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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

683–685

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ach, Johann S., u. Christa Runtenberg

Titel/Untertitel:

Bioethik: Disziplin und Diskurs. Zur Selbstaufklärung angewandter Ethik. Mit einem Vorwort v. K. Bayertz.

Verlag:

Frankfurt a. M.-New York: Campus 2002. 234 S. 8 = Kultur der Medizin, 4. Kart. 34,90. ISBN 3-593-37127-8.

Rezensent:

Lars Klinnert

Der seit nunmehr etwa 30 Jahren mit dem (meist im Sinne von biomedizinischer Ethik gebrauchten) Schlagwort Bioethik bezeichnete Diskurs über den richtigen medizinischen und technologischen Umgang mit menschlichem Leben, welcher nicht allein wissenschaftliche Reflexion, sondern insbesondere auch öffentliche Meinungsbildung, politische Richtliniengestaltung und klinische Entscheidungsfindung umfasst, ist in seiner gesellschaftlichen Funktion umstritten. Wenn eine eigentlich rein akademische Disziplin immer stärker systematisch und institutionalisiert auf die praktischen Rahmenbedingungen medizinischen Handelns Einfluss nimmt (vgl. 13-53) - und somit nach Einschätzung von Matthias Kettner gleichsam zu einer "bürgerschaftlichen Aktivität" (18) wird -, muss sie sich über ihre gewachsene Verantwortung Rechenschaft ablegen. Zu einer solchen "Selbstaufklärung der Bioethik" (12), die einerseits deren Selbstverständnis, andererseits die ihr in der Öffentlichkeit zugeschriebene Rolle reflektiert, will die hier vorliegende, im Rahmen eines DFG-Projektes entstandene Studie beitragen.

Zu diesem Zweck zeichnen die Autoren zunächst die Entwicklung der grundlegenden Theorieansätze nach (vgl. 54- 106): Leitend für die moderne (durch die Ablösung einer tendenziell paternalistischen Arztethik entstandene) Bioethik war mit dem sog. Prinziplismus von Tom L. Beauchamp und James Childress lange Zeit ein rekonstruktiv-liberaler Ansatz, der von allgemein verbreiteten Moralvorstellungen wie Autonomie oder Gerechtigkeit als Basis einer Konsensfindung in der Praxis ausging; von H. Tristram Engelhardt Jr. wurde er in Anbetracht des zunehmenden Pluralismus auf das Konzept eines Minimalkonsenses zwischen einander moralisch fremd bleibenden Individuen hin zugespitzt. Seit den 90er Jahren kommt es nunmehr in einer Art Gegenbewegung (für welche feministische, kommunitaristische, narrative und tugendethische Ansätze stehen) zu einer stärkeren Orientierung an den Bedürfnissen, Erfahrungen und Beziehungen des konkreten Patienten, d. h. es zeichnet sich ein Paradigmenwechsel von einer verfahrens- zu einer personorientierten Bioethik ab.

Hieraus ergibt sich die Frage, wie überhaupt anwendungsbezogene Ethik betrieben werden soll (vgl. 107-137): Während deduktivistische Top-down-Modelle zu schematistischen oder willkürlichen Urteilen neigen, da die Komplexität realer Situationen mit abstrakten Prinzipien allein nicht hinreichend erfasst werden kann, laufen kontextualistische Bottom-up-Modelle Gefahr, alltagsmoralische Intuitionen unkritisch zu legitimieren und zu stabilisieren. So scheint sich immer stärker die Einsicht durchzusetzen, dass Anwendung und Begründung aufeinander verweisen. Ein solches kohärentistisches, ethische Theorie und moralische Erfahrung verbindendes Modell, wie es z. B. John Rawls und Norman Daniels mit der Vorstellung eines weiten Überlegungsgleichgewichts vertreten, sehen die Autoren bereits mit dem Prinziplismus gegeben, der einen kontextadäquaten und flexiblen Umgang mit Prinzipien erlaube.

Entscheidend ist nun für die vorliegende Untersuchung allerdings die Erkenntnis, dass es für eine differenzierte Lagebeschreibung nicht nur die unterschiedliche Konzipierung der Bioethik, sondern vor allem auch die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Bioethiker zu reflektieren gilt (138-182). Das erwartete und tatsächliche Verhalten philosophischer Experten in diversen institutionellen Kontexten analysieren die Autoren anhand der Leitdifferenzen Analyse versus Antwort, Parteilichkeit versus Unparteilichkeit, Kritik versus Interpretation sowie Theorie versus Kompromiss: Hier geht es letztlich um die Anfrage, ob eine professionelle Bioethik nicht für die Entscheidungsfindung überflüssig sei - weil sie sich entweder gegen stärker praxisorientierte Argumentationstypen (z.B. von Rechtswissenschaftlern oder Interessenvertretern) nicht durchsetzen könne oder aber sich diesen bis hin zur Unkenntlichkeit anpassen müsse. Die Autoren stellen demgegenüber einen recht überzeugenden Katalog von spezifischen analytischen und kommunikativen Fähigkeiten auf, die bioethische Fachleute in den Diskurs einzubringen in der Lage sind. Hierfür böten fachphilosophisches Studium plus praktische Erfahrung eine gute Basis; eine spezialisierte oder gar kanonisierte Ausbildung hingegen könnte zu einem Verlust an Pluralität, kritischer Distanz und institutioneller Unabhängigkeit führen.

