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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

811–814

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Nowak, Kurt

Titel/Untertitel:

Kirchliche Zeitgeschichte interdisziplinär. Beiträge 1984-2001.

Verlag:

Hrsg. v. J.-Chr. Kaiser. Stuttgart: Kohlhammer 2002. XIV, 504 S. m. 1 Porträt. gr.8 = Konfession und Gesellschaft, 25. Geb. Euro 40,00. ISBN 3-17-017620-X.

Rezensent:

Wolf-Dieter Hauschild

Der so früh verstorbene Leipziger Kirchenhistoriker Kurt Nowak (1942-2001) ragt durch eine Fülle kluger und innovativer Beiträge über das Normalmaß der Zunft weit heraus. Insbesondere die mit mancherlei Problemen beladene Disziplin Kirchliche Zeitgeschichte hat er seit seiner Dissertation über "Euthanasie" und Sterilisierung im "Dritten Reich" (1977) maßgeblich mitgeprägt. In seltener Weise verband er Exaktheit der historischen Quellenanalyse mit Souveränität der systematisch-theologischen Übersicht, Fragestellung und Problemlösung. Das bekundeten seine zahlreichen Aufsätze, Artikel und Rezensionen: samt den Büchern und Romanen (!) insgesamt 250 Titel, die das von Gisa Bauer und Andres Straßberger erstellte Schriftenverzeichnis 1971-2001 nennt (475-491). N. selber konzipierte noch kurz vor seinem Tod die Auswahl und den Aufbau des vorliegenden Sammelbandes mit 27 meist neueren, zwei noch unveröffentlichten Arbeiten, davon 23 seit 1991. Sein Freund Jochen-Christoph Kaiser hat die Drucklegung des Bandes betreut, dem er eine instruktive Einführung in die vorgelegte Auswahl voranstellt (XI-XIV). Kaiser betont deren Zusammenhang mit der Programmatik der 1988 gemeinsam begründeten Reihe "Konfession und Gesellschaft". Leider fehlt eine biographische Würdigung; die wenigen Hinweise auf N.s Aktivitäten lassen die eindrucksvolle Besonderheit des Wissenschaftlers kaum erkennen.

Die Gliederung des Bandes in sieben Kapitel spiegelt die Weite von N.s Forschungen wider. I. "Arbeiten zum 18. Jahrhundert" (1-79): Über die Rezeptionsgeschichte von J. J. Rousseaus Werk in der deutschen Theologiegeschichte, deren nähere Erforschung eine interdisziplinäre Kooperation hinsichtlich der Geistes- und Sozialgeschichte erforderlich macht (so 28); dem entsprechend über F. Schleiermachers Predigttätigkeit am Berliner Charité-Krankenhaus 1796-1802, die den Grund für seine "glanzvolle akademische Karriere als Theologe, Philosoph und Philologe legte" (45; vgl. dazu N.s grandioses Buch: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung. Göttigen 2001 [s. ThLZ 127, 2002, 206-208]); über die historische Einordnung der Romantik; über die theologische Enzyklopädie als Wissenschaftstheorie und Methodologie von Semler bis Schleiermacher. - II. "Kirchengeschichte im Zeitalter des Historismus" (80-142): drei instruktive, systematisch konturierte biographisch-wissen-schaftsgeschichtliche Skizzen zu Karl (von) Hase, Albert Hauck und Adolf (von) Harnack. (Letzterem hat N. in den letzten Jahren verschiedene Forschungsbeiträge von beachtlicher Qualität gewidmet.) - III. "Judaica" (143-219): eine Studie über Friedrich Wilhelms III. Verfügung von 1821, die den evangelischen Geistlichen die Teilnahme an jüdischen Feiern verbot und sich noch 1902 in Preußen als wirksam erwies; eine Forschungsübersicht über das Verhältnis von Protestantismus und Judentum 1871-1918; zwei Untersuchungen über die spezifische Situation der so genannten christlichen Nichtarier im NS-Staat, insbesondere hinsichtlich deren Behandlung durch die DC-Kirchenleitungen.

Erst die zuletzt genannten Beiträge beziehen sich chronologisch auf die herkömmlich als Kirchliche Zeitgeschichte bezeichnete Periode, welcher fast alle weiteren Beiträge zuzuordnen sind. Kapitel IV "Biologiepolitik. Kirche und Diakonie im Dritten Reich" (220-276) enthält vier informative Beiträge, die N.s bahnbrechende Dissertation zur Thematik aufnehmen und insofern fortführen, als sie die sozialgeschichtlichen Aspekte verdeutlichen. Kapitel V "Herrschaft, Politik und Gesellschaft" (277-378) bringt neben einem Vergleich der protestantischen Eliten in Deutschland und Frankreich 1870-1918 und einer Analyse der politischen Haltung evangelischer Kirchenführer 1930-1932 drei für N.s Arbeitsweise typische Überblicke, die unter einer historiographisch aufschlussreichen systematischen Perspektive das geschichtliche Material aus dem 18.-20. Jh. auswerten: über die Bewertung des so genannten Konstantinischen Zeitalters der (Staats-)Kirche von Gottfried Arnold 1696 bis Dietrich Bonhoeffer 1935, über Defizite des protestantischen Staatsverständnisses zwischen 1789 und 1989 sowie über den "langen Weg der deutschen Protestanten in die Demokratie" seit 1792. Direkte zeitgeschichtliche Beiträge im herkömmlichen Sinne bringt Kapitel VI "Kirche in der zweiten deutschen Diktatur" (379-432), und in Kapitel VII werden drei Aufsätze zu "Methodenfragen" abgedruckt (433-473).

