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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

799–803

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Walter, Matthias

Titel/Untertitel:

Gemeinde als Leib Christi. Untersuchungen zum Corpus Paulinum und zu den "Apostolischen Vätern".

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. V, 349 S. gr.8 = Novum Testamentum et Orbis Antiquus, 49. Lw. Euro 67,10. ISBN 3-7278-1367-9 (Universitätsverlag); 3-525-53950-9 (Vandenhoeck & Ruprecht).

Rezensent:

Ingrid Rosa Kitzberger

"Jetzt hatte es sich verwandelt in sein Leben und Blut selber [...] Er wird das Land ganz in sich hineinschlingen, wird so in das Land hineinschlüpfen, daß er das Land selber ist. Das kann nur atmen, wenn er atmet, schreiten, wenn er schreitet, wenn er stille steht, steht es still. Leibhaft, geradezu, körperhaft war ihm diese Vorstellung. Stuttgart ist sein Herz, der Neckar seine große Schlagader, das schwäbische Gebirg ist seine Brust, der schwäbische Wald sein Haar. Er ist Württemberg, leibhaft, Württemberg nichts als er."

Mit der Beschreibung des als zugleich mythisch und politisch charakterisierten Traums von Herzog Karl Alexander von Württemberg aus Lion Feuchtwangers Roman Jud Süß skizziert der Vf. einleitend die kontroverse Diskussion um die Bedeutung des Bildes von der christlichen Gemeinde als Leib Christi und seine eigene Fragestellung einer möglichen Verbindung zwischen mythischer Größe oder theologischer Aussage einerseits und der politischen Bedeutung des Bildes als Anweisung für die Strukturierung des gemeindlichen Alltags andererseits.

Die aus dem Spannungsfeld zwischen metaphorischer Rede und konkreter Realität, zwischen Theologie und Paränese geborene Untersuchung ist die überarbeitete Fassung der im Sommersemester 1998 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg angenommenen und von Gerd Theißen betreuten Dissertation, die der Vf. inzwischen als Pastor an der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde der Baptisten im schwäbisch-württembergischen Sindelfingen leib-haftig weiterschreibt.

Das im Vorwort kurz angedeutete existentielle Interesse des Vf.s am Thema erklärt seinen Mut für ein so weit gestecktes Projekt, welches das gesamte Corpus Paulinum, die Apostolischen Väter sowie antike Texte umfasst und das sich in methodischer Hinsicht in die Disziplinen der Sprachwissenschaften und der Wissenssoziologie als Erweiterung des exegetischen (d. h. historisch-kritischen) Instrumentariums vorwagt.

Die Arbeit wird nach einer sehr knapp gehaltenen Einleitung, einem Überblick über die Forschungsgeschichte, und ausführlichen methodischen Überlegungen (Kap. 1-3), in sechs Kapiteln entfaltet, die sich im Wesentlichen an der (wahrscheinlichen) chronologischen Reihenfolge des frühchristlichen Textmaterials orientieren. Kap. 4 behandelt, in einem letzten vorbereitenden Schritt, die "Leib-Metaphorik in der Antike" (pagane philosophische und historiographische sowie jüdisch-hellenistische Texte). Kap. 5-8 bilden den eigentlichen Kern der Arbeit: Kap. 5 "Paulus" (1. Korintherbrief und Römerbrief), Kap. 6 "Der Kolosserbrief", Kap. 7 "Der Epheserbrief", und Kap. 8 die "Apostolischen Väter" (1. Klemensbrief, Ignatius von Antiochien, Polykarp, Hirt des Hermas und 2. Klemensbrief). Ein (sehr kurzer) Ausblick in das apologetische und gnostische Schrifttum in Kap. 9, sowie eine knappe "Zusammenfassung" in Kap. 10 schließen die Untersuchung ab. Im Anhang finden sich ein tabellarischer Überblick über die antike Leib-Metaphorik und ein Stellenregister. Die ausführliche "Bibliographie" bietet Hilfsmittel, Quellenausgaben sowie Sekundärliteratur, die exegetische, sprachwissenschaftliche und wissenssoziologische Literatur (ohne Unterteilung) umfasst.

Mit seiner Untersuchung legt der Vf. ein "Jahrhundertwerk" vor, und zwar in dreifacher Hinsicht:

1. Sie bietet einen "Gang durch rund hundert Jahre frühchristlicher Leib-Metaphorik" (308), wobei das Interesse vornehmlich der Entwicklung der Metapher gilt (6);

2. Am Ende des letzten Jahrhunderts verfasst, schlägt sie den Bogen zurück zur am Beginn des Jahrhunderts einsetzenden modernen Forschung;

3. Am Beginn dieses Jahrhunderts publiziert, markiert sie durch ihre Fragestellung und den neuen methodischen Ansatz ein neues Kapitel in der Forschungsgeschichte.

