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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

814–817

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Schnoor, Frank

Titel/Untertitel:

Mathilde Ludendorff und das Christentum. Eine radikale völkische Position in der Zeit der Weimarer Republik und des NS-Staates.

Verlag:

Egelsbach-Frankfurt a. M.-München-New York: Dr. Hänsel-Hohenhausen 2001. 349 S. 8 = Deutsche Hochschulschriften, 1192. Kart. Euro 16,00. ISBN 3-8267-1192-0.

Rezensent:

Angelika Dörfler-Dierken

Schnoor hat sich in seiner Kieler Dissertation einer Persönlichkeit und zugleich einem Themenfeld zugewendet, das in den Kirchengeschichten der ersten Hälfte des 20. Jh.s ein Schattendasein fristet: einer der stärksten und radikalsten Gruppierungen innerhalb der völkischen Bewegung während der späten 20er und 30er Jahre des 20. Jh.s - den Ludendorffern - und speziell deren christentumsfeindlicher Vordenkerin, der Ärztin Mathilde Ludendorff, die für sich beanspruchte, durch Offenbarung zur "Deutschen Gotteserkenntnis" gefunden zu haben. Gottfried Maron hat diese Untersuchung angeregt und betreut, nachdem Hans-Ludwig Gaude Vorarbeiten dafür angestellt hatte. Gaude hat S. "in wahrhaft großzügiger Weise" (vgl. Danksagung, Genaueres erhellt die Untersuchung nicht) von ihm gesammeltes Quellenmaterial (Schriften der Ludendorffer, Material zur Biographie der Mathilde Ludendorff) zur Verfügung gestellt. Die Kieler Theologische Fakultät hat S.s Arbeit im Jahre 1999 mit ihrem Fakultätspreis ausgezeichnet.

Die Untersuchung gliedert sich in drei Teile, von denen der erste, Mathilde Ludendorff gewidmet, zwei Drittel des Textes umfasst. Er gliedert sich in drei Unterteile: Nachdem die Biographie der Protagonistin dargestellt wurde, wobei das Schwergewicht auf ihrer familiären und akademischen Sozialisation liegt (11-46), wird ihr Entwurf der "Deutschen Gotteserkenntnis" analysiert (47-102). Darauf folgt die Untersuchung des Verhältnisses von Mathilde Ludendorff zu Christentum und Kirche (103-198). Danach stellt S. die soziale Gruppe, die von dieser Frau maßgeblich bestimmt wurde (199-276), und abschließend die Kritik evangelischer Kirchenvertreter an ihrem Programm (277-308) dar. Jedes dieser Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung, welche die wichtigsten Erkenntnisse der vorhergehenden Analyse unter übergeordneten Gesichtspunkten bündelt. Die Untersuchung wird abgeschlossen von einer Gesamtzusammenfassung (309-316). Ergänzend werden Editionen der ersten Satzungen des Tannenbergbundes und eine Beerdigungsansprache für ein Mitglied der "Deutschvolk"-Bewegung geboten. Das Quellen- und Literaturverzeichnis (325-349) bietet eine chronologisch geordnete Bibliographie der Mathilde Ludendorff, das Verzeichnis einer Sammlung von Schriften aus dem Kreis ihrer Anhänger und ein Verzeichnis der von Mathilde Ludendorff benutzten Quellen und Archivmaterialien aus diversen kirchlichen sowie anderen Archiven aus ganz Deutschland, welche die Fähigkeit S.s belegen, disparates Material zu ordnen und sinnvoll für die Analyse auszuwerten. Ein Abkürzungsverzeichnis fehlt ebenso wie ein Namen- und Sachregister.