Der reiche Gehalt der einzelnen Teile kann hier nicht näher gewürdigt werden, vielmehr sollen zwei Grundprobleme angesprochen werden, die im Titel des Bandes anklingen. (Unklar bleibt, ob dieser noch von N. selbst stammt oder von J.-C. Kaiser ausgesucht worden ist.) Was soll hier der - offenkundig als Programmwort verwendete - Begriff "interdisziplinär" besagen? N.s Beiträge geben darauf keine direkte Antwort, auch nicht diejenigen zur Methodologie. N. hat zusammen mit der Etablierung der Reihe "Konfession und Gesellschaft" mehrfach betont, dass Theologen mit ihren Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte die Anschlussfähigkeit im Blick auf die Allgemeine Geschichtswissenschaft beachten müssten; er hat oft und völlig zu Recht - wie andere auch - beklagt, dass von dieser die Kirchliche Zeitgeschichte als Gesprächspartnerin nicht ernst genommen werde: "Die kirchliche Zeitgeschichtsschreibung hat Grund zu der Feststellung, dass in Deutschland der mit Konfession-Kirche-Religion bezeichnete Themenbereich und damit auch die entsprechende Forschung von der allgemeinen Zeitgeschichte bislang nur unzureichend wahrgenommen werden" (445). Und man darf konstatieren, dass N. seinerseits sowohl das Gespräch mit der Allgemeinen Geschichtswissenschaft geführt als auch für diese zu berücksichtigende Forderungen aufgestellt hat. Doch das allein - die seit über 200 Jahren selbstverständliche Verschränkung von kirchengeschichtlicher und allgemeinhistorischer Arbeit - kann wahrlich noch nicht den anspruchsvollen Titel der Interdisziplinarität beanspruchen (auch nicht N.s systematisch-theologische Kompetenz, die sich ebenfalls auf eine seit langem bewährte Kooperation bezieht). Allerdings enthalten etliche Beiträge dieses Sammelbandes deutliche Hinweise auf die interdisziplinäre Orientierung des Autors, der in seltener Souveränität zusammen mit der Kirchen- und Theologiegeschichte auch die Philosophie-, Literatur-, Kultur- und Sozialgeschichte in seine Forschungen einbezogen hat. Insofern ist das tituläre Programmwort berechtigt, auch wenn man sich mindestens einen explizit-thematischen Beitrag dazu gewünscht hätte. Die Kirchliche Zeitgeschichte ist ja - wie noch kaum wahrgenommen worden ist - eine Kooperationswissenschaft, auf die einerseits einige theologische Disziplinen sowie die kirchliche Praxisgestaltung bezogen sind und die andererseits u.a. mit den Sozialwissenschaften verbunden ist. Für die Wahrnehmung dieses Sachverhalts hat N. Pionierarbeit geleistet.

Problematisch ist auch die Verwendung des Begriffs "Zeitgeschichte" für einen Sammelband, dessen Aufsätze zu gut einem Drittel das 18./19. Jh. zum Gegenstand haben. In die deutsche Wissenschaft fand jener Begriff seit ca. 1950 Eingang, um die unmittelbare Aktualität im Sinne einer lebensgeschichtlichen Gleichzeitigkeit zu bezeichnen: die "Epoche der Mitlebenden" (so Hans Rothfels 1953, dessen Definition allgemeine Zustimmung fand), deren Beginn mit beachtlichen Gründen auf die Epochenschwelle 1917/18 festgelegt wurde. Nun hat aber die Forschung seit längerem gezeigt, dass die Geschichte nach 1917/18 nicht zu verstehen ist ohne Berücksichtigung der vielfachen konstitutiven Kontinuitätslinien, die sie mit der Zeit des Kaiserreichs 1871 ff. verbinden. N. betonte dies und belegte es mit eindrucksvollen Beispielen (z. B. 166 f.184), wobei er auf eine "chronologische und sachliche Achsenverschiebung" der Kirchlichen Zeitgeschichte hinwies (184). Seine im I. Kapitel abgedruckten Aufsätze machen deutlich, dass die Kontinuitätslinien in mancher Hinsicht ins 18. Jh, mindestens aber bis zur Französischen Revolution zurückreichen. Wir stoßen hier auf ein Verständnis von "Zeitgeschichte", das zwar zu dem französischen von "Histoire contemporaine" passt, das aber den bisher in Deutschland üblichen Begriff paralysiert: "Zeitgeschichte" meint seit dem ersten Auftreten des Begriffs im späten 17. Jh. die Ereignisse der jeweiligen Gegenwart samt deren unmittelbarer Vorgeschichte. Was der Titel des vorliegenden Bandes meint, wird herkömmlich unter der Rubrik "Neuere (bzw. Neueste) Geschichte" eingeordnet. Es dürfte wenig nützen, das gesamte 19. und 20. Jh. als "Zeitgeschichte" verstehen zu wollen. Man kann die Entwicklungslinien, die von der so genannten Gegenwartsgeschichte in vielen Sachgebieten (z. B. Kirchenverfassung, Nationalprotestantismus, Antisemitismus) bis ins 19. Jh. zurückführen, auch anders als relevant markieren. Denn gerade N. hat diesen Bezug durch seine hier präsentierten Aufsätze verdeutlicht, nicht zuletzt aber auch in seiner großartigen Gesamtschau präzise dargestellt (Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, 1995 [s. ThLZ 121, 1996, 69 f.]).

Dass dieses wahrhaft große Buch auf dem soliden Fundament von zahlreichen Einzelstudien steht, macht die postume Veröffentlichung einer repräsentativen Auswahl derselben deutlich. Der Forscher N. hat in mühseliger Kleinarbeit sich den Weg für seine große Synthese gebahnt.