"Wie kam die Kirche ins Apostolikum?" Die Leitfrage nach der sich in Christus konzentrierenden göttlichen Dimension von Kirche, wie sie Traugott Schmidt in seiner die moderne Forschung begründenden, postum 1919 von seiner Frau veröffentlichten Studie zu "Leib Christi" stellt, setzt die Koordinaten der nachfolgenden Forschung fest, die sich zwischen den Polen vertikal und horizontal, göttlich und irdisch, metaphorischer Auslegung und ontologischer Interpretation bewegen wird und die von der Frage nach religionsgeschichtlichen Parallelen, dem Vergleich mit dem stoischen Organismusgedanken oder aber von rein innerchristlichen, auf die Sakramente von Taufe und Herrenmahl rekurrierenden Prämissen und der Dekonstruktion aller dieser Interpretationen bestimmt sein wird.

"Wie wirklich ist die Wirklichkeit?" Die Frage steht am Beginn der Wissenssoziologie und ihrer Analyse dessen, was gemeinhin als Wirklichkeit gilt. Es geht um den Zusammenhang von Sinn und Sein, wie subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird, wie eine neue Sinnkonstruktion, eine neu konstruierte Wirklichkeit plausibel werden kann.

Am Schnittpunkt von Metapherntheorie (besonders mit Blick auf die affektiv-emotionale und soziale Funktion der Metapher) und Wissenssoziologie setzt der Vf. mit seiner "wissenssoziologischen Metaphernanalyse" (105) an, insofern die Bezeichnung der Gemeinde als "Leib Christi" ein sprachlich vermitteltes Wirklichkeitsverständnis darstellt. Dem Ansatz von Peter L. Berger und Thomas Luckmann ("Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie") folgend knüpft der Vf. an die neutestamentlich-wissenssoziologischen Pionierarbeiten insbesondere von Wayne A. Meeks, Gerd Theißen und Peter Lampe an.

Die in der Metapher "Leib Christi" implizierte dreifache Dimension (Verhältnis zwischen Christus und Gemeinde, Verhältnis der einzelnen Gemeindeglieder untereinander, Abgrenzung nach außen, d. h. zur Welt, die nicht "Leib Christi" ist) und damit die Verbindung von horizontaler und vertikaler Perspektive macht den Brückenschlag von der theologischen zur wissenssoziologischen Untersuchung zu einem verheißungsvollen Unternehmen.

Wenn der Vf. am Schluss auf die schon am Beginn gestellte entscheidende Frage "Ist der Ausdruck Leib Christi Mythos oder Metapher?" noch einmal zurückkommt (309), dann sieht er die Lösung in der Wissenssoziologie, insofern sie hilft, die scharfe Trennung von Metapher und Mythos aufzuheben, denn: "Die Metapher von der Gemeinde als Leib Christi bietet dann ein Modell, die in der Gemeinde sich realisierende Sinnwelt auf ihre symbolische Sinnwelt zu verweisen." (310)

Nach Berger/Luckmann stellt eine "symbolische Sinnwelt" die höchste Stufe der Legitimation dar, in der "alle Ausschnitte der institutionalen Ordnung in ein umfassendes Bezugssystem integriert [werden], das eine Welt im eigentlichen Sinn begründet", sie ist damit "als die Matrix aller gesellschaftlich objektivierten und subjektiv wirklichen Sinnhaftigkeit zu verstehen."

"Leib Christi" ist eine solche symbolische Sinnwelt, die das Sein der Gemeinde mit umfassendem Sinn verbindet und dem einzelnen Gemeindeglied als Identifikationsmöglichkeit und -angebot gegeben ist. "Die Gemeinde erfährt in ihr [i. e. der Metapher vom Leib Christi] ihr Woher, ihr Wie und ihr Wohin. Als marginale Subsinnwelt ist sie darauf besonders angewiesen." (311) Besondere Bedeutung hat sie deshalb für neue Mitglieder, die im Zuge ihrer "Neusozialisierung" in eine neue symbolische Sinnwelt und ihre gemeindliche Wirklichkeit eingeführt werden (190).

