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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

819–822

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Nethöfel, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Christliche Orientierung in einer vernetzten Welt.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2001. 314 S. m. Abb. 8. Kart. Euro 24,90. ISBN 3-7887-1848-X.

Rezensent:

Günter Thomas

Welchem Wandel muss sich Theologie und Kirche unterziehen, damit sie unter den Bedingungen eines folgenschweren kulturellen Orientierungswechsels von den Printmedien zu vernetzten Informations- und Kommunikationstechniken christliche Orientierungsmuster entwickeln und kommunizieren kann? Wie kann die christliche Kirche als soziokulturelle Traditionsgemeinschaft unter den sich rapide und tiefgreifend verändernden Bedingungen und Formen gesellschaftlicher Kommunikation, d. h. in einem Leitmedienwechsel, ihr bewährtes Erfahrungswissen bereitstellen, d. h. das gemeinschaftliche Streben nach Gütern anregen, die gesellschaftliche Suche nach Regeln der Koexistenz befördern und Vorstellungen des guten und des richtigen Lebens wirkungsvoll verbreiten? Dies sind die Grundfragen, denen Wolfgang Nethöfel in diesem Band nachgeht.

Christliche Orientierung in einer vernetzten Welt ist sicherlich nicht der letzte Teil einer Trilogie, muss aber im Ansatz und in der grundbegrifflichen Orientierung in der Fluchtlinie der Habilitationsschrift Theologische Hermeneutik und des ersten Essaybandes Ethik zwischen Medien und Mächten gesehen werden. Diese Verzahnung ist einerseits eine Stärke des Bandes, andererseits macht sie es den mit N.s Anliegen und theoretischen Orientierungen unvertrauten Leserinnen und Lesern nicht leicht. Der Band besteht aus fünf locker verknüpften Teilen bzw. Kapiteln.

Im ersten Teil "Christliche Orientierung im Modell" wendet sich N. der Aufgabe zu, im Gespräch mit theologischen Ansätzen das aktuelle Orientierungspotential des christlichen Traditionsprozesses zu erkunden. An der modernen universitären Theologie kritisiert er, dass sie sich ausschließlich am modernen, auf den Buchdruck aufruhenden Paradigma von Sinn und Geschichte ausrichtet, anstatt auf die Prägung von Leitbildern unter nachliteralen Bedingungen abzuzielen. N. plädiert für ein entschlossenes Verabschieden des alt gewordenen theologischen Paradigmas der Hermeneutik.

Der zentrale Begriff dieser Orientierungsleistung ist der des Mems. Meme sind, so N.s im Anschluss an biologische Evolutionstheorien entwickelte These, Orientierungsmuster, die sich im Prozess der kulturellen Entwicklung bewährt haben und die tieferliegend operieren als ihre medialen Realisierungen in Wort, Schrift, Bild und Ton. So bieten in N.s Theorieanlage Meme diejenigen Muster, die unterhalb der jeweiligen Leitmedien und deren Wechsel wirken und daher erlauben, über einen Leitmedienwechsel hinweg kulturelle und hierin auch religiöse Erfahrung zu verarbeiten.

Der zweite Teil bietet Hinweise auf vergangene und gegenwärtige Umbruchserfahrungen der christlichen Traditionsgemeinschaften. Alle Orientierungsmuster sind, wie N.s Mikrostudien zeigen, multimedial in differente Leitmediendominan- zen eingebunden und dürfen daher nicht an diese gekettet werden. Sie sind stattdessen kreativ und konstruktiv in neue Gegenwarten hinein zu erschließen. So macht N. z. B. in einer Auseinandersetzung mit A. v. Harnacks "Wesen des Christentums" deutlich, dass die Fragen nach dem zeitlosen Wesen und der ungebrochenen historischen Sinnvermittlung durch eine andere ersetzt zu werden verdienen: "Wie wirkt das Christentum, wenn es wirkt?" (98) Die Orientierungsmuster, die als Meme innerhalb der kulturellen Evolution wie Gene operieren, wirken katalytisch für die Ausbildung immer neuer Gestaltbildungen (99) - ohne dass das Permanente das Wesen der Überlieferung ist.

Der dritte Teil trägt den Titel "Die Traditions- und Transformationsgemeinschaft" und versucht die Kirche von außen als Akteur der Zivilgesellschaft zu erfassen. Ohne dass die Kirche die führende Kulturorganisation sein muss, agiert sie in ihren systemischen und organisatorischen Gestalten im Ensemble der anderen Teilsysteme der Gesellschaft. Diese Einordnung ist aber zugleich eine Einbindung in organisatorische Veränderungsprozesse und Funktionsverschiebungen. Dieser Wandel impliziert, dass das Christentum dadurch orientiert, dass es sich selbst orientiert. N.s These ist: "Christliche Kirchen müssen sich im Gesamtsystem der Gesellschaft institutionell positionieren. Erst indem sie diese systemisch beeinflussen, können die individuellen Empfindungen, Intentionen und Erkenntnisse der Mitglieder aktuell und dauerhaft wirken" (132). Es ist allerdings das durchgängige Bedenken N.s, dass die Kirche sich mit ihren Orientierungsangeboten auf eine moderne Konstellation festlegen lässt bzw. selbst festlegt, die faktisch obsolet wurde: d. h. auf das Subjekt, die Geschichte als Integrationsfigur, auf eine Theologie als Hermeneutik, auf die Schriftkultur, auf den Nationalstaat und nicht zuletzt auf eine dem alten Staatsbild entsprechende Organisationsform als Verwaltungsbehörde. Dass die christliche Traditionsgemeinschaft schon in der Vergangenheit kulturelle Übergangssituationen orientiert hat, lässt N. hoffen. Dass die Kirchen jedoch die Umbauten der Leitmedien, des Nationalstaates und der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit so wenig kreativ aufzunehmen vermögen, stimmt ihn höchst pessimistisch.

