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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

691–693

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fechtner, Kristian

Titel/Untertitel:

Kirche von Fall zu Fall. Kasualpraxis in der Gegenwart - eine Orientierung.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2003. 193 S. m. e. Abb. 8. Kart. Euro 22,95. ISBN 3-579-05198-9.

Rezensent:

Georg Lämmlin

Mit diesem Band legt Kristian Fechtner, seit 2002 Ordinarius für Praktische Theologie in Mainz, eine kleine Programmschrift zur Zukunft der Kirche als Kasual-Kirche vor. Bereits mit seiner Habilitationsschrift zur "Schwellenzeit", die dem Gottesdienst zum Jahreswechsel galt, hatte er die "Kasualisierung" (27) des Gottesdienstes in den Blick genommen und programmatisch in einer Gegenüberstellung zum Kirchenjahr entfaltet.

Ausgehend vom Leitbild einer "integralen Amtshandlungspraxis", das Joachim Matthes 1974 in Reaktion auf die erste EKD-Mitgliederbefragung entwickelt hatte, wird nun die gegenwärtige Kasualpraxis selbst insbesondere in ihren liturgischen Aspekten analysiert. Dabei werden die Kasualien weniger in ihrer theologischen Begründung oder geschichtlichen Entwicklung, sondern "als eine praktische Gestaltungsaufgabe kirchlichen Handelns" (31) thematisiert.

In den Mittelpunkt stellt F. das Konzept eines symbolisch strukturierten Raumes (47) bzw. eines Raumes rituellen Erlebens und symbolischer Deutungen (88), in dem sich die Individuen lebensweltlich und lebensgeschichtlich bereits verankert finden und der in den rituellen und symbolischen Handlungs- und Kommunikationsformen der Kasualpraxis aktualisiert, strukturiert und inszeniert wird. Dieser Ansatz ist einer wahrnehmungsorientierten Praktischen Theologie des neuzeitlichen Christentums zuzuordnen, die von einer Phänomenologie der religiösen Lebenswelt ausgeht und Konturen einer christlichen und in spezifischem Sinn protestantischen Deutungskultur entwirft. In der gegenwärtigen Christentumspraxis komme den Kasualien Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung eine besondere Bedeutung zu, weil hier Religion und individuelle Biographie vermittelt sind. Sie bieten Anschlüsse für religiöse Kommunikation.

Das Verkündigungsparadigma, wie es noch die ältere Kasualtheorie etwa bei Manfred Mezger (dem ehemaligen Vorgänger in Mainz) und deren Kritik durch Rudolf Bohren bestimmt hatte, wird durch ein Kommunikationsparadigma abgelöst, das Religion im biographischen Selbstdeutungsprozess neuzeitlicher Individualität verortet und die Kasualien schöpfungstheologisch, nicht soteriologisch, verankert. Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung sind die lebenszyklisch und soziokulturell strukturierten Räume, in denen die kirchliche Praxis an der biographischen Deutungsarbeit der Einzelnen mitwirken und sie in der symbolisch vermittelten Gottesbeziehung verankern kann. Deshalb sieht F. hier ihre besonderen Chancen in einem Kontext, in dem insbesondere der "normale" Sonntagsgottesdienst an entsprechender Anschlussfähigkeit und Bindungskraft verloren hat und "zu einer kirchlichen Veranstaltung geworden" sei (25).

Die Fokussierung der Kasualien erlaubt es, wenn "sie unter liturgischen Vorzeichen auf ihre jeweilige gottesdienstliche Mitte hin justiert" werden (28), die Bedeutung des Gottesdienstes für die kirchliche Praxis neu zur Geltung zu bringen. Auf dieser Linie liegt F.s Plädoyer, auch die Trauerfeier wieder in den Kirchenraum zurück zu verlagern (29). Gleichwohl wird keine liturgische Engführung vorgenommen. "Integrale Kasualpraxis" soll die Handlungsfelder des Pfarramtes, den volkskirchlichen Lebenszusammenhang und die lebensweltlichen und sozialen Bezüge der Individuen im Fokus lebensgeschichtlicher Übergänge religiös bzw. christlich integrieren. "Rechtfertigung" von Lebensgeschichten, "Segen" und "Feier des Daseins" sind die (gängigen) theologischen Stichworte für die Deutungs- und Gestaltungsaufgaben in der Kasualpraxis.

