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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

809–811

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Lächele, Rainer, u. Jörg Thierfelder [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Württembergs Protestantismus in der Weimarer Republik.

Verlag:

Stuttgart: Calwer 2003. 256 S. m. Abb. gr.8. Kart. Euro 26,00. ISBN 3-7668-3824-5.

Rezensent:

Uwe Rieske

Nach ihrem Sammelband zum "evangelischen Württemberg zwischen Weltkrieg und Wiederaufbau" (Stuttgart 1995) und der Zusammenstellung von 30 Porträts zu Kirche und Nationalsozialismus in Württemberg ("Wir konnten uns nicht entziehen", Stuttgart 1998) haben die Herausgeber nun diese dritte gemeinsame Publikation zur süddeutschen Kirchengeschichte des 20. Jh.s vorgelegt. Sie versammelt nebst einer Einführung elf Aufsätze zur Historie der württembergischen Landeskirche, de-ren Neukonstitution nach dem Ersten Weltkrieg Siegfried Hermle ("Kirche nach 1918; Ende und Neuanfang") beschreibt. Bei den Einzelstudien handelt es sich um ausgearbeitete Vorträge, die auf einer Tagung des Vereins für Württembergische Kirchengeschichte im Oktober 2001 gehalten wurden.

Das Spektrum der Themen umfasst den Aufbruch der "Kirchlich-Theologischen Arbeitsgemeinschaften in Württemberg" (Sören Widman), das "Verhältnis von Kirche und Schule in der Weimarer Republik" (Rudolf Kieß), aber auch biographische Studien zu "Völkischen Pfarrern in Württemberg" (Hermann Ehmer), einen vergleichenden Blick auf "Katholikinnen und Katholiken in Württemberg 1918-1933" (Joachim Köhler) und Darstellungen zur Diakonissenanstalt in Schwäbisch Hall (Heike Krause) und zur "Tübinger evangelisch-theologischen Fakultät" (Reinhold Rieger) wie zum "Evangelischen Volksbund für Württemberg" (David J. Diephouse). Bereits in diesen Beiträgen, zumal aber in der vergleichenden Studie zu den Württemberger Kirchenpräsidenten Johannes Merz (1857- 1929) und Theophil Wurm (1868-1953) (Rainer Lächele/Jörg Thierfelder) zeigen sich in biographischen Details und Entwicklungen interessante und nachdenkenswerte Aspekte, die durchaus nicht allein für diese süddeutsche Landeskirche paradigmatisch sind.

Der etwa im württembergischen Volksbund auf das Volksganze und seinen organischen Zusammenhang zielende evangelisch-sozialethische Impuls spiegelt die auch andernorts anzutreffende volkskirchliche Aufbruchstimmung der Weimarer Zeit. Zugleich zeigt sich darin das Dilemma des Protestantismus, dessen kulturgesellschaftlicher Anspruch sich kaum mit dem tatsächlichen Mobilisierungsgrad des immer stärker differenzierten evangelischen Bewusstseins deckte: "Das idealisierte protestantische Gesamtmilieu des volkskirchlichen Weltbilds war kaum identisch mit der Gesamtheit des real existierenden protestantischen Teilmilieus; es gab kein selbstverständliches, homogenes evangelisches Volk." (Diephouse, 210)

Vor diesem Hintergrund erklärt und konturiert sich die publizistische Lebensarbeit des Württemberger Protestanten August Hinderer (1877-1945), der seit 1917 als Direktor des Evangelischen Presseverbandes für Deutschland eine Fülle von öffentlichkeitswirksamen Initiativen und Institutionen ins Leben rief. Das breite Engagement der evangelischen Printmedien wandte sich auf die Wiedergesundung des Volkes, die nur im evangelischen Geiste sittlich ertragversprechend und segensreich erfolgen könne. Für die protestantische Publizistik war die Weimarer Zeit jedenfalls eine Ära der beispiellosen Prosperität: "Nie zuvor und bis heute nicht wieder vertrat sie so erfolgreich ein so breites Spektrum evangelischen Öffentlichkeitswillens" (Simone Höckele-Häfner, Die Entdeckung der Öffentlichkeit. August Hinderer und der EPD, 50-61, hier 60).

