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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

689–691

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rawls, John

Titel/Untertitel:

Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Hrsg. v. E. Kelly.

Verlag:

Aus d. Amerikanischen v. J. Schulte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. 316 S. 8. Geb. Euro 24,90. ISBN 3-518-58366-2.

Rezensent:

Martin Hailer

Kurz nach seinem Tod im Herbst 2002 sind wichtige Texte von John Rawls in deutscher Übersetzung erschienen: die Vorlesungen zur "Geschichte der Moralphilosophie", "Das Recht der Völker", "Politischer Liberalismus" in zweiter Auflage und schließlich der anzuzeigende Band. Die Vorlesungen zur Geschichte der Moralphilosophie geben neben subtilen Interpretationen von Klassikern wertvollen Aufschluss über deren Rezeption durch den Vf., insbesondere über die im Zuge der Weiterentwicklung seiner Theorie der Gerechtigkeit von 1971 gewandelte Hegel-Lektüre; das Buch zum Völkerrecht ist sein lang erwartetes Wort zu diesen Themen, auch weil er darin durchaus anders argumentiert, als manche Rawlsianer erwartet haben mögen. "Gerechtigkeit als Fairneß" nun wird man am ehesten als Seitenstück zu "Politischer Liberalismus" lesen müssen: Es handelt sich um einen Blick auf die Architektur der Theorie der Gerechtigkeit im Abstand dreier Jahrzehnte und auf dem Hintergrund der überreichen Diskussion in dieser Zeit.

Der aus Vorlesungen erwachsene Band ist eher ein "Restatement" (Untertitel des Originals) im Sinne eines veränderten Wieder-zur-Geltung-Bringens als ein neuer Ansatz, wie der deutsche Untertitel suggeriert. Der Vf. bietet eine Darstellung wesentlicher Teile dieser Theorie und betont, warum er trotz der in der Zwischenzeit vorgenommenen Veränderungen an ihnen festhält, ja ihre argumentative Stärke jetzt erst recht ins Licht rückt. Man könnte sagen, dass die heftig diskutierten Veränderungen in der Theoriearchitektur vor allem in "Politischer Liberalismus", die in alldem aber dominierende Kontinuität in "Gerechtigkeit als Fairneß" schwerpunktmäßig im Blick sind.

Teil I bietet unter dem Titel "Grundideen" (19-72) eine Einführung in die leitenden Annahmen der Theorie der Gerechtigkeit. Sie kann, auch wegen des zugänglicheren Stils, die Lektüre der zentralen des Hauptwerks als Einführung durchaus ersetzen. Als "zentrale Idee" (25) skizziert der Vf. das Bild der Gesellschaft als faires System der Kooperation: freie und gleichberechtigte Bürger, die vernünftig und rational sind, werden als durchgängig kooperierende Angehörige der Gesellschaft gedacht. Nur diejenige Moraltheorie, die für diese Bedingungen angeben kann, was gerecht ist, kann als zureichende Theorie der Gerechtigkeit gelten (28 f.). Dem dienen damit verbundene Leitideen, so das berühmte Gedankenexperiment vom Urzustand (38 ff.), der Personbegriff und, dies die zentrale Neuerung gegenüber der Theorie von 1971, die Idee des übergreifenden Konsenses (63 ff.). Damals hatte der Vf., wie er selbstkritisch bemerkt, nicht erwogen, ob die Moraltheorie der Versuch einer letztbegründeten Theorie ist (16). Gegen einen solchen Anspruch verwahrt er sich nun und versteht sein Konzept ausdrücklich als politisches, nicht als letztbegründete Theorie. Sie soll das Problem klären, wie mit übergreifenden Deutungs- und Geltungsansprüchen umgegangen werden soll, mit Weltanschauungen, Totalerklärungen und Religionen. Der Vf. argumentiert, dass es einen vernünftigen Pluralismus geben kann, also einen Zustand der Koexistenz verschiedener Letzterklärungen, die in den Prinzipien politischer Gerechtigkeit zusammenkommen (definitorisch: 66 f.). Dies angesichts des faktischen und wünschenswerten Pluralismus in einer freiheitlichen Demokratie zeigen zu können, ist die vornehmste Aufgabe einer Theorie der politischen Gerechtigkeit (289-293). Das leitende Argument hier ist, dass eine funktionierende kooperative Gesellschaft selbst die Werte setzt und die Attraktivitäten schafft, die für ihre Stabilität notwendig sind und so die Letzterklärungen auf die Dauer verändert, ohne selbst eine von ihnen zu werden (186.308 u. ö.).

Über weite Strecken des Buches wird das subtile Instrumentarium der Theorie der Gerechtigkeit als genau zu diesem Ziel führend beworben. Im Rahmen dieser Argumentation kommt es zur oben angedeuteten Lesart der frühen Theorie als Restatement und Bestärkung: So argumentiert der Vf. im III. Teil für die Deduktionen aus dem Urzustand, indem er in gegenüber 1971 neuer Weise Vergleiche mit utilitaristischen Gedanken durchführt (15.152-203). Die Auseinandersetzung mit der utilitaristischen Tradition, die die Theorie von 1971 bestimmte, in der Zwischenzeit aber in den Hintergrund trat, wird so wieder aufgenommen.

In den weiteren Hauptteilen werden u. a. die sich aus dem Urzustandsargument ergebenden Gerechtigkeitsprinzipien erläutert (Teil II, die beiden Gerechtigkeitsprinzipien in gegenüber 1971 neuer Formulierung: 78), und es werden institutionentheoretische Erwägungen angestellt: Der Vf. bezeichnet sein Modell in Teil IV als "Demokratie mit Eigentumsbesitz" (211 u.ö.) und verteidigt es gegen kapitalistische und sozialistische Modelle (Überblick: 212).

Die Debatte um die Theorie der Gerechtigkeit war in den auf sie folgenden Dekaden weitgehend durch die Diskussionen um Radikalliberalismus (Buchanan, Nozick u. a.), Liberalismus (Nagel u. a.) und Kommunitarismus (MacIntyre, Taylor, Walzer u. a.) geprägt. Es wurde von nicht wenigen die Meinung vertreten, dass der Vf. seine ursprüngliche Auffassung zu Gunsten kommunitaristischer Positionen verließ (so u. a. R. Rorty). Durch die Argumentationsgänge dieses Buches wird klar, dass das nicht der Fall ist: Der Vf. steht nach wie vor für ein starkes Konzept öffentlicher Vernunft, nur dass er dieses von dem Anspruch einer Letztbegründung entlastet. Die politische Wendung der Theorie schließt eine pragmatische und kommunitaristische Wendung eben nicht ein. Dafür steht die "Idee der öffentlichen Rechtfertigung" (55-59 u. ö.), bzw. der "öffentlichen Vernunft" (17 u. ö.): Wer im Sinne des fairen Systems der Kooperation öffentlich argumentiert, folgt nicht einfach einer bewährten Tradition des Gemeinsinns, sondern agiert Vernunft aus, die sich im Sinne der Idee vom übergreifenden Konsens als gegenüber Letzterklärungssystemen stärker erweisen wird als je lokale Üblichkeiten. Der Freiheitsgewinn einer solchen Öffentlichkeit und der Vernunftgebrauch sind deckungsgleich. So ist zu schließen, dass auch und gerade für den späten Rawls eine Maxime des frühen weiterhin Bestand hat: "Es gibt keinen Gegensatz zwischen Freiheit und Vernunft." (Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975, 560)