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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

803–805

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Constas, Nicholas

Titel/Untertitel:

Proclus of Constantinople and the Cult of the Virgin in Late Antiquity. Homilies 1-5, Texts and Translations.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2003. XIV, 450 S. m. Abb. gr.8 = Supplements to Vigiliae Christianae, 66. Geb. Euro 99,00. ISBN 90-04-12612-0.

Rezensent:

Simon Gerber

"Nichts im Leben ist also so wie die Gottgebärerin Maria. Geh doch, Mensch, in Gedanken durch die ganze Schöpfung und sieh, ob etwas gleich ist oder größer als die heilige und gottgebärende Jungfrau! Durchwandere die Erde, durchspähe das Meer, erforsche die Luft, die Himmel untersuche in der Überlegung, alle unsichtbaren Kräfte erwäge und sieh, ob es in der ganzen Schöpfung noch solch ein Wunder gibt! ... Zähle also die Wunder (parádoxa) und bestaune den Sieg der Jungfrau! Denn welchen die ganze Schöpfung mit Furcht und Zittern pries, den brachte sie allein auf unsagbare Weise ins Brautgemach." (Homilie 5,2)

Proclus (Proklos), 426 Titularbischof von Cyzicus, 434-446 Patriarch von Konstantinopel, preist in rhetorisch-hymnischem Stil, reich an Metaphern und biblischer Typologie, die Jungfrau Maria und das Wunder der Menschwerdung Gottes. Nicholas Constas' Monographie über Proclus und die Marienverehrung der Spätantike hat drei Teile: Geschichte, Philologie und Theologie. Teil 1 (Kapitel 1-3, 7-124) ist eine Biographie Proclus', Teil 2 (Kapitel 4, 125-272) eine Edition von Proclus' Homilien 1-5 und Teil 3 (Kapitel 5 und 6, 273-377) eine Untersuchung zur patristischen Mariologie mit einem Anhang zu Proclus' Christologie.

Wenn C. Proclus' Homilien 1-5 einen Predigtzyklus über Christus und die Gottgebärerin nennt (3), so stimmt das zwar weder vom Anlass der Homilien noch von ihrer Überlieferung, aber eben doch insofern, als es sich bei ihnen um die wichtigsten Predigten Proclus zum Thema handelt; die Homilien 6, 23, 24, 36 sind von zweifelhafter Authentizität oder nur kurz oder beides. Homilie 2, 3 und 4 sind Weihnachtspredigten ("auf die Fleischwerdung [bzw. Geburt] des Herrn"), während Homilie 1 und 4 speziell der Maria gewidmet sind; Christologie und Mariologie sind aber noch eins; erst später emanzipierte sich die Letztere von der Ersten.

Homilie 1 ist eine der berühmtesten, weitestverbreiteten und meistübersetzten altkirchlichen Predigten überhaupt. Proclus hielt sie in Anwesenheit des damaligen Patriarchen Nestorius; dieser antwortete aus dem Stegreif mit einer Gegenpredigt (gegen die Datierung dieses denkwürdigen Ereignisses auf einen 25.3. durch Eduard Schwartz u. a. ist C. skeptisch, da es das Fest der Verkündigung Mariens damals noch nicht gegeben habe; er plädiert für den 26.12., wahrscheinlich 430; vgl. 57- 59.135).

Die Edition von C. bietet für jede Homilie den griechischen Text mit Apparat und englischer Übersetzung, dazu eine historisch-theologische Einleitung mit Bericht über die Überlieferungslage und einen kurzen, hilfreichen Kommentar mit Worterklärungen und Parallelstellen. Bei Homilie 1 kann C. auf Eduard Schwartz' Edition in den Akten des Konzils von Ephesus zurückgreifen (ACO I, 1,1, 103-107); der Apparat gibt nur ausgewählte Varianten wieder. Für Homilie 2-5 dagegen legt C. die erste kritische Edition überhaupt vor. Während Homilie2 und 3 nur von einer Handschrift (Vaticanus graecus 1633 samt einer Kopie aus dem 17. Jh.) direkt überliefert sind, sind Homilie 4 und 5 reicher bezeugt.

Gerade hier ist C.s Ausgabe ein Gewinn: Gegenüber der im Band 65 von Mignes Patrologia Graeca abgedruckten Proclus-Ausgabe V. Riccardis (Rom 1630) stützt sie sich auf einen anderen Texttyp und kommt so zu einem weit zuverlässigeren Text. Der Edition hätte ein Register der griechischen Wörter und der zitierten Bibelstellen nicht geschadet. Ärgerlich ist die nicht geringe Zahl der Akzentfehler, bei denen in der Regel statt des Akut ein Gravis und vice versa steht (z. B. Homilie 1, Zeile 55.64; Homilie 2, Zeile 7.17.19.35; Homilie 3, Zeile 45 f.; Homilie 4, Zeile 11.37.79; Homilie 5, Zeile 44.64.98).

