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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

767–771

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Weber, Reinhard

Titel/Untertitel:

Das Gesetz im hellenistischen Judentum. Studien zum Verständnis und zur Funktion der Thora von Demetrios bis Pseudo-Phokylides.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2000. 537 S. gr.8 = Arbeiten zur Religion und Geschichte des Urchristentums, 10. Kart. Euro 5,00. ISBN 3-631-33229-7.

Rezensent:

Dieter Sänger

Die umfangreiche Studie ist ein in sich zusammenhängendes Teilstück von W.s Habilitationsschrift, die bereits 1990 der Göttinger Theologischen Fakultät vorgelegen hat. Für den Druck wurde die ursprüngliche Fassung überarbeitet und auf den aktuellen Forschungsstand gebracht. Neu hinzugekommen ist ein Anhang mit zehn Exkursen, die fast ein Drittel des Textes ausmachen. Neben vertiefenden Ausführungen zu einzelnen Sachkomplexen (z. B. Theokrasie, Kardinaltugenden, Allegorie/Allegorese, Arete-Verständnis) enthalten sie eine Übersicht über die Quellenausgaben zu den Historiker-Fragmenten (inkl. Übersetzungen, Kommentaren, Sekundärliteratur) und geben bibliographische Hinweise zu ausgewählten Aspekten des Themas "Paulus und das Judentum". Inzwischen ist auch der angekündigte zweite Teil des Gesamtwerks erschienen (2001, Verlag und Reihe wie oben), in dem speziell Philo und Josephus behandelt werden.

In der Einleitung (13-36) skizziert W. den neutestamentlichen Hintergrund und den Horizont seiner Fragestellung, die er zunächst in Form einer Defizitanzeige formuliert. Vielfach erscheine der Zugang zum jüdischen Toraverständnis durch eine ganz bestimmte Paulusinterpretation präjudiziert. Ohne in Rechnung zu stellen, dass der Christ Paulus die Tora nicht mehr ausschließlich aus ihren jüdischen Denkzusammenhängen heraus, sondern von seiner Christusoffenbarung her beurteilt, werde seine negativ-polemische Wertung des Nomos verabsolutiert. Dadurch blieben von vornherein alle Elemente des jüdischen Toraverständnisses ausgeblendet, "die positiv in die Gedankenführung des Apostels eingegangen sind" (17; vgl. 34 f., Anm. 16). Dieser reduktionistische Ansatz habe dazu geführt, den Nomos, gegen den Paulus agitiert, vor allem mit der "pharisäisch-rabbinischen Orthodoxie" zu verbinden (ebd.). So erkläre sich, dass sie das christliche Bild vom Judentum als einer Religion gesetzlicher Werkgerechtigkeit entscheidend geprägt habe. Aber auch der gegenläufige Versuch E. P. Sanders', dieses Vorurteil von Paulus her aufzubrechen und sein Gesetzesverständnis mit dem des palästinischen Judentums zu korrelieren, sei methodisch wie hermeneutisch dysfunktional. Denn zum einen folge aus dem Vergleich des sie jeweils kennzeichnenden "Pattern of Religion" eine gewisse "Kommunikationslosigkeit" zwischen beiden Positionen, insofern Sanders selbst konstatiere, dass "sie in je verschiedenen, aneinander vorbeiredenden Welten leben" (18). Und zum anderen werde erneut eine Erscheinungsform des zeitgenössischen Judentums - eben das palästinische - mit dem Status versehen, seine Gesamtheit zu repräsentieren. Gerade bei der Rückfrage nach der von Paulus entwickelten Religionsstruktur dürfe aber sein hellenistisch-jüdischer Hintergrund nicht ignoriert werden, wobei W. unter "hell. Judentum" ganz allgemein das "muttersprachlich griechische Judentum" versteht (20). In seiner Studie, die er als notwendige Vorarbeit für eine sachgemäßere Erfassung der theologischen Konturen des paulinischen Gesetzesverständnis betrachtet (19), möchte W. die bislang dominierende, sich aber als kontraproduktiv erweisende einseitige Option für das rabbinisch geprägte bzw. palästinische Judentum um die ihr komplementär zugeordnete- nicht alternativ entgegengesetzte - Option für das hellenistische Judentum ergänzen. Angestrebt wird ein "Gesamtverständnis ... hinsichtlich seiner Selbstverständigung in Verarbeitung ... der eigenen geistig-geschichtlichen Tradition in deren literarisch Gestalt gewordener Fixierung als Thora und in Auseinandersetzung mit der hellenistischen Bildung und Kultur" der paganen Umwelt (23).