Mathilde Friederike Karoline Spieß, geboren am 4.10.1877 in Wiesbaden als Tochter eines als Oberlehrer tätigen liberalen evangelischen Theologen, machte nach Tätigkeiten als Gouvernante und Lehrerin an einer höheren Töchterschule das Abitur nach (Griechisch und Latein brachte sie sich selbst bei) und studierte in München Medizin, unterstützt durch ein Stipendium des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, zum größten Teil aber selbst finanziert durch diverse Tätigkeiten, unter anderem Vorträge zur Frauenfrage. 1904 heiratete sie in Berlin standesamtlich Gustav Adolf von Kemnitz, dem sie bis 1909 drei Kinder gebar, die das Ehepaar nicht taufen ließ. 1906, vor der Geburt Ingeborgs, trat Mathilde aus der Kirche aus. 1913 erfolgte die Approbation in München; Mathilde spezialisierte sich auf Psychiatrie. Nach dem Tod ihres Mannes durch eine Lawine heiratete sie 1919 standesamtlich Major Edmund Georg Kleine, von dem sie sich jedoch schnell wieder scheiden ließ. Wohl 1922 lernte sie Hitler kennen, der ihre religiös-völkischen Gedanken für wirr gehalten haben soll. 1924 wurde sie Ärztin der ersten Ehefrau des angesehenen Generals Ernst Ludendorff, den sie als Hitlers Stellvertreter schon ein Jahr zuvor kennen gelernt hatte. Er eröffnete ihr Publikations- und Vortragsmöglichkeiten. Nach dem Bruch zwischen den beiden Führergestalten der noch jungen nationalsozialistischen Bewegung formierten sich die Anhänger Ludendorffs seit 1925 im Tannenbergbund, auf den Mathilde im Zuge ihrer Ehe mit dem General (standesamtliche Trauung 1926) immer stärkeren Einfluss gewann. Sie formte die Vereinigung von Kriegsveteranen unter den durch die nationalsozialistische Gleichschaltung einschränkenden Bedingungen zur Weltanschauungsgemeinschaft um, in der ihre "Deutsche Gotteserkenntnis" gepflegt und gelebt wurde. Seit 1920 war Mathilde propagandistisch tätig, zuerst für die Frauenbewegung - sie vertrat ein Modell der polaren Zueinanderordnung des Männlichen und des Weiblichen -, ab 1921 für die völkisch-nationalsozialistische Bewegung.

Charakteristisch für ihre geistige Ausrichtung ist deren religiöse Dimension: Eine Konkurrenzreligion zur christlichen sollte im Rückgriff auf angeblich germanisch-naturmystische Vorstellungskreise geschaffen werden. Während unklar bleibt, wann Mathilde Ludendorff die evangelische Kirche verließ, fand der 1927 erfolgte Austritt des Generals ein gewisses literarisches Echo. Kirchenaustritt wurde auch von den Anhängern erwartet. Die konnten dann für sich beanspruchen, das dem deutschen Volk schädliche Treiben der "überstaatlichen Mächte", der Freimaurer, Juden, Jesuiten und "evangelischen Kirchenbeamten", durchschaut zu haben. Sie sollten sich der Pflege einer eigenen, der deutschen Rasse entsprechenden Religion hingeben, die freilich keine "Religion" mehr sein sollte, sondern eine empirisch-naturwissenschaftlichen Ansprüchen genügende Kulturschöpfung, die ihren tiefsten Grund in einer "Schau" hat. Wegen der permanenten Begriffsverwirrungen, die Mathilde Ludendorff vorgenommen und S. nicht völlig aufgeschlüsselt hat, ist es in dieser Rezension nicht möglich, den Kern der Lehre schlüssig zu skizzieren. Die Ludendorffs bauten einen offenbar prosperierenden Verlag mit einem eigenen Vertriebssystem mit Buchhandlungen und Ortsgruppen für die Verbreitung der eigenen Ideenwelt auf. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs begann Mathilde Ludendorff - ihr Mann war schon 1937 verstorben - die Anhänger neuerlich zu sammeln und zu belehren, obwohl sie im Entnazifizierungsverfahren der zweiten Gruppe der Belasteten zugeordnet worden war. Das damit verbundene siebenjährige Publikationsverbot wurde durch Übertragung der Verlagsrechte auf ihren Schwiegersohn, Franz Freiherr Karg von Bebendorff, umgangen. 1961 wurden der Verlag und der "Bund für Gotteserkenntnis (L.)" verboten. Am 12.5.1966 starb Mathilde Ludendorff nach längerer Krankheit in Tutzing.