In seinem Durchgang beginnt F. mit der Bestattung, in der er in der Praxis "die bedeutsamste kirchliche Amtshandlung, gemeindlich wie gesellschaftlich" (62) erkennt, die elementare Lebens- und Todesängste zu bearbeiten hat. Mit der von Hans-Martin Gutmann jüngst entworfenen Perspektive stellt er gegen Jüngels These von der "Verhältnislosigkeit" des Todes "beziehungsstiftende Elemente im Umgang mit den Toten" (73) in den Mittelpunkt des Bestattungsrituals. So wird im rituell und symbolisch vermittelten Kontakt zur Person des Verstorbenen zugleich die Ablösung von ihr ermöglicht und ein neues Verhältnis zu ihr über den Abbruch der Lebensbeziehungen hinweg eröffnet. Dazu ist der Bezug auf den Namen unverzichtbar. Die anonyme Bestattung, bei der Menschen durch den Tod namenlos werden, stelle dann keine mögliche Form einer evangelischen Bestattung mehr dar, bei der es gerade darauf ankomme, "das Leben der Verstorbenen und das Leben mit den Toten ad personam" zu kommunizieren (80).

Bei der Taufe stellt F., noch vor dem soteriologischen Aspekt, die Ebene symbolischer Deutung und ritueller Gestaltung des "zur Welt Kommens" in den Mittelpunkt. Die Taufe wird, mit Rolf Zerfaß, als "Sakrament der Individuation" (92) bestimmt. Unter Aufnahme der postmodernen Dominanz sozio-kultureller und symbolischer Inszenierungen des Körpers wird der Körper-Bezug des Taufrituals betont und unter dem Aspekt der Verletzlichkeit theologisch konnotiert. Konsequenterweise hebt er stärker auf die symbolische Logik der Taufhandlung selbst und weniger auf eine eigene Inhaltsebene der Taufpredigt ab. Hier gehe es, mit Werner Jetter, allein darum, "das Ritual beim Wort zu nehmen" (98).

Die Überlegungen zu Konfirmation und Trauung sowie die differenzierten Abwägungen zu einer Erweiterung der Kasualpraxis um die Segnung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften und von Neugeborenen, von Trennungsgottesdiensten und Einschulungsgottesdiensten (unter den zugehö- rigen Stichworten: Pluralisierung, Zerklüftung, Grenzen und Ausweitung der Kasualpraxis) werden hier nicht im Einzelnen vorgestellt.

Im Ganzen stellt der Band eine sehr lesenswerte Einführung in die praktisch-theologische Wahrnehmung der Kasualpraxis und den gegenwärtigen Stand der Diskussion dar. Der Lesbarkeit und Übersichtlichkeit ist geschuldet, dass hintergründige Theoriedebatten und die praktischen Gestaltungsaufgaben nur angedeutet bleiben. Es werden Konturen einer kulturellen Praxis des Christentums sichtbar, wie sie in der neueren Praktischen Theologie wie in der jüngeren Pfarramtspraxis en vogue sind. Erst empirische Studien könnten klären helfen, ob diese symbolisch-rituelle Deutungspraxis tatsächlich in der Mentalität der kirchlichen Subjekte verankert ist oder sich verankern lässt. Die Fragen, ob eine Kasual-Kirche soziokulturelle Gestalt gewinnen oder in einer pluralen Deutungspraxis verdampfen würde, welche Deutungskompetenzen bei den Akteuren notwendig sind und auf welchem Weg sie zu gewinnen wären, müssen daher vorläufig offen bleiben.