Der Verdacht ideologischer Gebundenheit wird in Deutschland ohnehin - spätestens seit der Debatte um Peter Singer im Jahr 1989, neuerdings besonders im Hinblick auf die europäische Bioethik-Konvention und die UNESCO-Deklaration zum menschlichen Genom - von den sog. Bioethikgegnern immer wieder vorgebracht (vgl. 183-212): Die (einem utilitaristisch-biologistischen Theoriedesign verschriebene) Bioethik diene allein der Akzeptanzbeschaffung für moderne Technologien und unterhöhle zu diesem Zweck die geltenden Wertfundamente humanen Zusammenlebens, so der Vorwurf. Weil die vorliegende Studie jedoch deutlich macht, dass der bioethische Diskurs im Gegenteil pluralistisch und selbstreflexiv angelegt ist, weisen die Autoren einen polemischen Bioethikbegriff zurück. Sie halten stattdessen an einem disziplinären Bioethikbegriff fest, der auch die Bioethikkritik integriert. Um von dieser zu Recht aufgewiesene Tendenzen zur Vereinheitlichung und Engführung der Argumentation unter Kontrolle zu behalten, wird ein Projekt der Ethikfolgenabschätzung vorgeschlagen, welches die Auswirkungen vorherrschender bioethischer Denkmuster auf Wissenschaft und Gesellschaft empirisch erheben soll.

Die Originalität der hier kurz im Wesentlichen skizzierten Forschungsergebnisse hält sich in Grenzen, da den am bioethischen Diskurs teilnehmenden Wissenschaftlern, an die sich eine Studie zu dessen Selbstaufklärung ja wohl primär richtet, die dargestellten Sachverhalte weitgehend bekannt sein dürften. Dennoch ist es äußerst verdienstvoll, wenn die mit der Frage nach Charakter und Funktion von Bioethik verbundenen Schwierigkeiten hier einmal gesammelt, im Überblick dargestellt und mit kritischen Anmerkungen versehen worden sind. Wie die Autoren selbst mehrfach betonen, kann es dabei lediglich um Denkanstöße gehen: Das aufgerissene Problemfeld gilt es nun nicht nur - z. B. durch eine detaillierte Aufarbeitung der Theoriegeschichte (vgl. 55) - zu vertiefen, sondern auch - z. B. mit dem Ziel der Entwicklung partizipativer Konfliktbewältigungsverfahren (vgl. 214 f.) - zu erweitern.

Dann müsste auch die Reichweite der hier vollzogenen Selbstaufklärung noch einmal überprüft werden: Anders als im Vorwort angekündigt, ist nämlich erstens vornehmlich doch von der akademischen Disziplin Bioethik (wenngleich in ihren gesellschaftlichen Kontexten) die Rede, wodurch der erweiterte bioethische Diskurs ein wenig aus dem Blick gerät, an dem sich eben nicht nur philosophische (und theologische) Ethiker, sondern auch Ärzte und Patienten, Journalisten und Politiker, Bischöfe und Verfassungsrichter beteiligen.

Zweitens ist eine Kluft zwischen der Analyse der institutionellen und öffentlichen Diskurspraxis in Deutschland einerseits und der Darstellung der angloamerikanisch geprägten Theorieentwicklung andererseits zu bemängeln. Um z. B. die scheinbar unversöhnlichen Positionen zur Unterzeichnung der europäischen Bioethik-Konvention zu verstehen, muss man wahrnehmen, dass es hierzulande eben kein dominantes konsensorientiertes Paradigma gibt, an dem sich die Theoriebildung ab- arbeitet, sondern die Debatte viel stärker vom grundsätzlichen Widerstreit zwischen deontologischen und teleologischen Ansätzen geprägt ist.

Aus der von den Autoren offenbar favorisierten Verortung des bioethischen Diskurses auf der Ebene von Prinzipien mittlerer Reichweite resultiert drittens eine Unterbestimmung der Frage nach dem Verhältnis von Partikularität und Universalität, die sich doch gerade angesichts des angezeigten Paradigmenwechsels hin zu einer stärkeren Beachtung des einzelnen Menschen in seinem Kontext stellt. Zur gestalterischen Bewältigung von moralischen Konflikten ist ein Divergenzen übertünchender, rein begrifflicher Konsens eher kontraproduktiv. Wieweit können also unterschiedliche Vorstellungen gelingenden Lebens in eine gemeinsame Perspektive gelingenden Zusammenlebens eingebracht werden? Hier zeigt sich zugleich eine der Herausforderungen, denen sich ein ergänzendes Projekt zur Selbstaufklärung theologischer Bioethik stellen müsste, ist diese doch nicht nur neutrale Beraterin in ethischen Sachfragen, sondern immer auch parteiische Anwältin des christlichen Menschenbildes.