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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

795–797

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stegemann, Wolfgang, Malina, Bruce J., u. Gerd Theißen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Jesus in neuen Kontexten.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2002. 288 S. m. Abb. gr.8. Kart. Euro 20,00. ISBN 3-17-016311-6.

Rezensent:

Jürgen Becker

Die Diskussion über Jesus von Nazaret hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend neu orientiert. Einst entfachten R. Bultmann und E. Käsemann einen Dialog mit der Konzentration auf die Frage, welche Bedeutung der historische Jesus für die Theologie besitzen solle. Dabei geriet die Bedeutung Jesu für die Gemeinde nach Ostern zum Schwerpunktthema. Diese Leitfrage war für etwa eine Generation dominant. Sie ist indessen einer neuen Fokussierung gewichen, die sich (nicht selten ausschließlich) auf Jesu Einordnung in die jüdische Zeitgeschichte, Gesellschaft und Kultur konzentriert. Forschungsgeschichtlich variiert man damit die beiden Grundentscheide, mit denen einst H. S. Reimarus die Leben-Jesu-Forschung (ungewollt) einläutete, nämlich Jesus ganz als Juden zu verstehen, und ihn gänzlich von der nachösterlichen Gemeinde abzukoppeln. Allerdings geschieht dies u. a. mit gegenüber Reimarus vielen neuen Theoriebildungen, so dass man dieser neuen Ausrichtung schon eine Methodenverliebtheit attestierte.

Eine der neueren methodischen Fragen ist dabei die sozialwissenschaftliche. Ihr widmet sich auch dieser Band. Seine 21 Beiträge entstammen einem Symposion von 1999 in der Akademie Tutzing, das vornehmlich der Sozialgeschichtliche Arbeitskreis aus Neuendettelsau und die internationale Context Group gemeinsam gestalteten. Die Beiträge stehen keinesfalls homogen zueinander. Unterschiede sind vielmehr gewollt. Unter den Autoren stößt man auf bekannte Namen wie etwa B. J. Malina, E. Schüssler-Fiorenza, J. J. Pilch oder G. Theißen, doch auch auf manche (mir bisher) unbekannte Namen. Leider enthält der Band keine Kurzbiographien zu den Autoren. Es gibt auch überhaupt nur ein allgemeines Literaturverzeichnis, dessen Auswahl dem Leser nicht erschlossen wird. So sind Arbeiten genannt, die im Text nicht auftreten, und es fehlt dort verarbeitete Literatur.

Der Ertrag des Bandes ist wegen seiner Komplexität schwer zusammenzufassen und höchstens auf den allgemeinen Nenner zu bringen, dass man zum Teil auf gute Beispiele dafür stößt, wie sozialwissenschaftliche Fragen Jesu Wirken besser verstehen lassen. So untersucht G. Theißen die politische Dimension des Wirkens Jesu (112 ff.), indem er das Politikverständnis der Antike aufsucht, es bewusst vom neuzeitlichen Verständnis abhebt und Jesu symbolpolitisches Handeln definiert, wie es von den Stichworten "Gewaltverzicht" und "alternatives Herrschaftsideal" geprägt ist. Dieser perspektivische Ansatz, der die viel diskutierte Frage nach der politischen Dimension des Wirkens Jesu auf eine neue Basis stellt, hilft auch dann weiter, wenn man die von Theißen bejahte Messianität Jesu nicht übernimmt und auch bei der so genannten Tempelreinigung anders votiert (vgl. jetzt M. Ebner: Jesus von Nazaret in seiner Zeit, SBS 196, 2003, 199 ff.).

Interessant war für mich auch der Aufsatz von R. Rohrbaugh (212 ff.), der kulturanthropologisch die Selbstverständlichkeit hinterfragt, mit der wir unsere anthropologische Grundorientierung am Selbst und an der Individualität auf die antike Welt projizieren. Man muss mit dem Autor darüber diskutieren, ob Jesus nicht doch eine deutlich größere Selbständigkeit in seiner Gesellschaft besaß, als Rohrbaugh ihm zubilligt. Doch grundsätzlich wird man diese Fragestellung für das gesamte Urchristentum im Blick behalten müssen.

Andere Ausführungen im Band reizen gerade auch aus methodischen Gründen zum Widerspruch. Dazu wähle ich den Aufsatz des sozialwissenschaftlich zweifelsfrei ausgewiesenen B. J. Malina, dessen Überlegungen den Band eröffnen (11 ff.). Malina benutzt ein "gewöhnliches Modell der Gruppenbildung" (15), speziell das für eine task group, wonach die Gruppenbildung stets in fünf Phasen ablaufen soll und nach ihm wie ein quasi überzeitliches Gesetz die Geschichte aller Gruppenbildungen prägt, und, so seine Folgerung, auch die Gruppengeschichte der Jünger Jesu bestimmen muss. Schon dieser Ansatz, der Kontingenz und Komplexität der Geschichte schlicht ausblendet, reizt zum Widerspruch. Doch unter dieser fragwürdigen Vorgabe werden dann alle Evangelienabschnitte mit Hinweisen auf die Jünger auf das Fünf-Phasen-Gesetz mit dem Anspruch verteilt, so die Geschichte des Jüngerkreises nachzeichnen zu können. Dabei verzichtet Malina auf jede auch nur ansatzweise synchrone und diachrone Analyse der Texte. Er unterlegt außerdem allen Texten ungeprüft die Annahme, dass sie unmittelbar geschichtliche Wirklichkeit abbilden. Und endlich ist er gezwungen, den meisten Texten den Ort in seinem Modell rein hypothetisch zuweisen zu müssen, da die meisten Texte selbst keine chronologischen Indizien enthalten, sondern ihren Platz in den Evangelien der gestaltenden Hand der Evangelisten verdanken. Ich denke, solche Konstruktionen von Geschichte sind wenig hilfreich.

Dieses Urteil gilt auch für E. Schüssler-Fiorenzas Programmsatz aus der Zusammenfassung am Schluss ihres Aufsatzes (31): Für sie hat es den Anschein, "dass heute die Flut von Jesusbüchern in einem globalen kapitalistischen Kommunikationskontext dieselbe Funktion wie der religiöse Fundamentalismus hat, nämlich: die kulturelle Hegemonie des Neokapitalismus religiös fortzuschreiben und die Fremdheit vieler unterdrückter Menschen ... in der Jesusfigur des edlen Wilden religiös festzuschreiben". Solche ideologieträchtigen Rundumschläge fördern sicherlich keinen Dialog, auch den über die Erstellung eines angemessenen Jesusbildes nicht.

So hinterlässt der Band einen zwiespältigen Eindruck, wie an weiteren Beispielen gezeigt werden könnte. Dieses Doppelgesicht entsteht wegen der recht unterschiedlich positionierten Autoren. Doch sollte dieses Urteil nicht daran hindern, zu dem Band zu greifen. Denn auch bei einem reich sortierten Obsthändler sind selten alle Früchte empfehlenswert, und manche Obstsorten schmecken dem einen oder anderen eben auch nicht.