Weder direkten Steuerungsversuchen anderer Systeme noch einem einfachen Verbreiten von Botschaften vermag N. eine realistische Chance auf Wirksamkeit zusprechen. Vielmehr geschieht s. E. Orientierung unter den gegenwärtigen Bedingungen als "Orientierung durch Selbstorientierung bei gleichzeitigem programmatischem Verzicht auf kausale Beeinflussung" (156). Nur kenntlich gemachte Grenzen und die Implementierung der Orientierungsmuster in die eigene Organisationsgestalt vermögen zu orientieren. Für die medialen Bedingungen der Gegenwart und der nahen Zukunft fehlt jedoch Kirche wie Theologie eine angemessene Medientheorie. In der Folge stabilisiert dieser theologische Ausfall einer Kultur- und Medientheorie "die kulturellen Fehleinschätzungen der Kirchen, sie könnten Kultur und Medien wie ein distanzierter Beobachter beurteilen" (175).

Mit "Orientierung durch Organisation" ist der vierte Teil des Buches überschrieben. In ihm wendet N. die tragende Figur der Orientierung durch Selbstorientierung dergestalt an, dass er nach der spezifischen Organisationsgestalt der Kirche und nach den Potentialen eines strukturellen Wandels für kirchliche Organisationen fragt. "Ebenso wie religiöse Persönlichkeiten bewahren und reproduzieren kirchliche Organisationen Orientierungsmuster christlicher Tradition für andere ... " (182). Die hier von N. diagnostizierten Probleme lassen sich bündig in folgender Alternative zusammenfassen: Kann sich eine als Verwaltungsbehörde organisierte Kirche in einem Umfeld behaupten, in dem der Staat sich zur Dienstleistungsorganisation umbaut und die Kirchen sich auf dem Feld der Kultur unter "Marktbedingungen" behaupten müssen? N.s Bilanz lautet: "Die kirchlichen Organisationsstrukturen konservieren lediglich die Verwaltungsstrukturen einer älteren Moderne: die des absolutistischen Territorialstaates. ... In der durchschnittlichen Gemeinde werden die christlichen Traditionsmuster in den Geselligkeitsformen eines kulturell erledigten Bürgertums tradiert" (187). Die Vernetzungsfähigkeit der Kirche scheint umgekehrt proportional zu ihren Vernetzungschancen und ihrer weltumspannenden Präsenz zu sein.

Der letzte und fünfte Teil "Selbsttransformation als orientierendes Muster" bietet Ansätze eines ethischen Diskurses, der aus der lokalen Verortung und Auseinandersetzung heraus eine globale Sichtweise entwickelt, unübliche Themenfelder erschließt und hierzu neue Theorien heranzieht.

N.s programmatische Analysen provozieren zweifellos Rückfragen. Gewiss wünschen sich aufmerksame Leser und Leserinnen Präzisierungen, die der wohl auf Vorträge zurückgehende Text nicht bieten kann. Zwei dieser Präzisierungswünsche seinen kurz vermerkt. 1. Das große rhetorische Gewicht des Hinweises auf den Leitmedienwechsel steht in einem auffallenden Missverhältnis zur eher schwachen Ausarbeitung der konkreten medialen Umbrüche für den gesellschaftlichen und d. h. auch religiösen Kommunikationsvollzug. In Ermangelung einer theoretischen Erfassung der bleibenden Macht physischer Präsenz kann N. weder auffallende mediale Ungleichzeitigkeiten der Gegenwartskultur erfassen (z. B. die Wiederkehr der Schrift im Internet, das Erstarken performativer Aspekte in öffentlicher Kommunikation etc.), noch ekklesiologisch die Chancen und das Gewicht der versammelten Gemeinde erschließen. Der zweite Präzisierungswunsch richtet sich auf die theoretisch zentrale Konzeption des transmedial wirksamen Mems, bei der u. a. klärungsbedürftig bleibt, wie komplex und entfaltet die einzelnen Meme sind und welche Funktion die theologische Reflexion zu Gunsten einer kritischen Prüfung der Meme oder ihrer operativen Entfaltungen haben könnte.

"Christliche Orientierung in einer vernetzten Welt" ist das Buch eines theologischen Querdenkers, nicht frei von Pathos und prophetischer Gestik. Es ist nie langweilig, gespickt mit anregenden und unüblichen Perspektiven, provozierend und hellsichtig in der sympathischen und eben darin scharfen Kirchenkritik. Es ist instruktiv in der pointierten Zurückweisung eines Festhaltens an alten Paradigmen, vorausweisend in der ethischen Zentralstellung des Orientierungsbegriffs und korrektiv im Insistieren auf dem konstruktiven Charakter theologischer Arbeit. Als solches ist es eine begrüßenswerte Ausnahmeerscheinung auf dem aktuellen theologischen Buchmarkt.