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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

693–695

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grevel, Jan Peter

Titel/Untertitel:

Die Predigt und ihr Text. Grundlegung einer hermeneutischen Homiletik.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2002. X, 293 S. 8. Kart. Euro 39,90. ISBN 3-7887-1905-2.

Rezensent:

Thomas Erne

Die Heidelberger Dissertation von Jan Peter Grevel ist um die Frage nach der Bedeutung des Textes für die christliche Verkündigung zentriert. Die Frage scheint trivial, da in der evangelischen Predigttheorie die textgebundene Predigt nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird (vgl. 3). Das Problem ist daher nicht, ob, sondern wie, und vor allem, wie grundlegend im Text die Predigt und die Hörersituation vermittelbar sind. Zwei Einseitigkeiten nimmt der Vf. im Verhältnis von Predigt und Situation wahr. Entweder werden die biblischen Texte als Medium der Situation des Hörers zugeordnet, sei es ihrem religiösen Inszenierungsbedürfnis (Meyer-Blanck) oder ihrem religiösen Deutungsinteresse (Gräb). Diese Einseitigkeit verbindet der Vf. mit der Höreremanzipation in der so genannten "empirischen Wende" der liberalen Predigttheorien. Oder Hörersituation und methodische Textaktualisierung werden in einer bibelgenauen Auslegung vernachlässigt im Vertrauen auf die Selbstvergegenwärtigung biblischer Texte (Möller, Hirschler, Mildenberger). Zwischen diesen Extremen, einerseits eine Predigtpraxis, die wirkt, weil sie biblische Texte funktionalisiert, und andererseits eine Praxis, die biblische Texte getreu auslegt, aber nicht mit der fortschreitenden Gegenwart vermittelt, sieht der Vf. die Notwendigkeit einer hermeneutischen Homiletik, die prinzipiell klärt, "unter welchen Bedingungen evangelische Predigt zu einer wirkungsvollen und verantwortlichen Aktualisierung biblischer Texte überhaupt in der Lage ist." (6)

Das Ziel des Buches ist, ein synthetisches Predigtverfahren zu entwickeln, das Text und Situation so verknüpftt, dass das "wirklichkeitserschließende Potential der Bibel" (Teil III.) die Predigt strukturiert. Und zwar mit dem Ziel, dass der Hörer sich und seine Wirklichkeit neu wahrnimmt (vgl. Predigtdefinition, 261). Dieses Programm (Teil I.1.) versucht das Sachanliegen der dialektischen Theologie, die Konzentration auf das Wort Gottes, mit Erkenntnissen der Rezeptionsästhetik und Semiotik (Martin, Engemann) zu verbinden, die dem Hörer einen aktiven Beitrag bei der Wahrnehmung und Deutung der Predigt zumessen. Das Problem, das sich der Vf. damit auflädt, ist nicht unerheblich. Sein Ansatz beim Textprimat soll nicht einfach den "Mythos von der Eigenbewegung der Verkündigung" (41) neu auflegen. Aber eine hörerzentrierte Lösung, die das sinnstiftende Potential im Akt der Rezeption vermutet, ist ihm durch die Vorordnung des Textes verwehrt. Auf der Suche nach einem Textbegriff, der sein Anliegen stützt (Teil I.2.), stößt der Vf. auf Paul Ricurs Formel der "bewohnbaren Textwelt" (72). Mit dieser Metapher versucht Ricur eine Doppelstruktur literarischer Texte zu erfassen. Sie sind einerseits autonome Gebilde und andererseits nur in subjektiver Inanspruchnahme zugänglich. Texte werden daher bei Ricur in einem zweistufigen Verfahren hinsichtlich ihrer objektiven Seite, ohne Beziehung auf den Rezipienten, nur im Blick auf ihre Oberflächenstruktur erklärt und dann hinsichtlich ihrer subjektiven Seite verstanden als Raum, in dem ein Rezipient wesentliche Möglichkeiten entwerfen kann.