Am rechten Rand des evangelischen Milieus entstanden auch in Württemberg völkische Vereinigungen, deren Wurzeln, Ursprüngen und Charakteristika der längste und kirchenhistorisch ertragreichste Beitrag des Bandes (78-121) von Hermann Ehmer nachgeht. Verdienstvoll sind darin nicht nur die treffenden Urteile über die völkische Religiosität insgesamt, sondern informativ vor allem die vier detailliert recherchierten biographischen Porträts zum württembergischen Landtagsabgeordneten Karl Steger (1889-1954), zum "Reiseprediger Hitlers" Wilhelm Rehm (1900-1948), zum völkischen Pfarrer und Geschäftsführer beim Hauptausschuss für Kriegsfürsorge Friedrich Ettwein (1886-1913) und zu Wilhelm Krauß (1890-1943), der seit 1931 Ortsgruppenleiter der NSDAP in Bondorf war. Selbstverständnis und Wirken dieser völkisch-nationalen Pfarrer werden aus den Skizzen deutlich, die bald "samt der völkischen Religion vom Nationalsozialismus aufgesogen" wurden, "der 1933 einen Alleinvertretungsanspruch auf alles Völkische erhob und auch durchsetzte" (120).

Affinitäten zum völkischen Ressentiment sind auch bei den führenden evangelischen Repräsentanten Württembergs, bei Johannes Merz (1857-1929) und Theophil Wurm (1868-1953) anzutreffen, die in einem biographischen Vergleich der Herausgeber behandelt werden. Beide württembergischen Kirchenpräsidenten empfingen bleibende Eindrücke vom Berliner Wirken des Hofpredigers Adolf Stoecker, der ihnen ein Vorbild blieb, während ihn der von Viola Schrenk vorgestellte Pfarrer und Publizist Eduard Lamparter (1860-1945) als warnendes Beispiel für den scharf kritisierten zeitgenössischen Antisemitismus heranzog: "Stoecker hat eine gründliche Kenntnis des Judentums, seiner Geschichte, Religion und Kultur gefehlt" (194). In solcher mangelnden Kenntnis des Judentums sah Lamparter die verhängnisvoll wirksame Wurzel für die in Kreisen der Pfarrerschaft häufig anzutreffende "Anfälligkeit für antisemitische Parolen". Früher und präziser als andere erkannte Lamparter "die zerstörerische Macht des antisemitischen Rassenhasses und die destruktive Kraft eines missionarischen Verhältnisses zu den Juden" (198).

In den Beiträgen dieses durch ein Literaturverzeichnis abgerundeten Bandes ist ein interessantes Spektrum biographischer, institutioneller und mentalitätsgeschichtlicher Aspekte versammelt. Kritisch anzumerken bleibt, dass recht viele stilistische Ungenauigkeiten und orthographische Fehler den Gesamteindruck trüben; ob etwa der Tübinger Theologe Paul Wurster (1860-1923) mit der Bezeichnung "Praktologe" einverstanden gewesen wäre, sei dahingestellt (24). Zudem bleiben einschlägige und thematisch relevante Titel zum Protestantismus der Weimarer Zeit unberücksichtigt, wie etwa die Studie von Heinrich Assel zur Lutherrenaissance (Göttingen 1994), Klaus Tanners Arbeit zu den Debatten um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung (Göttingen 1989) und Richard Ziegerts Sammelband "Die Kirchen und die Weimarer Republik" (Neukirchen-Vluyn 1994). Auch wünschte man sich gelegentlich Bezüge zu anderen Landeskirchen: August Hinderer etwa wurde in einem Beitrag von Holger Weitenhagen auch in den Monatsheften für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes (50/ 2001, 249-272) ausführlich gewürdigt, ohne dass dies im Beitrag von Simone Höckele-Häfner aufgenommen worden ist.

Gleichwohl liegt ein informativer, mit vielen Details, Facetten und Überblicken gefüllter Band vor, der den Ertrag der zeitgeschichtlichen Bemühungen um das genauere Verständnis der auch für den deutschen Protestantismus epochalen Ersten Deutschen Republik um interessante Perspektiven auf die bedeutende württembergische Landeskirche erweitert.