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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

696–699

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zimmerling, Peter

Titel/Untertitel:

Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. 310 S. m. Abb. gr.8. Kart. Euro 39,90. ISBN 3-525-56700-6.

Rezensent:

Rainer Mayer

Seit der "Rückkehr der Religiosität" in den letzten Jahrzehnten hat sich ein regelrechter Spiritualitäts-Boom entwickelt. Doch von der Suche nach religiös-spirituellen Erfahrungen konnten die Groß- und Freikirchen nur wenig profitieren. Die neue "religiöse Welle" lief weitgehend an ihnen vorbei. Woran liegt das?

Peter Zimmerling sieht den Grund darin, dass die Quellen der christlichen Spiritualität weitgehend verschüttet wurden oder in Vergessenheit geraten sind. Dies gilt besonders für den Bereich der evangelischen Kirche. Deshalb möchte er mit seiner Arbeit einen "Beitrag zur Erneuerung evangelischer Spiritualität" leisten.

Was aber bedeutet es genau, wenn von "Spiritualität" geredet wird? Der Begriff stammt aus der französischen Ordenstheologie und bezeichnet die Frömmigkeitsfärbung einer bestimmten religiösen oder kirchlichen Gruppe bzw. Gemeinschaft. Dazu gehören eine spezifische Inspiration, eigene Institutionen und Kommunikationsformen. In diesem Sinne kann man in der Tat sinnvoll z. B. von "franziskanischer Spiritualität" oder "Spiritualität der Jesuiten" reden. Was jedoch heißt "Evangelische Spiritualität"?

Der Begriff hat eine Ausweitung erfahren. Im Jahre 1979 gab die Kirchenkanzlei der EKD im Auftrage des Rates eine kleine Schrift mit dem Titel "Evangelische Spiritualität" heraus. Unter Berufung auf diese EKD-Studie verwendet auch Z. im vorliegenden Buch "Spiritualität" in dem dort zu Grunde gelegten weiten Sinn: Das Wort bezeichnet "den äußere Gestalt gewinnenden gelebten Glauben" (16).

Hier beginnt aber eine Schwierigkeit. Denn nach Aussage von CA VII ist es zur Einheit der Kirche gerade nicht nötig, dass Riten, Zeremonien und Traditionen überall gleichförmig sind. Folglich ist ein Milieu-Christentum für evangelische Frömmigkeit untypisch! Spiritualität im genannten weiten Verständnis kann daher im evangelisch-christlichen Kontext sehr vielfältige Gestalt annehmen. Deshalb besteht die Gefahr, unter dem Titel "Evangelische Spiritualität" möglichst viele Erscheinungsformen religiös-geistlichen Lebens zusammenzustellen, die sich gegenwärtig im evangelischen Raum finden. Dabei entsteht nichts anderes als ein bloßes Sammelsurium der Beschreibung unterschiedlicher Frömmigkeitsrichtungen und -stile. Der Begriff "Evangelische Spiritualität" wird dann aber nichtssagend, weil inhaltsleer; ein spezifisch evangelisches Profil wird auf diese Weise nicht gewonnen. Genau dieser Gefahr ist die genannte EKD-Studie erlegen. Man kann sie nur enttäuscht aus der Hand legen. Anders das vorliegende Buch. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es systematisch bei der reformatorischen Mitte ansetzt und von ihr her das Wesen evangelischer Spiritualität entfaltet. Ziel ist es, von dieser Mitte aus erneuernde Impulse für die heutige Praxis zu geben.

In Konsequenz dieses Ansatzes stellt Z. ins Zentrum des ersten Hauptteils seines Buches (17-48) das, was "typisch evangelisch" genannt werden kann. Die Reformation wird ja mit Recht als große geistliche Konzentrationsbewegung innerhalb der Christenheit charakterisiert. Z. beschreibt die "typisch evangelischen" Merkmale nun keineswegs als "glücklichen Besitz" der heutigen evangelischen Christenheit, sondern er fordert, indem er sie nennt, zugleich ihre Erneuerung. Dazu gehören: die Konzentration auf die Person Jesu Christi, ihr Leben und Werk "für uns", die Konzentration auf die Bibel, auf Gottes Gnadenhandeln, auf den persönlichen Glauben (im Unterschied zum bloßen Lehrbekenntnis), auf die Wirkungen des Glaubens in Familie, Beruf und Gesellschaft, kurz die Durchdringung des öffentlichen Lebens vom Glauben her.

Da Spiritualität Vorbilder, "Väter und Mütter im Glauben" braucht, um geweckt und weitergetragen zu werden, bringt der zweite Hauptteil des Buches (49-125) Einblicke in die Geschichte christlicher Spiritualität seit der Reformation an den Beispielen von Martin Luther, Teresa von Avila (!), Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und Dietrich Bonhoeffer.