In dieser Verschränkung von objektivem Text (Welt) und subjektiver Aneignung (Bewohnen), einem durch den Text konstituierten Raum, in dem ich mich in "einer neuen Weise zu sein vom Text empfange" (73), sieht der Vf. die strukturelle Lösung für die gesuchte "synthetische Beziehung zwischen Textverständnis und Selbstverständnis" (74). Auch die Bibel ist eine "bewohnbare Textwelt", in sich vielfältig, aber durch den Kanon abgeschlossen. Die interne Vielfalt biblischer Sprachformen, die in "grundsätzlicher Kongruenz" (74) zu den theologischen Leitperspektiven, den verschiedenen "Modalitäten des Kerygmas" (ebd.) stehen, untersucht der Vf. in einem zweiten Teil (II.). Welche Bedeutung die exegetische Analyse biblischer Sprachformen für eine hermeneutisch-homiletische Relecture biblischer Texte hat, zeigt der Durchgang durch die exegetischen Entwürfe von Bultmann, Westermann und Lohfink/Zenger. Textauslegung in der Form einer "kanonisch-intertextuellen Lektüre" (176) ist am besten geeignet, die spannungsvolle Pluralität theologischer Perspektiven in der Predigtgestaltung zu vermitteln und den Reichtum theologischer Bedeutung in der Textvergegenwärtigung präsent zu halten. Fasst man die beiden Teile zusammen, dann ist der Predigttext Teil einer biblischen Textwelt, die offen steht für subjektive Deutungsprozesse (Teil I) und die sich als ein Raum reicher, vernetzter Sprachformen und der ihnen korrespondierenden theologischen Sinngehalte (Teil II) präsentiert. Aber was nötigt einen Hörer, auch einzutreten? In einer literarischen Hermeneutik, etwa in der Rezeptionsästhetik von Robert Jauss, sind es ästhetische Reize, die einen Leser motivieren, sich in der Wahrnehmung von Texten auf das Sich-Verstehen im Anderen seiner Selbst einzulassen. Im dritten Teil (III.) versucht der Vf. zu zeigen, dass auch biblische Texte ihre ästhetische Außenseite haben, aber eine spezifische Differenz zwischen religiöser und ästhetischer Textdeutung darin liegt, dass religiöse Erfahrung "die Frage nach Einheit und Ganzheit" (200) im Widerstand und Widerspruch zur alltäglichen Wirklichkeit erschließen will. Spezifisch sind daher auch die sprachlichen Strategien in den biblischen Texten, um diese Differenz zu vermitteln. Solche "Sprachformen, die den Verstehens- und Erfahrungsprozess biblischer Texte strukturieren" (200 f.), findet der Vf. im Elementaren, im Symbolischen und im Dialogischen. In allen drei Formen handelt es sich um Schnittstellen, an denen sich biblische Textwelt und Hörersituation berühren. Um das Symbolische herauszugreifen - hier bezieht sich der Vf. auf die religionspädagogische Symboldidaktik Peter Biehls und fragt nach ihrem Nutzen für die Homiletik (226 ff.): Im Symbol berührt sich der Horizont der Alltagserfahrung mit dem Horizont biblischer Wirklichkeitssicht. Sprung, Spurensuche, Wahrnehmung sind didaktische Modelle der Vermittlung, welche die Brückenfunktion des Symbols zwischen biblischer und alltäglicher Wirklichkeit bei Biehl konkretisieren. Eine exemplarische Anwendung auf die Emmausperikope (248-255) zeigt, welchen homiletischen Nutzen der Vf. aus der religionspädogischen Symboldidaktik zieht.

Das Symbolische findet der Vf. in der Metapher des Weges, das Dialogische im Gespräch Jesu mit den Jüngern, das Elementare in der Geste des Brotbrechens. Am leichtesten sind diese drei Formen der Vermittlung aus der komplexen Theoriegestalt des Buches herauszulösen und für die eigene Meditation eines Predigttextes zu gebrauchen. Eine thesenartige Zusammenfassung und eine reichhaltige Bibliographie runden den Band ab. Mit einer stupenden Kenntnis einschlägiger Texte in einer großen interdisziplinären Breite gelingt es dem Vf., ein originelles Licht auf ein scheinbar längst abgearbeitetes Grundproblem der Homiletik zu werfen. Deutlich ist sein Interesse am wirklichkeitserschließenden Potential biblischer Text von einem schlichten konservativen roll-back unterschieden. Doch bleibt die Frage, ob die Vorordnung des Textes vor die Situation und damit des Textes vor die Erfahrung nicht doch in alte Gleise zurückführt. Keine Textwelt kann einen objektiven Grund für subjektive Erfahrung bieten. Auch eine Textwelt, durch die das Subjekt konstituiert werden soll, steht unter der Bedingung von Erfahrung dieses Subjekts. Nimmt man den konstitutiven Erfahrungsbezug jeder Textauslegung als Grundbedingung der Neuzeit ernst, muss gleichwohl nicht alles im unendlichen Zeichendrift enden (vgl. 54). Auch im Horizont subjektiver Deutung gibt es das Phänomen der Korrektur durch den Text. Das Interesse des Vf.s, die subjektive Erfahrung vom Text her zu konstituieren, führt dagegen zu einer singularisierenden Rede von der Wirklichkeit, die durch die Bibel erschlossen wird, von der Einheits- und Ganzheitserfahrung, die ihre vielfältigen Sprachformen vermitteln, die den Reichtum einer riskanten, aber auch dynamischen Wirkungsgeschichte ausblenden. Der "Zeichendrift", der entsteht, wenn biblische Texte im Horizont der gegenwärtigen Erfahrungen ausgelegt werden und nicht umgekehrt, lässt sich tatsächlich nicht mehr von einer geschlossenen biblischen Textwelt kontrollieren. Aber die Aktualisierungen biblischer Texte im Horizont einer fortschreitenden Gegenwart bleiben nicht ohne Kriterium. Ihre Variationsbreite liegt in einer trinitarisch zu rekonstruierenden Grammatik der Verknüpfungen, die sie miteinander verbinden.