Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

789–791

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Balla, Peter

Titel/Untertitel:

The Child-Parent Relationship in the New Testament and its Environment.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XII, 279 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 155. Lw. Euro 69,00. ISBN 3-16-148006-6.

Rezensent:

Christine Gerber

Familie ist en vogue, neuerdings nicht nur in Wahlkampfzeiten. Die Habilitationsschrift des ungarischen Neutestamentlers, angenommen von der Evangelisch-lutherischen Theologischen Universität Budapest, reiht sich ein in die aktuelle althistorische, judaistische und exegetische Untersuchung des antiken Familienlebens. Sie stellt eine spezifische Frage. Es geht um die Beziehung von Kindern zu ihren Eltern im Blick auf Pflichten gegenüber den Eltern. "Kinder" sind also auch und gerade Erwachsene, deren Vater oder Mutter noch lebt. Ist das Thema der Untersuchung begrenzt, so bezieht es seine Relevanz aus dem Vergleich: Ballas Anliegen ist, die Aussagen des Neuen Testaments über die Aufgaben der Kinder gegenüber ihren Eltern in Relation zu denen des Umfeldes zu stellen, d. h. für B., der griechisch-römischen und jüdischen Literatur. Die nun doch nicht ganz so modische Frage lautet: Gibt es ein spezifisch christliches oder zumindest jesuanisches Ethos?

Die Antwort entwickelt B. in zwei etwa gleich langen, aber unterschiedlich strukturierten Abschnitten, indem er zunächst das Umfeld, dann das Neue Testament darstellt. Ohne forschungsgeschichtliche Verortung oder methodische Reflexion des Vorgehens schreitet B. sogleich ad fontes. Er arbeitet geistesgeschichtlich orientiert, mustert die überkommene Literatur, selten nicht-literarische Quellen, daraufhin durch, welche Anforderungen und Ideale sie beschreibt. Dass die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern geschlechts- und statusabhängig sind, konstatiert B., ohne dass es für die Zentralfrage bedeutsam würde.

Die Darstellung des neutestamentlichen Umfeldes (5-111) widmet sich Aussagen in griechischer und römischer Literatur von Homer bis zum 3. Jh. n. Chr. (Ch. 1 und 2) und jüdischer Texte aus der Zeit um die Zeitenwende (Ch. 3), wozu nach B. nicht die Rabbinica zählen. Er systematisiert seine Darstellung nach Forderungen an Kinder, Begründungen und Grenzen der Erwartungen. Die pagane Antike zeigt durch die Jahrhunderte ein konsistentes Bild an Erwartungen, die z. T. religiös begründet werden: Pietas, Gehorsam, Respekt gegenüber den Eltern werden gefordert, und insbesondere, für ihren Unterhalt im Alter und die Beerdigung zu sorgen. Die jüdischen Texte zeichnen nach B. kein grundlegend anderes Bild, abgesehen davon, dass sie nicht die Verehrung der Verstorbenen fordern. Der Tradition des dekalogischen Elternehregebots gibt B. relativ wenig Gewicht (vgl. dazu jetzt H. Jungbauer, "Ehre Vater und Mutter". Der Weg des Elterngebots in der biblischen Tradition, Tübingen 2002 [WUNT 2.146] und dazu die Rezension von P. Müller in ThLZ 128 [2002], 1013-1016). Grenzen des geschuldeten Gehorsams werden in den unterschiedlichen Texten gelegentlich erwähnt: Götter (Cicero, Stoa), die wahre Philosophie (Stoa) bzw. Gott und die Tora (hellenistisches Judentum) sind im Konfliktfall wichtiger als die Eltern. Für apokalyptische Texte ist Familienzwist Zeichen der Endzeit.

Die Analyse des Neuen Testaments (113-228) geht nach Textkorpora vor. Da die Texte jenseits der Evangelien, namentlich paränetische Abschnitte, Haustafeln und Familienmetaphern, kein spezifisches Ethos zeigen, ist die Jesustradition (114-156) am interessantesten. B. setzt sich hier vor allem mit der These Theißens vom afamilialen Ethos der Jesusbewegung auseinander, wobei er freilich nicht wie jener soziologisch argumentiert, sondern auf der Ebene der Evangelienüberlieferung bleibt. B. geht von den Aussagen aus, die Jesus ganz in der alttestamentlich-jüdischen Tradition sprechen lassen, dass Eltern nächst Gott zu ehren sind. Aber auch die Infragestellung von Familienbeziehungen ("tensions within the family", 130-155, z. B. Lk 9,60; 14,26) steht nach B. nicht in Widerspruch zu dem, was in der Umwelt gilt. Vielmehr entspricht es den dort geäußerten Grenzen der Verpflichtung gegenüber Eltern: Im Konfliktfall ist Gott bzw. der Jesusnachfolge der Vorrang zu geben.