Wer auf Grund des (Unter-)Titels das Buch zur Hand nimmt, um sich sogleich auf Paulus bzw. die Deuteropaulinen oder auch auf die so genannten "Apostolischen Väter" - eine wegen ihrer unterschiedlichen Definition eher offene Größe - zu stürzen, muss sich gedulden. Erst auf S. 105 beginnt der eigentliche Hauptteil. Wer den sprachwissenschaftlichen und wissenssoziologischen "Grundkurs" absolviert und sich sodann einen Weg durch die antiken Texte gebahnt hat, wird im Hauptteil mit detaillierten Analysen der "Leib-Christi"-Texte belohnt. Dabei hat der Vf. auch Texte mit einbezogen, die sonst im Kontext des Themas nicht beachtet worden sind, etwa 1Kor 11, 2-16. Die Gewichtung der Kapitel fällt allerdings sehr unterschiedlich aus.

Bei z. T. sehr spitzfindigen Anmerkungen (etwa zum Unterschied zwischen soma Christou und soma en Christo kann die Fülle von Beobachtungen zum jeweiligen Text mitunter dafür sorgen, den "roten Faden" im Hinblick auf das Anliegen und die Zielsetzung der Arbeit zu verlieren. (Dies gilt auch für den überproportionalen Anmerkungsapparat, der bisweilen ganze Seiten umfasst!) Die Diskussion jeder einzelnen Textpassage verdient es, entsprechend gewürdigt zu werden (was auf Grund der hier nötigen Beschränkung nicht möglich ist). Besonders bemerkenswert sind etwa die Ausführungen zu "Leib Christi" in Röm 12 mit Bezug zu Kap. 9-11 und damit dem Verhältnis zwischen Juden und Christen (153 ff.).

Wegen des großen Umfangs des Textmaterials musste eine kontextuelle Analyse der Einzeltexte zu kurz kommen. An manchen Stellen werden die Konsequenzen besonders deutlich, etwa dort, wo die Verbindung zwischen soma und oikodome gegeben ist, wie in Eph 4,12 (207 f.), oder die zwischen Leib und Turm, wie im Hirt des Hermas (282 ff.), und sich somit eine genauere Analyse der Bau-Metaphorik im Hinblick auf die wechselseitige Interpretation der Metaphern nahe legen würde.

(Dass oikodome bei Paulus, wie der Vf. feststellt, ein Stichwort für Stabilität ist (229), ist falsch; es ist durchgängig ein dynamischer Begriff! S. dazu Kitzberger, "Bau der Gemeinde", fzb 53, Würzburg: Echter 1986.)

Sehr positiv anzumerken ist die kurze Einführung in die jeweilige Schrift, ihre Entstehungsgeschichte, Datierung, und die konkrete Gesprächssituation. Dadurch wird sehr unterschiedlichen Lesern und Leserinnen ein Zugang ermöglicht. Andererseits wird aber vieles als bekannt vorausgesetzt (z. B. die Abkürzungen für antike Schriften und jene der "Apostolischen Väter"). Leserfreundlich ist der Diatribenstil, der sich, in paulinischer Manier, teilweise durch die Arbeit zieht.

Insgesamt bietet die Arbeit neue, interessante und beachtenswerte Perspektiven. Sie rückt auch bisher in der Forschung gewonnene Einsichten durch die wissenssoziologische Fragestellung in ein neues Licht.

Allerdings ist eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit festzustellen. Das "traditionelle Vorgehen" des Vf.s (6) spiegelt sich auch in den Einzelanalysen, die der historisch-kritischen Exegese, und ihrem Paradigma, verhaftet bleiben. In manchen Abschnitten beschränkt sich die wissenssoziologische Perspektive auf den bloßen Verweis auf die "symbolische Sinnwelt".

Unpräzise, auch tautologische Ausführungen sowie nicht erläuterte Begriffe erschweren bisweilen das Verstehen. Was etwa ist eine "Exmetapher" (288)? Oder was bedeutet: "Die Radikalität der Hamartiologie verdrängt Leib-Metaphorik an den eschatologischen Rand der Ekklesiologie" (289)? In Bezug auf die Begrifflichkeit fällt die mangelnde Abgrenzung und bisweilen Vermischung auf, insbesondere bei der Verwendung von Metapher und Begriff (5.309.311), von Metapher und Bild(feld) (6.278 f.311) sowie von Vergleich und Metapher (149). Bei der Diskussion des sprachlichen Feldes (44 ff.) erstaunt der Verweis auf lediglich die Arbeiten von Jost Trier, da dieser selbst bereits 1934 von einer "babylonischen Vielfalt" von Terminologien und Konzepten gesprochen hat.

