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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

766 f

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Najman, Hindy

Titel/Untertitel:

Seconding Sinai. The Development of Mosaic Discourse in Second Temple Judaism.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2003. XIV, 176 S. gr.8 = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 77. Lw. US$ 63,00. ISBN 90-04-11542-0.

Rezensent:

Armin D. Baum

Was meinten frühjüdische Autoren damit, wenn sie ihre Texte Personen der biblischen Zeit zuschrieben? N.s Hauptthese (1- 16; vgl. 45-46.116-117) lautet, einigen Verfassern in der Zeit des Zweiten Tempels sei das der Aufklärung verpflichtete Konzept literarischer Echtheit ("authentic attribution") fremd gewesen. Daher würden Begriffe wie "Pseudepigraphie" (und "Rewritten Bible") der frühjüdischen Literatur nicht gerecht. Einer biblischen Person Aussagen zuzuschreiben, die nicht (oder nur teilweise) von ihr stammten, habe nicht als Betrug gegolten. Interpolationen hielt man für legitim. Die Zuschreibung eines Textes an Henoch, Mose oder Salomo habe nicht ausdrücken sollen, dass er von dieser Person verfasst wurde, sondern dasselbe bedeutet, was wir heute mit dem Ruf "Zurück zu Freud" meinen: zurück zur wahren Lehre Freuds bzw. Moses.

1) Offen bleibt, was dieser Ruf etwa im Falle der Henochliteratur bedeuten würde. 2) Als Analogie zieht N. eine Aussage des Iamblichus über die Pythagorasschriften heran (v. P. [1]98). Iamblichus bezeichnete es allerdings nicht als edel, dem Pythagoras fremde Gedanken zuzuschreiben, sondern billigte es lediglich, wenn die Schüler des Pythagoras die Gedanken ihres Lehrers unter dessen Namen publizierten (v. P. 157-158). N.s These, es sei im Frühjudentum akzeptabel gewesen, Mose sogar das Gegenteil dessen zuzuschreiben, was er früheren Schriften zufolge gesagt hatte (23-24), geht weit über die von Iamblich formulierte Regel hinaus. 3) Der Verweis auf Tertullian (Adv. Marc. IV 5,3) sollte nicht vergessen lassen, dass dieser den Namen Henoch im Sinne einer Autorenangabe der Henochschriften aufgefasst hat (cult. fem. I 3,1-3). 4) Unklar bleibt, wie N.s Gleichsetzung des frühjüdischen Konzepts von Authentizität mit der nicht nur von Iamblich und Tertullian bezeugten Differenzierung zwischen Wortlaut bzw. Form und Herkunft bzw. Inhalt einer Aussage (vgl. WUNT II/138, 51-63 u. ö.) zu ihrer These passt, die jüdische und die nichtjüdische Literatur seien in dieser Hinsicht grundverschieden. 5) Eine Interaktion mit D. G. Meade, der unter dem Stichwort "Vergegenwärtigung" in jüngerer Zeit eine ähnliche These wie N. vertreten hat (WUNT 39), findet nicht statt.

Um ihre Hauptthese zu untermauern, befasst N. sich mit vier Schriften, die sie unter der Rubrik "Mosaische Rede" ("Mosaic Discourse") zusammenfasst (16-19), weil sie beanspruchen, 1) dieselbe Autorität wie die biblischen Bücher zu besitzen, 2) Tora zu sein, 3) Zugang zur Sinaioffenbarung zu vermitteln und 4) auf Mose zurückzugehen. Im Anschluss an das Deuteronomium (19-40) werden in Kap. 2 das Jubiläenbuch und die Tempelrolle (41-69) und in Kap. 3 Philos De vita Mosis behandelt (70-107). In Kap. 4 bezieht N. das Esrabuch, das rabbinische Konzept einer mündlichen Tora und Philos Verständnis des ungeschriebenen Gesetzes in ihre Überlegungen ein (107-137). Eine Zusammenfassung, in der die wesentlichen Argumente, die sich aus den Kapiteln 1-4 ergeben haben, gebündelt würden, fehlt.

Das Jubiläenbuch gibt anknüpfend an Ex 24 wieder, was Gott dem Mose am Sinai durch einen Engel diktiert hat (Jub 1, 26-29); es besteht aus einer um umfangreiche Zusätze erweiterten Nacherzählung der Genesis. In der nur fragmentarisch erhaltenen Tempelrolle aus Qumran wendet sich Gott direkt an Mose (vgl. 44,5; 51,6-7); hier werden Abschnitte des Pentateuchs in eine an den Heiligkeitsbereichen des Judentums orientierte Ordnung gebracht und durch außerbiblisches Material ergänzt. Philo unterscheidet im Gegensatz zur Tempelrolle und zu dem Jubiläenbuch konsequent zwischen dem biblischen Text und seiner eigenen Interpretation. All dies wird kenntnisreich und sorgfältig entfaltet. Fraglich bleibt allerdings, ob damit eine Begründung der Hauptthese des Buches gelungen ist.

Ich beschränke mich auf einige allgemeine Anmerkungen. 1) Woran konnte ein frühjüdischer Leser erkennen, ob eine Namensangabe (wie im Sirachbuch) den Autor oder ganz allgemein die Zugehörigkeit einer Schrift zu einem bestimmten "discourse" bezeichnen sollte? 2) Wenn Mose nach Ex 33,11; Num 12,6-8 oder Dtn 34,10-12 allen anderen Propheten überlegen war, wie konnte es dann als legitim gelten, dass ein späterer Autor für seine pseudonyme Weiterentwicklung des alttestamentlichen Gesetzes dieselbe Autorität beansprucht wie jener? 3) Sollte man bei der Frage nach einer eventuellen Täuschungsabsicht einer Schrift wie der Tempelrolle nicht zwischen Abschnitten, die die biblischen Gebote inhaltlich mehr oder weniger korrekt reproduzieren, und dem außerbiblischen Sondergut unterscheiden? 4) Müsste N. sich nicht ausführlicher mit einer alternativen Deutung frühjüdischer Pseudepigraphie auseinander setzen, die Autoren des Jubiläenbuchs und der Tempelrolle (bzw. der in ihnen verarbeiteten Traditionen) hielten es bis zu einem gewissen Grad für legitim, ihre Leser im Dienste ihres theologischen Anliegens über die Herkunft ihrer Schriftinterpretation und ihres außerbiblischen Sonderguts zu täuschen?

N. hat in ihrer Monographie ein Gebiet behandelt, das in seiner Komplexität noch viel Stoff für weitere Untersuchungen bietet. Ihr eigener Forschungsbeitrag breitet wichtiges Material aus, enthält m. E. jedoch noch keine ausreichende Antwort auf die vielschichtige Frage nach der Täuschungsabsicht der frühjüdischen Pseudepigraphie.