Um eine tragfähige und zugleich überschaubare Textbasis zu gewinnen, entscheidet sich W. für das folgende Auswahlprinzip: Berücksichtigt werden nur griechische Originalschriften. Ausgespart bleiben ferner alle Texte, zu denen entweder neuere einschlägige Untersuchungen vorliegen oder die thematisch unergiebig bzw. nur partiell relevant sind. Über das Für und Wider des Kriterienkatalogs lässt sich natürlich ebenso streiten wie über die nicht näher begründete Einschätzung "unergiebig" oder "partiell relevant". Doch auch wer sie nicht in jedem Fall teilt, kommt um eine Materialbegrenzung nicht herum. Unverständlich ist allerdings, dass die LXX nicht eigens thematisiert wird. An diesem Punkt fällt W. hinter seine methodischen Grundsätze zurück. Die Reihenfolge der behandelten Werke ist weithin chronologisch bedingt, bei den Historiker-Fragmenten orientiert sie sich an der von A.-M. Denis besorgten Ausgabe (PVTG 13, Leiden 1970, 175 ff.).

Die Ergebnisse im Einzelnen: Demetrios versucht die eigene Identität durch den Rekurs auf die Tora und den Aufweis ihres vernunftgemäßen Charakters zu sichern. Schwierigkeiten löst er, indem er nach der Methode Aporiai kai Lyseis arbeitet und sich damit der Mittel aufgeklärter Rationalität bedient. Für ihn ist die Tora "Filter und Interpretationskodex" (41) für die Phänomene der nichtisraelitischen Welt (vgl. 310). Eupolemos stilisiert Mose als Protos Heuretes und macht ihn zum ältesten Kulturheros. Dadurch wird die in der Tora dokumentierte Geschichte des jüdischen Volkes glorifiziert und eine Prävalenz des hellenistischen Bildungsanspruchs zurückgewiesen. Hingegen zeichnet Artapanos Mose als vollkommenen Theios Aner, dem die Menschheit alle wesentlichen Kulturgüter verdankt. Der auf diese Weise universalistisch entschränkte Nomos des Mose besitzt damit das "Format eines Weltgrundgesetzes" (65). Er entspricht einer Rationalität, die in der Tora das kosmische Ordnungsgefüge des einen göttlichen Schöpfers widergespiegelt sieht. Mit anderen Worten, in der Tora ist "die Grundlegung der Welt als ganzer repräsentiert qua personaler Konzentration" (64). Den übrigen Fragmentistenexzerpten (Aristeas historicus, Theophilos, Philon d. Ältere, Kleodemos Malchos, Ps.-Eupolemos) ist gemeinsam, dass der Rückgriff auf Traditionen der Tora primär funktional bestimmt ist. Sie dienen zur Erschließung der gegenwärtigen Welt und stärken angesichts des Geltungsanspruchs konkurrierender paganer Überlieferungen das Bewusstsein für die Überlegenheit der eigenen. Aristobul ist der erste, der mit Hilfe der Allegorese anthropomorph klingende Aussagen über Gott entschärft und den mit Weisheit und Vernunft übereinstimmenden Nomos ansatzweise als Tugendlehre entfaltet. Indem Aristobul die kosmische Dimension der kultisch-rituellen Gesetze einschließlich des Sabbatgebots herausstellt und ihre Harmonie mit der Weltordnung behauptet, die der eine Gott in der Tora als jüdischen Nomos fixiert hat, erhebt er die Tora zum universal gültigen und verbindlichen Weltgesetz (107 f.). Ps.-Aristeas vertritt ein ethisch zugespitztes Verständnis des Nomos, wobei sich universalistische und partikularistische Tendenzen überschneiden, genauer noch, der Partikularismus als eine Form des Universalismus propagiert wird. Der Gehorsam gegenüber den Geboten der Tora, die normative Grundlage allen wahrhaft sittlichen Verhaltens und damit der Wesensbestimmung des Menschen ist, sichert einerseits die Reinheit von Israels Gottesverehrung und leitet andererseits die Völker dazu an, im jüdischen Nomos die Gabe des einen Gottes zu erkennen. D. h. aber: Gerade durch ihre Abgrenzung von den Völkern werden die Juden zu Repräsentanten des Weltvolkes (138 ff.). In den TestXII dominiert das Interesse am sozialen und individuellen Ethos der Tora. Es kulminiert im Liebesgebot, das den Charakter eines "Kreismittelpunktes" hat. Stoische Grundmaximen und alttestamentliches Weisheitsgut gehen im Gesetzesverständnis eine Synthese ein. Gottes Schöpferwille und die Einsicht des Menschen werden zu einer "intersubjektiv kommunikablen Ethik" miteinander verbunden (164).