S.s Untersuchung macht neugierig, weitere Details zu erfahren und eine Deutung in breiterer Perspektive anzuschließen: Mathilde Ludendorff scheint eine charismatisch begabte Führerpersönlichkeit gewesen zu sein, die es verstanden hat, sich im Stil einer "Prophetin" mit divinatorischer Begabung zu inszenieren. Sie hat offenbar nicht nur ihren Mann, sondern auch breitere Kreise für ihre Ideen begeistert und diesen ihre Wirklichkeitssicht nahe gebracht. Überzeugend wirkte sie bei ihren Vortragsreisen ebenso wie bei den von ihr seit 1930 veranstalteten Erziehertagungen und in ihren Schriften, die Außenstehende assoziativ-wirr anmuten, aber mit Unbedingtheitspathos und germanisierenden Sprachformen Einstimmung beim Leser zu erzeugen versuchen. Damit hatte die Frau offenbar auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg Erfolg: 1955 kam es zur Gründung ihrer "Hochschule für Gotteserkenntnis". Inwiefern, wodurch und warum konnte sie solche Wirksamkeit erlangen? S. führt ihren unbeugsamen Willen als Begründung an - aber diese Erklärung reicht schwerlich aus, wenn man den Einfluss begreifen will, den diese Frau auf ihre Umgebung und breite Kreise ausübte. Auch der Hinweis auf ihren Mann, den altverdienten General, der es beförderte, dass seine Frau von seinem eigenen Ansehen profitierte, erlaubt kein wirkliches Verständnis des Phänomens. Mathilde Ludendorff konnte wohl nur deshalb Anhänger überzeugen, weil sie dasjenige aussprach, was diese ihrerseits hören wollten. Das würde aber bedeuten, dass besonders im zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jh.s breite Kreise einer christlich-abendländischen Weltdeutung weitgehend entfremdet waren und nach einer neuen "Religion" hungerten.

Weiterhin fragt sich der Leser, inwiefern das Ehepaar Ludendorff ökonomisch von seinen Unternehmungen profitierte. Handelt es sich bei Verlag und Schriftenvertrieb um Betriebe, die Gewinn für ihren Besitzer abwarfen oder wurden alle Überschüsse wieder in den Ausbau der Bewegung investiert? Welche Anhängerscharen konnte man zum Bezug der Verlagspostillen mobilisieren? Wie viel brachte es ein, wenn Auflagen von über 100.000 Heftchen gedruckt wurden? Offen lässt S. auch, wie die in der propagandistischen Arbeit tätigen Anhänger des "Hauses Ludendorff", die Redner, Buchhändler und Verlagsmitarbeiter finanziert wurden. Offenbar gab die Selbstinszenierung einer Frau vielen Arbeit.

Über die Zahl der Anhänger des "Hauses Ludendorff" zu verschiedenen Zeiten erhellt die Untersuchung nichts. Lassen die gelegentlich genannten Auflagenzahlen verschiedener Veröffentlichungen Rückschlüsse auf deren Zahl zu? Da S. sich auf das literarische Werk der Mathilde Ludendorff konzentriert, sind ihm religionssoziologische Fragen fremd.

Interessant wäre es überdies, die sachlich-geistige Nähe beziehungsweise Ferne des Weltbildes der Mathilde Ludendorff zur nationalsozialistischen Ideologie einerseits, zu anderen Ideologien der völkischen Bewegung andererseits bestimmt zu sehen. Manchen Gedanken der Ludendorffer dürfte man auch bei Deutschen Christen wiederfinden können. Die Schriften der Ludendorfferin wären also auch vor diesem Hintergrund in ihrer Struktur zu würdigen. Damit würde sich ein interessanter Einblick in die Mentalitätsgeschichte der ersten Hälfte des 20.Jh.s ergeben. Frauen haben allerdings wohl in keiner dieser Gruppierungen eine vergleichbar herausgehobene Rolle gespielt. Diese Beobachtung spricht für die Einzigartigkeit der Mathilde Ludendorff.

Die Beschäftigung mit ihr, dem "Haus Ludendorff" und den Ludendorffern regt dazu an, sich mit dem Kampf konkurrierender Ideologien in den 20er und 30er Jahren des 20. Jh.s neu zu beschäftigen - nicht nur in geistes- und ideengeschichtlicher sondern auch in religionspsychologischer und -soziologischer Hinsicht.