen, christlichen Glaubens nötigt, durch die er zum Gegenstand auch der Kritik werden kann. Die Frage nach Religion scheint nach wie vor komplex und vor allem irgendwie gefährlich" (69). Kurz: S. hält jeglichen essentialistischen Religionsdiskurs für nicht mehr anschlussfähig und spricht sich stattdessen für historisch-parikulare Diskurse aus.

Die hier angesprochenen Fragen weitet Karl F. Grimmer in seinem Beitrag "Gott in multikultureller Gesellschaft" (220) aus. Er legt dar, dass ebenso wie Religion auch Kultur keine fest umrissene Größe bezeichnet, da beide Allgemeinbegriffe sind. Weil die menschliche Erkenntnisfähigkeit selbst kulturell geprägt ist, kann Grimmer dann sagen: "Was wir also unter Kultur verstehen, wie wir Kultur verstehen, hängt von unserer eigenen Kultur ab" (221) - womit die eigene kulturelle Geprägtheit deutlich wird, aber auch, bedingt durch vorherrschende Definitionen, Gegenläufiges ausgeblendet werden kann. Für den Begriff der Religion gilt Analoges, wobei erschwerend hinzukommt, dass diejenigen Sprachen für ihn kein Lehnwort haben, die ihn nicht aus dem Lateinischen übernommen haben. Daraus folgt: "Die Definitionshoheit und Deutungs- und Orientierungskompentenz in religiösen Angelegenheiten ist in einer pluralen Gesellschaft ebenfalls pluralisiert" (223). Diese Pluralität versagt heute sowohl der Kirche als auch der Theologie eine Festschreibung einer bestimmten inhaltlichen Deutung von Religion und Kultur. Eine dieser Zeit entsprechende lebensweltliche Erfahrung als religiöse Erfahrung legt Grimmer in interessanten Interpretationen der Popmusik vor, als deren Ergebnis festzuhalten ist: "Wird Gott in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft zum expliziten Thema, dann wird er multipel und dissipativ" (234). Doch verbleibt Grimmer nicht in den Erfahrungen der Pluralität Gottes, sondern hebt die für Christen begründete Hoffnung hervor, dass sich Gott in der Pluralität als der Eine finden lässt, der sich zum Heil aller entäußert hat.

Neben diesen hier vorgestellten Beiträgen, die das Thema Religion und Kultur in seiner Grundsätzlichkeit reflektieren, sind in dem Band zehn weitere überaus lesenswerte Aufsätze versammelt, die konkrete Fragen aus dem Themenbereich behandeln, auf die hier nur pauschal hingewiesen werden kann: Inhaltlich geht es dabei um Reflexionen des Verhältnisses von Religion und Gewalt (Joachim Track, Dieter Becker), um interreligiöse Relationen (Andreas Nehring, Helmut Utzschneider, Peter Nash, Oneide Bobsin), historische (Peter L. Oesterreich, Wolfgang Sommer) und feministische Erwägungen (Renate Jost, Lieselotte Lidner).

Insgesamt hat S. einen thematisch breit gefächerten, anregenden Band vorgelegt, der wesentliche Anregungen für die wichtige Neubestimmung des Verhältnisses von Religion und Kultur gibt. Gleichwohl ist es schade, dass weder die theologische Rezeption Cassirers noch die vielfältigen Verhältnisbestimmungen von Kunst und Religion beachtet worden sind, die bereits Beachtliches für die in Frage stehende Relation von Kultur und Religion geleistet haben. Ein Namensregister hätte zur höheren Brauchbarkeit dieses Bandes beigetragen.