In Kapitel 1-3 zeichnet C. Proclus' Biographie nach, seine erste Kandidatur um das Patriarchat Konstantinopel, seine Ernennung zum Metropoliten von Cyzicus, zu einem Amt, das er indessen nicht antrat, seine Wahl zum Patriarchen und seine Beteiligung am christologischen Streit "zwischen den Streiten" (d. h. zwischen der Union von 433, die den Nestorianischen Streit abschloss, und dem Ausbruch des Eutychianischen Streites 448 unter Proclus' Nachfolger Flavian). Proclus stritt gegen die Antiochenische Theologie, noch als Titularbischof von Cyzikus gegen Nestorius, dann als Patriarch gegen das Andenken Theodors von Mopsuestia ( 428) und die Verbreitung von dessen Werken in Armenien. Besondere Sorgfalt verwendet C. auf die Charakterisierung der Konstantinopeler geistig-kulturellen und religiösen Milieus: Auch ohne die Kabalen Cyrills bildete sich hier bald nach Nestorius' Wahl 428 eine breite Opposition gegen den neuen Patriarchen, zu der auch die spätere Kaiserin Pulcheria gehörte.

Die Kapitel 5 und 6 behandeln die patristische Mariologie nicht nach ihrem dogmatischen Gehalt, sondern, was viel interessanter und dem Gegenstand wohl auch angemessener ist, nach ihrer Ausdeutung und Ausschmückung. Zwei Kreise von Vorstellungen werden untersucht, die schon vor Proclus, nicht zuletzt in der apokryphen Literatur, reich belegt sind und die Ikonographie prägten. Zunächst geht es um die Vorstellung, Maria habe Christus jungfräulich durch das Ohr empfangen, als dieses die Botschaft des Engels vernahm; Maria sei damit der Antitypus Evas, bei der durch das Ohr die Stimme des Versuchers eingedrungen sei.

Umstritten war, ob der Schall der Stimme damit tatsächlich als das zeugende Prinzip bei der Empfängnis Christi anzusehen sei. (Eine religionspsychologische Studie zu diesem Problem veröffentlichte schon 1914 der Psychoanalytiker Ernest Jones, abgedruckt in: Zur Psychoanalyse der Religion, Leipzig 1928, 34-115; seine These, das Entscheidende sei, dass Stimme und Geist als etwas Feuchtes gegolten hätten, lässt sich durch C.s Forschungen indessen nicht stützen.) Indem nun nicht nur das Ohr, sondern auch das weibliche Geschlecht durch die Muschel symbolisiert wurde und der Embryo durch die Perle, wurde Marias empfangendes Ohr als perlenbehängt dargestellt. Der andere Vorstellungskreis ist der von Marias Arbeit am Webstuhl: Die Webkunst sei schon bei den alten Griechen die geachtete Arbeit der Frau gewesen. Marias Leib sei selbst der Webstuhl, an dem der Leib des neuen Adams hergestellt worden sei; dieser entspricht antitypisch den Leibern und den Fellkleidern Adams und Evas, aber auch dem Vorhang, der das Allerheiligste verhüllt. Im Protevangelium Jacobi 10 f. webt Maria gerade den purpurnen Stoff für den neuen Vorhang des Tempels, als Gabriel eintritt.

C. schreibt, Proclus' Auffassung sei "an important and skilfully balanced statement of orthodox christology" (2, vgl. auch 5.194 u. ö.) und die rechte Mitte zwischen Cyrill und den Antiochenern (360-377). Tatsächlich steht Proclus Cyrill wesentlich näher, auch wenn er im Gegensatz zu diesem an der Zweiheit der Naturen Christi auch nach der Menschwerdung keinen Zweifel lässt; in Homilie 2,2 bezeichnet er Nestorius bereits als eins der Pferde im Vierergespann des Teufels, zusammen mit Arius, Eunomius und Macedonius. Proclus repräsentiert damit in der Tat eine Orthodoxie, aber eben eine, die so erst 100 Jahre später durch die Festschreibung des Chalcedonense und die Verdammung der "drei Kapitel" sanktioniert wurde.

Der Antiochenischen Theologie hätte C. mithin mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen können: Sie ist nicht einfach eine unorthodoxe Zwei-Hypostasen-Christologie (so 67 f.366 f. - S. 83 schreibt C. gar, Theodoret, den das Konzil von Chalcedon rehabilitierte, sei auf eben diesem Konzil verurteilt worden. Der Grundgedanke der Antiochenischen Theologie wird S. 51 aber richtig wiedergegeben).

Im Verzeichnis der Sekundärliteratur steht maches, was unter die Quellen gehört hätte - beispielsweise H. B. Swetes Ausgabe der Pauluskommentare und dogmatischen Fragmente Theodors.

Insgesamt hat C. eine verdienstvolle Edition und eine spannende und gelehrte Studie vorgelegt.