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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

685–688

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Cohen, Jere

Titel/Untertitel:

Protestantism and Capitalism. The Mechanisms of Influence.

Verlag:

New York: A. de Gruyter 2002. VIII, 296 S. gr.8 = Sociology and Economics. Lw. Euro 68,00. ISBN 0-202-30672-0.

Rezensent:

Werner Schwartz

Im alten Europa spielt die Debatte um die Protestantismus-Kapitalismus-These des Heidelberger Soziologen Max Weber in der Regel nur noch eine Rolle in der Wissenschaftsgeschichte der Soziologie. Anders in Amerika. Dort gehört sie zum Standardrepertoire der akademischen Ausbildung. Kaum ein Studiengang in den der Soziologie verwandten Fächern, auch der Theologie, wird absolviert, ohne dass sich ein Kurs mit dieser These beschäftigt hat.

Das mag damit zusammenhängen, dass der akademische Lehrbetrieb in den angelsächsischen Ländern eher Überblickswissen vermittelt. Dazu nimmt er Typisierungen von Theorien vor und übt in den Gebrauch von paradigmatischen Argumentationsmustern ein. Die in der Regel hervorragend komponierten Reader zeigen dies, die in nahezu jedem Fach zu nahezu jedem Thema in immer neuer Folge erscheinen. Es mag auch damit zusammenhängen, dass das Thema Religion im europäischen Kontext kaum mehr als relevant wahrgenommen wird, weil die Aufklärung Urteile und Vorurteile über den Einfluss von Religion auf das menschliche Leben geschaffen hat, die die Religion im Alltagsleben und nachfolgend auch in der Soziologie ins Private zurückgedrängt haben.

Max Webers These, dass der Protestantismus in bestimmten Formen, insbesondere in seiner calvinistischen Ausprägung Wegbereiter des in der westlichen Hemisphäre entstandenen kapitalistischen Wirtschaftssystems geworden ist, hat in solchen Zusammenhängen wenig Relevanz. Sie gilt nur noch als ein Aperçu der Wissenschaftsgeschichte der Soziologie, das allenfalls Historiker interessiert. Anders eben in Nordamerika. Dort erscheint Webers These nach wie vor als Hinweis darauf, dass protestantisch geprägte Religiositätsformen eine hervorragende Basis für erfolgreiches wirtschaftliches Engagement abgeben.

Jere Cohen, Soziologe an der University of Maryland Baltimore County, untersucht in dem vorliegenden Buch Webers These in sachlogischer wie historischer Hinsicht. Er geht dabei den Mechanismen des Einflusses der Religion auf das wirtschaftliche Leben in detailreicher Kritik nach. Genauer: Er untersucht die Rolle, die der Protestantismus für die Entstehung des Kapitalismus hatte.

Zunächst beschreibt er den umfassenden Charakter der Protestantismus-Kapitalismus-These Webers. Er stellt fest, dass in deren Ambivalenz ihre suggestive Kraft wie ihre Unschärfe begründet liege. Nach Weber habe der Protestantismus als originäre Kraft den Geist des Kapitalismus unterstützt. Er habe durch religiös motivierte Askese Persönlichkeiten mit einer sehr wirksamen Arbeitsdisziplin hervorgebracht. Er habe durch die Verpflichtung zur Sparsamkeit das Ansammeln von Kapital unterstützt. Er habe einen kontinuierlichen Drang nach Optimierung des Profits gebracht. Er habe für die Einzelnen die Frage höchst bedeutsam werden lassen, wie sie sich ihres Heils gewiss sein könnten. Er habe die Überzeugung nahegelegt, dass Gottes Gnade sich am geschäftlichen Erfolg ablesen lasse. Er habe die Verpflichtung etabliert, Profit zu machen. Er habe den Kapitalismus als Wirtschaftsform legitimiert und seinen Siegeszug in der westlichen Welt unterstützt. Die Komplexität dieser These erschwere ihre Widerlegung in toto.

C. untersucht die von Weber verwandten Konzepte im Detail: das protestantische Arbeitsethos und die Vorstellung des Berufs, das Konzept der Bescheidenheit, Sparsamkeit und der innerweltlichen Askese, den Schlüsselbegriff "Geist des Kapitalismus" mit der Verpflichtung, Geld zu verdienen und zu akkumulieren, die Anerkennung kapitalistischer Arbeitsteilung und des freien Markts, die Rationalität ökonomischen Verhaltens als Ergebnis einer asketischen Erziehung, die Bejahung von Reichtum als eines Erweises des göttlichen Segens und des Erwerbs von Reichtum als einer Verpflichtung des gläubigen Menschen, die aus der Suche nach Heilsgewissheit herrührende religiöse Furcht als Movens ökonomischer Aktivität, die Notwendigkeit guter ökonomischer Erfolge als Hinweis auf die Teilhabe am Heil und umgekehrt die Armut als Zeichen der Verdammung, die starke Disziplin einer Sekte, die religiöse Belohnung für erfolgreiches ökonomisches Verhalten verspreche.

C. zerlegt die Webersche These in eine lange Reihe von neun in sich weiter untergliederten Hypothesen darüber, wie puritanischer Protestantismus und das sich schnell entwickelnde Wirtschaftssystem des Kapitalismus zusammenhängen. Deren Stimmigkeit und Gültigkeit untersucht er in ausführlichen systematischen und historischen Kapiteln des Buches. Dabei nimmt er insbesondere Webers Konzentration auf den puritanischen Typ protestantischer Religiosität in den Blick. Anhand der in der Literatur zugänglichen Quellen puritanischer Theologie und Theologen, vornehmlich Richard Baxter, und anhand zweier historischer Fallstudien puritanischer Kaufleute aus dem 17. Jh., des von Paul Seaver (Wallington's World, Stanford 1985) beschriebenen Londoner puritanischen Handwerkers Nehemia Wallington und des von C. selbst aus Tagebuch-Quellen erforschten Händlers Elias Pledger, überprüft er Webers idealtypische Beschreibung der Wirkungsmechanismen religiöser Inhalte auf das ökonomische Verhalten.