Der dritte Hauptteil (126-191) beschreibt Impulse aus unserer Zeit, die u. a. vom Kirchentag, der christlichen Meditationsbewegung und evangelischen Kommunitäten ausgehen. Im vierten Teil (192-283) werden Praxishilfen gegeben für das persönliche Gebet, die Beichte, insbesondere die im evangelischen Raum fast ganz verloren gegangene Einzelbeichte, für die Sakramente Taufe und Abendmahl, für Gemeinschaft, Kirchenmusik (unter besonderer Bezugnahme auf Johann Sebastian Bach), das evangelische Heiligengedächtnis, für Pilgern, Fasten, Freizeiten, Exerzitien und Glaubenskurse. Eine kurze Zusammenfassung schließt das Buch. Ein ausführliches Literaturverzeichnis und ein Personenregister sind angefügt.

Der Inhaltsüberblick zeigt, dass Z. einen weiten ökumenischen Horizont öffnet und "evangelische Spiritualität" keineswegs im Sinne eines engen Konfessionalismus verstanden wissen will. Er stützt sich dabei auf eigene Erfahrungen im ökumenischen Bereich und gesteht, dass ihn die Vielzahl persönlicher Begegnungen mit Christen anderer Konfessionen zu einer bewussten Bejahung des landeskirchlich verfassten evangelischen Christseins und zu einer Neuentdeckung des lutherischen Profils evangelischer Spiritualität führte.

Die Rezension sei nicht abgeschlossen, ohne auch einige kritische Fragen zu stellen: Der evangelischen Konzentration auf Jesus Christus wird "die Wiedergewinnung des Glaubens an den dreieinigen Gott" entgegengestellt (27 ff.). Gewiss hat der Ruf zur "Bewahrung der Schöpfung" im Blick auf den ersten und die charismatische Bewegung im Blick auf den dritten Artikel neue Impulse gegeben. Doch in der heutigen kirchlichen Situation, in der viele Predigten oft nur noch um das Humanum kreisen und die Christologie weithin in eine flache Jesulogie eingeebnet wurde, kann man nicht mit Recht behaupten, es gebe im evangelischen Bereich eine Überbetonung der Christologie gegenüber dem trinitarischen Gottesglauben. Vor allem gilt: Die Trinität wird über die Christologie erschlossen und nicht umgekehrt! - Weiter kann man fragen, ob es richtig ist, der "Konzentration auf die Bibel" die "Überwindung der Traditionsvergessenheit" in der Weise gegenüberzustellen, wie es im Buch geschieht (31 ff.). Nach Ansicht des Rez. sollten die Kategorien "Erlebnis" und "Erfahrung" vorsichtiger gebraucht und nicht von vornherein positiv gewertet werden. Der Gegenbegriff "Verkopfung" ist wohl auch mehr ein Klischee, zumal viele Erlebnisse und Erfahrungen durchaus mit dem "Kopf" zu tun haben! In einer "Erlebnisgesellschaft", deren Oberflächlichkeit weitgehend auch in der Kirche Einzug gehalten hat, täte oft etwas mehr Theologie gut. Nicht in ihrer "Verkopfung", sondern in ihrer häufig anzutreffenden Trennung von der Glaubenspraxis besteht der Fehler!

Die letzte Bemerkung führt zum genuinen Anliegen Z.s zurück. Wenn man auch hier und da die Akzente anders setzen würde, bleibt es doch sein großes Verdienst, das aktuelle Thema evangelischer Spiritualität von der reformatorischen Mitte her neu aufgegriffen und dargestellt zu haben. Streben nach Vollständigkeit wäre wegen der eingangs beschriebenen Offenheit evangelischer Spiritualität ohnehin utopisch. Doch dieses Buch ist überreich an wichtigen Impulsen und Anregungen. Das gilt insbesondere für die Biographien und die Praxishilfen des vierten Teils. Für die ökumenische Weite gilt: Wo die Zirkelspitze fest sitzt, nämlich bei der Botschaft von der Versöhnung durch Jesus Christus, kann der Bogen ganz weit ausgreifen.

Als Appell gegen Formlosigkeit und Unverbindlichkeit gehört das Buch auf den Schreibtisch eines jeden Pfarrers und aller engagierten kirchlichen Mitarbeiter. Ohne ein brennendes Herz geht es freilich nicht! Die Impulse, die gegeben werden, tragen auch gerade dort zu einer Erneuerung evangelischer Spiritualität bei, wo sie im Gespräch mit Z. zu eigenen Überlegungen herausfordern.