Die grundlegende Anfrage richtet sich an den methodischen Anspruch der Arbeit und ihren hermeneutischen Horizont. Das Ansinnen des Vf.s, dass sich die Exegese "neutraler Hilfsmittel" (nämlich der Sprachwissenschaft und Wissenssoziologie) bedient und dass es ihm darum ging, "ein möglichst zweckdienliches Instrumentarium zusammenzufügen" (6), ein "Werkzeug" bzw. "Handwerkszeug" (37 f.), "mit dessen Hilfe das Thema angegangen werden kann" (38), ist fragwürdig angesichts der Tatsache, dass keine gewählte Methode jemals "neutral" ist und dass die hermeneutischen Implikationen immer mit bedacht sein müssen. Eine explizite Hermeneutik und auch Texttheorie fehlen dieser Arbeit. Andererseits sind die Ausführungen zu allen gewählten Texten von einer (impliziten) Hermeneutik des Einverständnisses geprägt, d. h. eine kritische, "gegen den Strich" lesende Auseinandersetzung mit den Aussagen der jeweiligen Autoren findet nicht statt.

Ähnliches spiegelt sich auch in der Verwendung von Sekundärliteratur. Das beeindruckend umfangreiche Literaturverzeichnis (eine wahre Fundgrube!) bietet z. T. sogar Titel aus dem 19. Jh., jedoch - bis auf zwei bis drei "Zufallstreffer" - keine Forschung von Frauen oder gar explizit feministische Forschung. Wo ein solcher, vereinzelter, Hinweis zu finden ist, wird selbst ein feministischer Konsens als "zu oberfächlich" in einer Fußnote abgetan (242 f. n. 109). Auch dass der Vf. Frauen als durch Paulus "in die Missionsarbeit integriert" (234) bezeichnet, ist heute nicht mehr zu halten. Der leider auch in der Diskussion zu 1Kor 11 nicht berücksichtigte Band 1 der Reihe, in der die vorliegende Dissertation erschienen ist, nämlich Max Küchlers "Schweigen, Schmuck und Schleier", hätte wertvolle Impulse liefern können.

Offen bleibt letztlich die entscheidende Frage, wer die Metapher vom "Leib Christi" geprägt hat: die Autoren oder die Gemeinden. Und: Wie ist gegebenenfalls das Verhältnis beider zu bestimmen?

Einerseits führt der Vf. die Entstehung der Metapher auf einen Prozess in der Gemeinde zurück als "Begriff zur kollektiven Selbstdefinition" (311) und: "Ihr gemeinsamer Glaube an diesen Christus führte die Christen in eine gegenseitige Gemeinschaft, die zu beschreiben sie immer wieder ansetzten" (6). Andererseits sieht der Vf. die Metapher als von den Autoren geprägt an (6) und verbleibt auch insgesamt in einer autor-orientierten Perspektive, wenn er als Zielangabe festhält: "Ich werde also fragen, wie sich die Verfasser der entsprechenden frühchristlichen Schriften der Leib-Metaphorik bedient, wie sie das Bild mit ihrem eigenen Sinnhorizont verbunden und was sie damit bezweckt haben." (6) Gleichzeitig stellt er explizit fest: "Man darf die im folgenden herausgearbeiteten Anschauungen nicht unmittelbar mit gelebten gemeindlichen Selbstverständnissen gleichsetzen." (7)

Am Ende bleiben Ambivalenzen, bisweilen auch Widersprüche, unbeantwortete Fragen, Leerstellen. Die Leser und Leserinnen des Buches sind damit in einer ähnlichen Situation wie etwa die Leser des Johannesevangeliums. Vielleicht spiegelt sich darin, auch ohne bewusste Absicht des Vf.s, etwas von der Qualität der Metapher "Leib Christi", die nicht nur am Sinnüberschuss einer jeden Metapher teilhat, sondern sich auch weder in der wissenssoziologischen noch in der historisch-kritischen Analyse "festnageln" lässt. Vielleicht, so mag weitergedacht werden, spiegelt sich darin auch der doppelte Bezugspunkt von "Leib Christi", nämlich Kreuzesleib und Auferstehungsleib, mit dem eine neue, dynamische Realität beginnt.

Die Fülle und der Reichtum dieser Arbeit lassen sie, gerade auch in ihrer Unabgeschlossenheit und Ambivalenz, an dieser Dynamik teilhaben. Es bleibt zu wünschen, dass sie aufmerksame, auch geduldige Leser und Leserinnen findet, die auf je ihre Weise "leib-haftig" weiterschreiben.