Seine detaillierten Untersuchungen führen allesamt zu der Überzeugung, dass Webers These, der moderne Kapitalismus habe aus dieser Tradition wesentliche Entwicklungsschübe erhalten, in dieser Allgemeinheit nicht haltbar ist.

C. räumt ein, dass einzelne Elemente dessen, was Weber beschreibt, zuträfen. Insbesondere habe das puritanische Arbeitsethos prägende Bedeutung für die Entwicklung der westlichen Wirtschaft, das die Tüchtigkeit in der Ausübung des weltlichen Berufs hervorhebe und den gebotenen Fleiß, die Sparsamkeit, die erarbeitetes Gut dem unmittelbaren Genuss entzog und als Kapital für künftige Investitionen zur Verfügung stellte.

C. stellt aber heraus, dass puritanische Frömmigkeit insgesamt die religiöse Welt betone. Wichtig sei der Gehorsam gegenüber Gott und die Sorge um das Heil der Seele. Der Kampf gegen die Sünde sei eindeutig über die Arbeit in der diesseitigen Welt gestellt. Innerweltliche Askese diene eben nicht dem Ansammeln von Investitionskapital und damit der größeren wirtschaftlichen Effizienz, sondern allenfalls dazu, der moralischen Verpflichtung zu größerer Liebestätigkeit nachzukommen und für die Armen zu sorgen. Die Gebote Gottes seien zentral, nicht die wirtschaftlichen Aktivitäten der Gläubigen. Ebenso wenig könne man für puritanische Frömmigkeit in Anspruch nehmen, die Heilsgewissheit der Einzelnen zeige sich in äußerem Wohlstand und Besitz. Weber habe die interne Struktur religiöser Ethik vernachlässigt und zu sehr die äußerlichen Belohnungen als Anreize religiös geprägten Verhaltens betont.

Erst die spätere Entwicklung, als die religiöse Kraft des Puritanismus zurückgegangen war, habe den Weg bereitet, ökonomisch rationales Verhalten im Sinn des entstehenden Kapitalismus mit Restbeständen religiöser Motivation in einer säkularisierten Form zu verbinden. Dies sei, worauf die These Webers hinweise. Die Religion habe keinen unmittelbaren Einfluss auf das ökonomische Verhalten von puritanischen Gläubigen. Da habe Weber überzeichnet. Es habe allenfalls einen mittelbaren kulturellen Einfluss des Puritanismus auf den aufblühenden Kapitalismus gegeben neben dem Einfluss, den die jüdisch-christliche Tradition insgesamt auf den Kapitalismus ausgeübt habe, wie die Beispiele der mittelalterlichen Blüte der klösterlichen Wirtschaft und der italienischen Renaissance zeigten, die als Kindheitsstadium des Kapitalismus gelten könnten. In der frühen Neuzeit hätten Einflüsse der Waldenser und Luthers die wirtschaftliche Entwicklung mitbestimmt. Nach der Blütezeit der puritanischen Frömmigkeit seien wesentliche Elemente insbesondere ihres Arbeitsethos im Methodismus und Anglikanismus aufgenommen worden und hätten ihren Siegeszug, losgelöst von religiösen Traditionen, in der Prägung kapitalistischer Verhaltensweisen im victorianischen England angetreten.

Die gründliche Arbeit C.s betont zu Recht die Komplexität möglicher Einflüsse der Religion auf wirtschaftliches Handeln. Sie weist auf Inkonsistenzen in Webers These auf der Ebene historischer Argumentation hin. Gegen Weber kann geltend gemacht werden, dass er die puritanische Religiosität verzeichnet wahrnimmt, wenn er die Konzentration auf die religiöse Praxis und das Tun des Guten, mithin auf die Ewigkeit als Ziel des irdischen Lebens übersieht. Es trifft allerdings zu, dass Züge des puritanischen Arbeitsethos und damit eines Teils eines gemeinsamen jüdisch-christlichen Erbes in das kulturelle Gedächtnis einer späteren Zeit eingegangen und die Entwicklung und Legitimation des modernen Kapitalismus mit geprägt haben.

So bietet C.s Buch eine in seinen historischen Teilen gründliche Aufarbeitung des Umfelds puritanischen Glaubens im Zusammenhang der Bewertung der Protestantismus-Kapitalismus-These Max Webers. Es relativiert auf der Ebene historischer Argumentation Webers Sicht des puritanischen Einflusses auf die Entwicklung des modernen Kapitalismus und weist auf die komplexe Wirkungsweise der Mechanismen kultureller Beeinflussung wirtschaftlicher Entwicklungen hin, auch durch religiöse Motive, die in die Kultur einer Gesellschaft einfließen.

In dieser doppelten Botschaft hat das Buch seinen Charme. Auch wenn es Webers These als eine zu wenig präzise Theorie zurückweist und sich für eine differenziertere Betrachtung einsetzt, ist es doch ein eindrucksvolles Zeugnis dafür, wie in der Auseinandersetzung mit einer idealtypischen und deshalb reduktivistischen Sichtweise das Bild der Wirklichkeit facettenreicher werden kann. Nicht zuletzt dies ist der bleibende Beitrag der Protestantismus-Kapitalismus-These Webers. Das bestätigt gerade die Lektüre des kenntnisreichen Buchs.