Mit dieser These hat B. einen interessanten Beitrag geliefert. Sie steht jedoch in einer Gesamtrekonstruktion, die m. E. nicht überzeugend begründet ist. Denn die Beschränkung der Fragestellung auf einen Aspekt der Eltern-Kind-Beziehung, die nur oberflächliche Interpretation der Texte und die Distanzierung des Neuen Testaments vom Judentum lassen zu viele Fragen offen.

1) Wie B. selbst ausführt, wird die Frage nach Kinderpflichten in der Literatur oft in Korrelation gesetzt zu dem elterlichen Handeln. Die Kinder schulden den Eltern Entgelt für das, was sie erhielten: Leben, Unterhalt etc. Ist zum Verständnis der Kinder-Eltern-Beziehung dann nicht auch das jeweilige Konzept von Elternschaft zu berücksichtigen? Ethische Differenzen lassen aber einen grundlegenderen Unterschied zwischen jüdischer und paganer Konzeption von Elternschaft vermuten. Während in der griechischen und römischen Kultur Abtreibung, Tötung oder Aussetzen des Neugeborenen Elternrecht sind, ist nach jüdischem Verständnis das Geborene als Schöpfung Gottes unbedingt aufzuziehen, sind Kinder also nicht "Besitz" der Eltern.

2) B. setzt die in den Schriften greifbaren Ideale nicht in Korrelation zum tatsächlichen Leben. Zwar ist das Absehen von den real gelebten Beziehungen (die Überschrift "child-parent relationship in practice" [44] ist irreführend) durch das Interesse der Untersuchung gerechtfertigt, geht es doch auch im Neuen Testament um Ideale, nicht um tatsächlich praktizierte Elternehre. Doch nachteilig ist, dass B. kaum nach den sozio-ökonomischen Faktoren fragt, die jenseits der in der antiken Literatur explizierten Begründungen die Forderung der Elternehre notwendig machten. Es gilt, das Lebensrecht und die Würde älterer Menschen ohne "gesellschaftliche Altersversorgung" zu sichern, die keinen "Nutzen" mehr haben oder gar für sich selbst nicht mehr sorgen können. Die Infragestellung des "Generationenvertrages" in der radikal eschatologischen Jesus-Bewegung (hier zu undifferenziert mit dem Bild der Evangelien vermengt) könnte eingedenk dessen auch anders erklärt werden.

3) Die Rekonstruktion ist schließlich fragwürdig, insofern sie sich der bereits durch die Gliederung fixierten, aber nirgends problematisierten Unterstellung verdankt, dass das vom Neuen Testament bezeugte frühe Christentum und das Judentum zwei distinkte Größen sind. B. scheint eine Debatte entgangen zu sein, die sich nicht nur um politische Korrektheit dreht. Es gäbe in Bezug auf das Ethos der Elternehre, vor allem in den religiösen Begründungen, Gemeinsamkeiten von nichtchristlichem Judentum und Neuem Testament in Unterscheidung zur paganen Auffassung zu entdecken. Auch die christliche Erfahrung, dass eine Konversion den Bruch mit der Familie verlangen kann, ist in jüdischer Literatur (Philo, JosAs) reflektiert.

Durch viele Primärtexte in Übersetzung sowie Zusammenfassungen, z. T. tabellarisch, vermittelt B. gut nachvollziehbar sein Bild der Pflichten von Kindern gegenüber ihren Eltern. Ein gegliedertes Literaturverzeichnis und mehrere Indizes schließen den akkurat gearbeiteten Band ab. Er enthebt angesichts seiner benannten Grenzen nicht der weiteren Analyse, informiert jedoch in gewisser Lebendigkeit über die Literatur der Antike zu einer bislang nicht monographisch abgehandelten Frage.