Nur am Rande begegnet der Gedanke, die Tora sei Weltordnung. In der Sapientia Salomonis wird der Nomos auf die Weisheit hin interpretiert, so dass die Tora in Bedeutungsnähe zur geistigen Struktur der Schöpfung kommt. Sie wird in der Sophia erkannt und durch sie erhalten. Was mit der Vernunft als Schöpfungsordnung erfasst werden kann, ist in der Geschichte Israels paradigmatisch dargestellt. Insofern sind Tora und Nomos (im Sinne des Gesetzes) nicht einfach deckungsgleiche Größen. Vielmehr erscheint die Tora als konkrete geschichtliche Verwirklichungsform der göttlichen Weisheit. Doch eben darin bleibt sie der von Gott gesetzte Maßstab für das rechte sittliche Verhalten in der Welt (soziales Ethos) und gegenüber Gott (Frömmigkeit). Das zentrale Anliegen des 4Makk findet im Eusebes Logismos, der im Gehorsam gegen Gottes Gesetz bewährten Vernunft, seinen prägnanten Ausdruck (215). Durch die an ihre Spitze gestellte Eusebeia werden die hellenistischen Kardinaltugenden "judaisiert". Analog dazu wird der griechische Paideia-Gedanke "nomisiert", so dass die Erziehung im jüdischen Nomos einer der wichtigsten Stabilisationsfaktoren bei der Selbstbehauptung des Judentums in heidnischer Umwelt ist (314). Dem entspricht die spiritualisierende Umdeutung des Naturbegriffs, der als "höhere Physis" mit der von den Juden befolgten Gottesordnung, dem Nomos, identifiziert wird (240 f.). Unter dieser Voraussetzung enthält die Tora das innerste Gesetz der Welt, das jetzt schon von vernünftigen - nämlich die Gebote der Tora beachtenden- Menschen realisiert wird. Bei Ps.-Phokylides geraten die religiösen Themen zu Gunsten der ethischen fast aus dem Blick, was sich bereits an seiner eklektischen Rezeption des Pentateuchs ablesen lässt. Die jüdischen particula exclusiva wie Beschneidung, Sabbat, Speise- und Reinheitsgebote fehlen völlig (285 f.). Um so stärker rücken Fragen der lebenspraktischen Alltagsbewältigung und deren sittliche Fundierung in den Vordergrund. Vor allem die gleichmäßige Verarbeitung alttestamentlich- jüdischer und paganer Traditionen zeigt, dass die Tora als das "allgemein-menschliche ... Sittengesetz" (292 f.) und damit als ein "den Logoi-Sophon der Heiden" parallelisierter "Kodex international gültiger Lebensweisheit" (315) verstanden wird.

Zieht man eine Summe aus den Einzelbeobachtungen, so ergibt sich für die behandelten Schriften, dass sie durchweg auf die Sicherung jüdisch-hellenistischer Identität zielen, die in der Dialektik von Partikularismus und Universalismus Gestalt gewinnt. Ihre Verfasser stellen sich der Aufgabe, dem Rationalitätsanspruch der hellenistischen Welt offensiv zu begegnen, indem sie die Tora als eine die Menschheit übergreifende und darum vernünftiger Argumentation prinzipiell zugängliche Größe aufbieten. Ist Mose der Kulturstifter schlechthin, verlässt die Tora das Ghetto des Partikularen und repräsentiert in kollektiver Weise das universale kulturelle Gedächtnis. Umgekehrt gilt das Gleiche. Sofern den philosophischen und literarischen Traditionen im hellenistischen Bereich eine deutliche Affinität zu jüdischen Grundanschauungen attestiert wird, können ihre Urheber (Homer, Pythagoras, Platon u. a.) als Schüler Moses bzw. der Tora identifiziert und den Großen der biblischen Vorzeit (Abraham, Mose, Joseph) zur Seite gestellt werden. Das hier zu Tage tretende "dialektische Konvergenz- und Konvenienzbemühen" (319) zeigt sich besonders in der Ethisierung der Tora. Gilt nämlich der Gehorsam gegenüber der Tora als die höchste Form der Selbstbildung, der Paideia, wird der Nomos zur Tugendlehre. Deshalb gehören er und die Arete im hellenistischen Judentum eng zusammen. Beide öffnen sich aber auch der vernünftigen Einsicht und sind lehrbar (320). Wird diese dann noch in Aufnahme stoischen Denkens als Spiegel und Abbild der Natur verstanden, in der eine geistige Ordnung (Logos) waltet, schließt sich der Kreis. Die Tora "spricht nur kodifiziert aus, was im Vorbild der Physis schon enthalten ist". Mit anderen Worten: Sie "konvergiert ... auf den Gedanken des Natur-, des Weltgesetzes" (321).

Die Studie erweist W. als einen profunden Kenner der herangezogenen Quellentexte, die er akribisch unter dem Gesichtspunkt ihres Toraverständnisses auswertet. Gelegentlich hat man den Eindruck, er wolle zu viel auf einmal in die Scheune bringen. Dem überbordenden Anmerkungsapparat hätte ebenfalls eine Durchforstung gut getan. Vor allem ist mir nicht deutlich geworden, welche Konsequenzen die erzielten Ergebnisse für eine präzisere Erfassung des paulinischen Gesetzesverständnisses haben. Der in den Vorbemerkungen anvisierte Horizont scheint im Verlauf der thematischen Durchführung aus dem Blickfeld zu schwinden. So bleiben Einleitungs- und Hauptteil seltsam unverbunden. Auch methodisch und inhaltlich ergeben sich einige Rückfragen. Ich notiere nur drei:

1. Lässt es sich heute noch vertreten, das hellenistische Judentum als muttersprachlich griechisches Judentum zu definieren? Dass auch das palästinische Judentum spätestens seit dem 3. Jh. v. Chr. in erheblichem Maße hellenistisch geprägt ist, wird von W. offensichtlich nicht als Problem empfunden. 2. Für überaus zweifelhaft halte ich die Annahme, der Rationalitätsanspruch der nichtjüdischen Umwelt habe das hellenistische Judentum dazu gezwungen, die eigenen Traditionen in diesem Sinne neu zu interpretieren, damit sie vor dem Forum heidnischer Vernunft bestehen können. Nach jüdischem Verständnis haben die in der Tora kodifizierten Gebote, ethischen Weisungen und Reflexionen auf die Geschichte ihre göttlich autorisierte eigene Ratio. Sie bedürfen keiner externen Legitimationsinstanz und schon gar keiner heteronomen Begründung. An diesem Punkt hat sich W. m. E. vorschnell für ein mögliches Erklärungsmodell entschieden. 3. Zu Recht differenziert W. eingangs zwischen Tora und Nomos (21 ff.), unterlässt eine Differenzierung aber in Bezug auf den Nomos-Begriff. Das ist vor allem deshalb misslich, weil er in der paganen Umwelt semantisch offener und nicht als religiöser Terminus festgelegt ist. Welche Konnotation er jeweils besitzt, welche Assoziationen sich mit ihm innerhalb wie außerhalb der intendierten Adressatengruppen - nach wie vor Größen mit vielen Unbekannten - verbinden könnten, wäre zumindest eine Überlegung wert gewesen. Denn gerade der jüdische Nomos ist integraler Bestandteil einer Sinnwelt, die auf die Unverwechselbarkeit der sie konstituierenden Relationsmarkierungen angewiesen ist. Trotz dieser und weiterer kritischer Anfragen leistet das Buch einen wichtigen Beitrag zum Toraverständnis des hellenistischen Judentums. Dass mit ihm das letzte Wort in der Sache noch nicht gesprochen ist, weiß W. vermutlich am besten. Er hat aber einen Schritt in die Richtung gemacht, in die zu gehen sich lohnt.